ТОП просматриваемых книг сайта:
Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Читать онлайн.Название Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten
Год выпуска 0
isbn 9783742762917
Автор произведения Ernst Tegethoff
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Während sie noch in ihrer Blindheit rasend um sich
schlugen, trat eine Frau in den Saal, die war so schön,
wie sie kein Sterblicher je gesehen. Doch war sie so
gramgebeugt, daß sie dem Tode nahe schien. Das eine
Mal schrie sie laut auf, dann sank sie wieder ohnmächtig
zu Boden, darauf begann sie sich zu zerfleischen
und ihre Haare zu raufen. Und siehe, die Leiche
des Herrn wurde auf einer Bahre vorübergetragen,
Kerzenträger gingen ihr voraus und Klosterfrauen,
dann folgten Geistliche mit Meßbüchern und Weihrauchkesseln.
Herr Iwein hörte die Wehklagen, und
die Prozession zog vorüber, um die Bahre aber drängte
sich eine staunende Menge, denn das Blut floß klar
und purpurn aus den Wunden des Toten. Das war der
sichere Beweis, daß der, welcher den Tod des Schloßherrn
veranlaßt hatte, sich noch hier im Saale befinden
mußte. Von neuem begann das Suchen und Schlagen,
doch Herr Iwein rührte sich nicht. Die Frau aber
schrie wie eine Wahnsinnige: »Ach Gott! Soll man
den Mörder, den Schurken nicht finden, der meinen
guten Herrn umgebracht hat. Guten? Den Besten der
Guten! Hat sich ein Geist oder der leidige Feind unter
uns gemengt, bin ich behext, daß meine Augen ihn
nicht sehen? Ein Feigling ist er, wenn er mir nicht
steht, er, der gegen meinen Herrn so mutig war.
Wahrlich, er kann nicht von dieser Welt sein, wenn er
meinem unvergleichlichen Herrn standhielt.« Dann
trugen sie die Leiche hinaus und begruben sie. Die
Menge wurde schließlich des Suchens müde und zerstreute
sich. Nun trat die Jungfrau wieder zu Iwein.
»Herr«, sagte sie, »wie ein Jagdhund nach einem Rebhuhn
oder einer Wachtel spürt, so haben sie jeden
Winkel abgesucht. Das muß Euch in Furcht gesetzt
haben!« »Das ist richtig,« antwortete Iwein, »aber
nichtsdestoweniger möchte ich durch ein Fenster den
Leichenzug da draußen beobachten.« So sagte er, aber
in Wahrheit kümmerte er sich weder um die Leiche
noch um den Zug, sondern er sprach es, weil er die
Herrin der Stadt schauen wollte. Lunete führte ihn an
ein Fensterchen, durch welches er die schöne Frau erspähen
konnte, welche immer noch ihrem toten Gatten
nachtrauerte: »Euch, lieber Herr, kam nie ein Ritter
gleich an Ehren weder noch an feiner Sitte. Freigebigkeit
war Eure Freundin und Mut Euer Gefährte. Unter
der Schar der Heiligen möge, teurer Herr, Eure Seele
weilen.« Dabei zerriß sie immer wieder mit den Händen
ihr Gewand, dergestalt, daß Iwein sich nur mit
Mühe zurückhalten ließ, sie daran zu hindern. Lunete
mahnte ihn nochmals, ruhig und besonnen zu bleiben,
dann ging auch sie, um an der Leichenfeier teilzunehmen.
Inzwischen hatte aber die Frau, ohne es zu wissen,
einen Rächer für den Tod ihres Gatten gefunden, und
zwar einen stärkeren als sie selbst jemals hätte finden
können: Amor hatte nämlich für sie Rache genommen,
dadurch, daß er Iwein durch die Augen in das
Herz getroffen hatte. Hierdurch hatte Herr Iwein eine
Wunde erhalten, die nie wieder heilen sollte. Je länger
Iwein die Frau durch das Fenster beobachtete, desto
mehr verliebte er sich in sie und desto schöner erschien
sie ihm. Gewiß, er wußte, daß sie ihn wegen
der Tötung ihres Gatten hassen müsse, aber eine Frau
hat mehr als tausend Gefühle. Vielleicht wird sich das
Gefühl, daß sie zur Zeit hegt, noch einmal ändern?
Sicher wird es das, ohne »vielleicht« und er wäre töricht,
wenn er zuvor verzweifeln wollte, Gott gebe
nur, daß es bald wechsle. Während er noch in solchen
Gedanken befangen war, kehrte Lunete zurück, um
ihm Gesellschaft zu leisten, ihn zu trösten und zu zerstreuen.
»Herr Iwein,« redete sie ihn an, »wie ist es
Euch inzwischen ergangen?« »Nach Gefallen!« erwiderte
er. »Nach Gefallen? Wie? Kann es einem nach
Gefallen ergehen, wenn man zum Tode geholt werden
soll?« »Gewiß, meine liebe Freundin,« entgegnete er,
»ich möchte jetzt nicht sterben, denn was ich sah, hat
mir sehr gefallen und gefällt mir noch und wird mir
immer mehr gefallen!« »Lassen wir das,« sprach Lunete,
»ich verstehe sehr wohl, worauf dieses Wort
zielt, ich bin nicht so einfältig. Aber jetzt kommt,
damit ich Eure Befreiung bewerkstellige. Heute Nacht
noch oder morgen früh sollt Ihr in Sicherheit sein.«
»Oho,« versetzte er, »ich will nicht wie ein Dieb davonschleichen.
Mit mehr Ehren werde ich von dannen
ziehen, wenn alles Volk draußen auf der Straße versammelt
ist, als wenn ich nächtlicherweile mich aus
dem Staube mache!«
Die Jungfrau erinnerte sich sehr wohl an Iweins
Worte, und da sie sehr gut mit ihrer Herrin stand, so
benutzte sie die nächste Gelegenheit, um die Sache
zur Sprache zu bringen. »Herrin,« sprach sie, »es
wundert mich sehr, daß Ihr Euch so sinnlos gebärdet;
glaubt Ihr denn, den Herrn durch Eure Tränen zurückzugewinnen?
« »Ach,« entgegnete jene, »ich wünschte,
ich stürbe vor Schmerz!« »Warum?« »Um ihm
nachzufolgen!« »Ihm nach ...? Davor bewahre Euch
Gott, vielmehr gebe er Euch wieder einen ebenso
guten Gemahl, der auch ebenso tapfer ist.« »Einen so
trefflichen kann er mir nicht wiedergeben!« »Einen
besseren wird er Euch geben, wenn Ihr ihn nehmen
wollt, das will ich Euch beweisen.« »Geh, schweig!
Einen solchen werde ich nie finden!« »Doch, Herrin,
wenn Ihr wollt. Denn, sagt mir doch – um Vergebung
–, wer soll Euren Boden schützen, wenn König
Artus herkommt, der, wie Ihr wißt, nächste Woche