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      Ingo Boltshauser

      Karo - Die Reise

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Prolog

       Teil I: Altes Land

       Teil II: Unterwegs

       Teil III: Neues Land

       Teil IV: Allein

       Epilog

       Impressum neobooks

      Prolog

      „Sie waren riesig. Gross wie fünf ausgewachsene Männer und stärker als ein Bär. Und aus ihren Augen hat Feuer gesprüht.“ Mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen stand der kleine Junge im Halbkreis, den sein Stamm um ihn gebildet hatte, und schaute den Ältesten herausfordernd an.

      Dieser zog das Fell enger um seine Schultern. Trotz des Feuers im Kamin des Langhauses war es kalt. Draussen fegte ein eisiger Wind durch das Dorf, der am Dach und den Fensterläden rüttelte. Er entgegnete den Blick des kleinen Karo, und Traurigkeit überkam ihn. Wie viele Lebensjahre waren dem Knirps noch beschieden? Konnte er der unbarmherzigen Kälte trotzen, die das Dorf jeden Winter für viele Monde heimsuchte, oder würde er zu den Vielen gehören, die starben, bevor ihnen der erste Flaum im Gesicht wuchs? Er hoffte es nicht. Natürlich wünschte er keinem aus seinem Volk Leid. Aber ganz besonders hoffte er, dass dieser Sechsjährige das Erwachsenenalter erreichte. Schon jetzt war zu erkennen, dass hier ein ganz besonderer Mensch heranwuchs, eigensinnig zwar, aber auch stark. Und das Dorf würde starke Menschen brauchen, um bestehen zu können.

      Müde schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Wer hat dir das erzählt?“, fragte er.

      „Mein Grossvater“, entgegnete Karo. „Und der weiss es von seinem Grossvater. Also muss es stimmen.“

      Der Älteste lächelte und blickte in die Runde. Es war höchste Zeit, dass sein Volk wieder einmal etwas zum Lachen bekam. Die endlosen Tage eng aneinander gekauert im Langhaus hatten die Menschen stumpf und aggressiv gemacht. „Wer von euch weiss, wie die Vormenschen ausgesehen haben?“, fragte er deshalb mit erhobener Stimme.

      Augenblicklich schossen alle Kinderhände in die Höhe. Die Erwachsenen brachen in heiteres Gelächter aus, denn sie kannten dieses Spiel schon aus ihrer eigenen Kindheit. Stimmen schrien durcheinander, und nach einer Weile erhob sich der Älteste und breitete die Arme aus. Langsam beruhigten sich die Kinder wieder.

      „Schön der Reihe nach“, sagte er. „Hat jemand von euch eine andere Meinung als Karo?“

      Wieder schossen Kinderhände in die Höhe, wenn auch nicht mehr ganz so viele. Der Älteste deutete auf Matu, und dieser schritt, obwohl er ebenfalls erst sechs Winter alt war, mit dem Stolz und der Würde eines Erwachsenen in die Mitte des Halbkreises. Dort pflanzte er sich auf, wartete, bis er die Aufmerksamkeit von allen hatte und begann: „Sie waren natürlich klein. Viel kleiner und schwächlicher als wir.“

      „Stimmt gar nicht!“, schrie Karo dazwischen und wäre, wenn ihn seine Mutter nicht zurückgehalten hätte, auf Matu losgegangen.

      „Wir wollen nicht streiten“, ermahnte der Älteste die Kinder. „Lasst uns hören, was jeder Einzelne denkt.“ Dann, wieder an Matu gewandt: „Warum glaubst du, dass sie klein waren?“

      „Ist doch klar“, sagte er. „Wenn sie so gross und stark gewesen wären wie wir, dann hätten sie nicht für alles diese Ma… Ma…

      „Maschinen?“, half der Älteste nach.

      „Genau. Dann hätten sie keine Maschinen bauen müssen. Dann wären sie auf die Jagd gegangen wie richtige Männer.“

      Im Lauf dieses Nachmittags tauchten noch viele Theorien über das Aussehen der Vormenschen auf. Einige Kinder glaubten, sie seien riesige Ameisen gewesen, die das ganze Land mit ihren Bauwerken überzogen hatten, von denen heute noch überall Überreste zu sehen waren. Andere, sie hätten Köpfe gross wie Kürbisse gehabt, damit all ihr Wissen darin Platz fand. Die Erwachsenen und die grösseren Kinder, die natürlich längst wussten, wie die Vormenschen wirklich ausgesehen hatten, amüsierten sich prächtig und vergassen für eine Weile, dass draussen vor der Tür eine Natur lauerte, die sie umbringen wollte.

      „Dann wollen wir einmal dafür sorgen, dass Ihr alle die Wahrheit kennt“, unterbrach der Älteste schliesslich die Diskussion. „Die Vormenschen sahen aus wie …“ Er machte eine Pause und wartete, bis das Gemurmel verstummt war und ihn die Kinder mit vor Ungeduld weit offenen Mündern ansahen. „… wie wir.“

      Augenblicklich schwoll der Lärm wieder an. Unmöglich!“, durchdrang Karos Stimme den Krach. „Woher willst du das wissen?“

      „Ganz einfach“, sprach der Älteste, „so haben es die Alten seit Anbeginn der Zeit von einer Generation an die nächste weitergegeben. Ausserdem sind alle Relikte aus der Vormenschenzeit so gearbeitet, dass sie bequem in unsere Hände passen. Wir wissen zwar nicht, wozu all die Maschinen, deren Überreste wir heute noch manchmal finden, gut waren, aber sie passen in unsere Hände, als seien sie für uns gefertigt worden.“

      „Vielleicht waren es Riesen mit kleinen Händen?“, schlug Karo vor, der noch nicht von seiner Theorie ablassen wollte.

      Der Älteste lächelte. „Du darfst es mir ruhig glauben“, sagte er schliesslich, „die Vormenschen waren weder Riesen noch sprühten Funken aus ihren Augen. Sie waren ganz normale Menschen wie du und ich.“

      Karo legte seine kleine Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Dann erhellte ein triumphierendes Strahlen sein Gesicht, und er fragte: „Wenn sie gleich waren wie wir, dann müssten doch auch wir all diese Wunder vollbringen können. Warum können wir das nicht mehr?“

      Das, dachte der Älteste, war die entscheidende Frage. Was war geschehen, dass eine einstmals stolze, mächtige Zivilisation untergegangen war und nur sie zurückgelassen hatte? Ein kleines Volk, das täglich hart arbeitete und trotzdem kaum das Nötigste zum Leben zusammen brachte? Er hätte viel darum gegeben, dieses Geheimnis zu lüften.

      Im Langhaus war es ruhig geworden, und alle, auch die Erwachsenen, warteten gebannt auf seine Antwort. Er bemerkte, dass die Geräusche des Windes nachgelassen hatten, öffnete einen der Fensterläden einen Spalt und spähte hinaus. Tatsächlich: Der Sturm war abgeflaut, und im Nordwesten zeigte sich sogar ein blauer Streifen am Horizont.

      Er wandte sich wieder seinem Volk zu. „Geht nach draussen und macht eure Arbeit“, sagte er. „Wer weiss, wie lange die Ruhe anhält.“

      Mürrisch erhoben sich die Menschen. Sie zogen ihre dicken Felljacken an, streiften Mützen und Handschuhe über und verliessen langsam das Langhaus. Auch wenn sie keine Lust hatten, in die Kälte zu gehen, so wussten sie doch, dass der Älteste Recht hatte. Sie mussten das Vieh füttern und Brennholz spalten, und wenn sie Glück hatten, würde es ihnen sogar gelingen, am zugefrorenen Fluss einige Fische zu fangen. Wenn sie überleben wollten, mussten sie jeden Moment ausnützen, den die launische Natur ihnen zugestand.

      Schliesslich waren alle bis auf Karo gegangen.

      „Du auch“, sagte der Älteste. „Ich bin sicher, dein Vater benötigt deine Hilfe.“

      „Du

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