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legen Schwefeleier“, hatte der Pensionär mit Nachdruck erklärt. Als die beiden das nächste Mal hinsahen, hatten die Graslaonen in ihrem Glaskasten einen Männerpopo gebildet, der Biologe fuhr sie an: „Pfui!“, und redete weiter. „Sie brauchen jeden Tag zwei Stunden Zuwendung, sonst werden sie unartig. Sie sehen ja selbst!“ Er hatte sogar den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Graslaonen erhoben, als ob sie dumme kleine Kinder wären, und die gehorchten, sie drehten sich rhythmisch und elegant, als wollten sie sich damit bei dem Techniker einschmeicheln.

      Er hätte die Graslaonen ja gerne behalten, sie gaben erstens einen guten Wecker ab und zweitens hörten sie jedes Rascheln im Institut. Vielleicht hätte er sie jetzt sogar sehr gut gebrauchen können. Sie hätten in ihrem Glas­kasten getobt und die irrwitzigsten Figuren gebildet.

      Aber er hatte sie nicht mehr, denn die Institutsleitung hatte ihn auf Nachfrage angewiesen, die Graslaonen bei der nächsten Gelegenheit in Quarantänestation eins zu bringen. Nonoon hatte sich mit ihnen angefreundet und eine ganze Zeit lang diesen Gang hinaus gezögert. Aber jetzt standen die Graslaonen tiefgefroren im Eiskeller und seitdem wusste Nonoon, dass die Quarantänestation eins alles höhere Leben zum Stillstand brachte, hier wurde die Reinheit der Artesa geschützt.

      Wir befassen uns mit Mikrobiologie, nicht mit Intelligenz!, hatte der Direktor gesagt. Das mochte ja so sein, aber in den heute neu angekommenen Truhen lagen drei Lebe­wesen der Stufen 4 und 5, die waren definitiv um einiges größer und komplexer als jeder Einzeller, den Nonoon in seinem Leben jemals gesehen hatte. Er studierte die Bilder der im Tiefschlaf befindlichen Individuen und dachte an sein Missgeschick oben an der Schleuse, und dann, dass hier irgendwas wirklich schief lief und im geringsten Fall jemand die Untersuchungsaufträge oder die Empfängeradressen vertauscht hätte. Oder die Begleitpapiere. Er ging auf den Transportbehälter Nummer drei zu, der ihm schon auf dem Weg hierher so viele Probleme verursacht hatte, und starrte nachdenklich auf den schwarzen Kasten, dessen Inhalt von wirklich starkem Titan­stahl umschlossen war. Er starrte wieder auf die Begleitpapiere, auf das Bild mit dem blassen Gesicht und den kurios geflochtenen Haaren. Ihr Gesicht war flach und ohne besondere Merkmale. Sie ist im Tiefschlaf, dachte er. Sie kann gar nicht wissen, was hier abläuft. Sie träumt hinter dem Stahl vielleicht gerade von einem kühlen Wintertag. Natürlich träumt sie. Sie ist schließlich ein Lebewesen Stufe 5. Sie kann aus dem Kasten heraus keine Rollwagenhirne durcheinander bringen. Sie ist zugedröhnt mit Drogen und unterkühlt und überlebt das bis hierher nur deshalb, weil die Atmosphäre im Behälter weniger als ein Prozent Sauerstoff enthält.

      Der blauweiße Flyer draußen war lange schon vorübergerauscht und Rotam hatte ihn bereits vergessen. Vor der Halle rannte eine Gruppe Kinder vorbei, alle mindestens fünf Jahre jünger als Rotam, hinten auf den Jacken hatten sie alle große „N“ aufgeklebt, zwei Pädagogen folgten ihnen in mäßigem Schritt.

      „Niemandskinder aus dem Niemandsland“, dachte Rotam, holte aus seiner Tasche einen Früchteriegel und biss ab. „Wenn wir uns nicht um die dort kümmern würden, dann würden sie als Erwachsene noch mit den Fingern essen. Sie kommen her, haben alle lange Haare, schwarze Ränder unter den Fingernägeln und lutschen andauernd am Daumen. Im Endeffekt erkennst du sie immer wieder an ihren krummen Zähnen.“ Rotam hatte den Traubenzuckerriegel artig runtergekaut, aber er bekam immer noch keine Starterlaubnis, er sollte noch 50 Milliliter Calcium einnehmen. Die Gruppe Niemandskinder nahm jetzt Aufstellung und händchenhaltend liefen sie langsam auf den Glasweg zu, der silberblau beleuchtet wie eine Brücke durch den Wald führte. Rotam verlor sein Interesse an ihnen, denn eben gab der Trainer den nächsten Sprung frei. Aber zuerst meldete sich sein Tele und Rotam musste wieder anhalten. Sell wollte ihn sprechen.

      „Hallo Rotam!“, sagte sie.

      „Hallo Sell, was gibt’s?“

      „Rotam, ich muss meine Trainingsstunde heute ausfallen lassen, mein Blutbild ist völlig durcheinander.“

      „Und?“

      „Also, ich komme heute nicht. Kannst ja meine Trainingsstunde übernehmen. Falls Taisieh dir zusagt.“

      „Taisieh ist Klasse.“

      „Oder du kommst bei mir vorbei. Ablenkung soll gut sein bei Blutbildchaos.“

      Rotam hätte gehen sollen. Er hätte nicht seine Zeit mit Taisieh vertrödeln sollen. Dann wäre sein Leben genauso geworden, wie das seine Mutter, seine Ärzte und seine Sportlehrer für ihn geplant hatten. Aber Rotam ging nicht. Er hatte heute die Sporthalle für sich allein. Und dieses Privileg würde er nicht für einen ganzen Liter Sen weggeben.

      Der Roboter der Quarantänestation eins schob nun die kritische Truhe Nummer drei an die zentrale Strom­versorgung. Bei den anderen zwei Behältern war alles gut gegangen. Keine Zwischenfälle. Der Greifarm zückte die Anschlusskontakte. Jetzt berührten sie sich. In diesem Moment gingen die Lampen aus, blaue Funken tanzten um die Kontakte, der Transportbehälter hatte begonnen, Unmengen von Energie aus dem Hausnetz zu ziehen, und Nonoon wurde es eiskalt unter seinem Klimaanzug. Er warf das Tablet in eine Ecke, rannte zu dem Roboter und trennte die Verbindung mit einem kurzen heftigen Fußtritt. Gleichzeitig alarmierte er den Notruf. Ihm wurde heiß und dann wieder kalt. Er hob das Tablet wieder auf. Ruhig bleiben, ruhig bleiben! Du bist hier Profi, sagte er zu sich selbst. Wenn du hier versagst, bist du morgen ein Niemand! Alles, nur das nicht!

      Als erstes hangelte er sich vom Wandbord einen Brandschutzoverall. Der schloss sich auf Knopfdruck um seinen Körper. Damit abgesichert, ging er langsam auf die defekte Truhe zu. Die Temperatur innerhalb des Behälters war inzwischen weit über die von siedendem Wasser angestiegen. Nonoon hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Da drin wurde gerade jemand gekocht. Was für ein Anblick, wenn die morgen den Deckel abnehmen werden.

      Die Temperatur stieg weiter an. Das Zischen nahm zu. Fieberhaft studierte er zum hundertsten Mal die Begleitinformationen. „Hier ist was ganz gewaltig danebengegangen“, dachte er und las laut, als könne er durch das laute Lesen den Widersinn des Inhaltes doch noch verstehen. „Unterbringung unter artgerechten Bedingungen! Und das im IAB in Simapi?“ Es gibt keine artgerechte Unterbringung im IAB in Simapi! Das IAB tötet immer zuallererst alle eingehenden Materialien, dann fertigt es Kopien an und untersucht diese Kopien auf die Kompatibilität mit der heimischen Biosphäre oder Verwertbarkeit außerhalb derer. Alles andere landet auf Eis, da wo die Graslaonen liegen? „Kleine, hast du ein Glück, dass dich der Transportbehälter vor dem Aufwachen gegrillt hat!“

      Von der Notrufzentrale kam endlich ein Rückruf. Soll der Krisenstab aktiviert werden? Besser wäre es. Am besten sofort! Nonoon hastete zum Eingang der Quarantänestation zurück und löste die Biosphärenisolation aus. Aber die Schranken waren lange nicht mehr in Betrieb gewesen. Eine klemmte. Und der Behälter begann zu rücken, zu rumpeln, dann flog der Deckel auf und ein übernatürlich helles Licht strahlte aus der Truhe. In dem Licht erhob sich etwas und das Leuchten ließ langsam nach, aber das Fremde bewegte sich nicht auf ihn zu, es verhielt einen Moment im Raum, als wolle es sich orientieren, dann bewegte es sich auf das nicht funktionierende Außenwandschott zu, hinter dem sich ein Fenster befand, und dort marschierte es hindurch, als wäre das Fensterglas aus Folie. Die Schranke fiel hinter ihm zu und hinterließ einen völlig geschockten Techniker, eine um Hilfe schreiende Alarmanlage und orangefarbene, blutige Fußspuren auf dem Fensterboard.

      II.

      „Na, das mit dem Taisieh ist schon ein gutes Angebot“, brummte Rotam. „Danke Sell! Melde dich mal, wenn ich was für dich tun kann.“ Er legte eilig auf, sprang noch zweimal, dann signalisierte ihm der Trainer das Ende seiner Hallenstunde und stellte sich auf das Konzentrations-Bewegungsprogramm Taisieh um.

      „Wollen doch mal sehen, ob es bei Taisieh nicht auch ein paar Sprünge gibt?“, sagte Rotam er zu sich selbst und machte sich daran, den Rechner neu zu programmieren. Er begann mit den ersten Übungen für Taisieh. Dann gab es ein Geräusch, als wäre von draußen etwas sehr Großes, Weiches, gegen die Scheibe geprallt. Die Scheibe bebte über die ganze Fläche.

      Es war dämmrig geworden, aber seit dem Geräusch war die Halle verändert. Rotam sah sich um, er suchte nach der Ursache dieser

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