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zur Ruh'

      Ich werde umgedreht und entdecke, dass die Ecke in der ich stehe gar keine ist, wie konnte ich so etwas nur übersehen? Es ist ein Flur, der entlang der Wand des Geschäftes führt, beziehungsweise wohl eher die hintere Wand des Geschäftes bildet. Wenn man von außen hineinschaute, konnte man es nicht erkennen, aber hier sehe ich zwei Türen und noch eine Abbiege die nicht einzusehen ist. Wir gehen wie selbstverständlich, aber doch bedrückt und ängstlich vor dem was kommt, zu der linken Seite der eigentlichen Bücherei weg, auf eine Tür zu.

      Wie ein Arzt auf dem Weg zum Zimmer des Patienten mit der unbekannten Krankheit, die sich zwar in bekannten Symptomen äußert, aber nicht auf die üblichen Medikamente reagiert, komme ich mir vor.

      Der jüngere der alten Männer öffnet die Tür und ich bin immer noch in der Arztrolle eingefroren. Da stehen tatsächlich zwei Betten wie sie im Krankenhaus üblich sind.

      Der Raum ist dunkel, alles Licht was hinein fällt, stammt aus dem Geschäft und wird indirekt über die Wandreflexion nur noch geschwächt ins Zimmer getragen.

      Das Zimmer selbst besitzt weder eine Lampe noch ein Fenster.

      Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, ergeben sich Muster in einem der Betten, das andere steht leer. Ein dickwangiger, lebloser Bub von vielleicht 22 Jahren liegt auf dem Rücken, den Blick durch die geschlossenen Augen zur Decke gerichtet. Ich denke schon wieder an einen alten Schulkameraden, diesmal ist mir der Gedanke freundlicher erschienen, da ich mit dieser Erinnerung zumindest eine Zeit lang befreundet gewesen bin und sie mochte bis zu einem ungewissen Zeitpunkt.

      Doch bevor ich weiter forschen kann, löst sich meine Erinnerung wieder auf. Der Junge steht aus seinem Bett auf und ist ein Mädchen, ein Mädchen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Eine kurze Frisur, viel zu ordentlich dafür, dass sie gerade erst aufgestanden ist. Sie trägt ein weißes Nachthemd. Es fällt an ihr herunter, als wäre es frisch gebügelt. Ich vermochte sogar einen Hauch des Bügelgeruches kurz zu erhaschen, vielleicht auch nicht.

      Im Eingangsbereich des Raumes steht ein Tisch mit zwei Stühlen. Sie schwebt lautlos darauf zu. Als sie dann vor mir sitzt, setzte ich mich auch hin.

      Sie beginnt zu reden. Ich höre ihr nicht genau zu. Eigentlich überhaupt nicht. Weil mich die Situation in der ich mich befinde, viel zu sehr beschäftigt und in eine Traumwelt reißt.

      Jeden Moment dachte ich, ich sollte aufwachen und mich fragen, wieso ich an alte Schulfreunde dachte, jeden Moment dachte ich, sie reißen alle drei ihre Masken runter und entpuppen sich als meine drei besten Freunde, die mich, eben weil sie mich so gut kennen, exzellent hinters Licht geführt haben.

      Doch nichts passierte, sie redet weiter.

      Ihr Gesicht fällt plötzlich in sich zusammen, sie sackt in sich ein und bevor ich, aus meiner Träumerei gerissen, etwas fragen kann, werde ich schon wieder weitergeschoben, raus aus dem Raum, mit einem freundlichen: „Sie ist müde, sie muss etwas schlafen. Sie sind aber auch ein guter Zuhörer.“

      Während ich hinaus geschoben werde, kann ich bei einem Blick zurück eine kurze, Macht ergreifende Handbewegung des alten Mannes gegenüber des Mädchens ausmachen.

      Einschlafphase

      Zurück in den eigentlichen Bücherraum gedrängt scheint mir alles plötzlich so unfreundlich. Das urige, heimatliche Gefühl dieses kleinen Raumes war verschwunden. Das bisschen was mal da war.

      Übrig geblieben ist das Gefühl von Unheil in mir und eine erschreckende, lauernde Atmosphäre.

      Der Grund dafür, neben den seltsamen Geschehnissen in diesen Wänden, ist unter anderem die nicht dämmernde, sondern in ihrer vollen Pracht scheinende Nacht. War ich denn wirklich so lange mit meinen Gedanken beschäftigt? Wie lange hat das Mädchen mir etwas erzählt?

      Der alte Holzboden knarrt mit jedem Schritt den ich tue lauter.

      Inzwischen sind beide Männer wieder anwesend. Sie haben Tee mitgebracht. Er wird mir angeboten, ich trinke.

      Es ist eine Pfirsich-Schwarztee-Mischung. Ich habe ihn noch nie getrunken, aber der Geschmack erinnert mich an ein Kindheitserlebnis:

      Ich war damals gerade sechs geworden, dass weiß ich noch so genau, weil mir meine liebe Großmutter seit meinem sechsten Geburtstag bis hin zu meinem achtzehnten immer eine Schachtel Pralinen schenkte. Es waren immer die gleichen.

      Eine rechteckige, blaue Verpackung mit einer roten, breiten Schleife umbunden.

      Wenn man die Verpackung öffnete, stach einem, sobald man den von der Luft gehaltenen Deckel vorsichtig abnahm, eine weiße, seidene Decke entgegen. Hauchdünn und duftend.

      Unter der Decke war eine weiße Papierschicht und darunter endlich die Schokoladentrüffel, die mit Haselnusscreme gefüllten Waffeln, zwei Kokospralinen, an der rechten Seite eine Auswahl an Pralinen mit sämtlichen Nüssen, links das gesamte, wünschenswerte Nougatbuffet und in der Mitte eine einzige Rumpraline aus weißer Schokolade und dunkler Verzierung oben auf.

      Insgesamt waren es 32 Pralinen.

      Doch es gab Regeln. Dieses Geschenk war die Art meiner Großmutter mir das Genießen beizubringen. Ich durfte immer nur eine Praline am Tag essen.

      Das sagt sich jetzt, da ich weiß wie es funktioniert so leicht, aber mit sechs Jahren hätte ich gerne mein heutiges Wissen besessen.

      Von solchen Abreibungen auf den blanken Hosenboden kann ich heute nur noch träumen.

      Als meiner Mutter damals auffiel, dass ich an einem Tag drei anstatt einer gegessen hatte, legte sie mich auf ihr schönes Sommer-Blumenkleid über die Knie und verpasste mir Schläge, die ihr wohl einst zustanden.

      Wenn meine Großmutter mich sonst schon nichts gelehrt hatte, dann zumindest den Genuss und den Verzicht, mit meiner Mutter als ihrem Helfer.

      Das Jahr in dem ich sechs wurde, war das einzige in dem ich Prügel bezog wegen Verstoß gegen die Regeln. Später stellte ich es geschickt an.

      Mein Geburtstag lag und liegt immer noch im Dezember und die Neujahrsnacht war eine der wenigen Ausnahmen im Jahr, an denen es kleinen Kindern wie mir damals erlaubt war bis nach Mitternacht auf zu bleiben.

      Ein jeder wahrer Genießer wie ich es war, kann sich schon längst denken, was mein Plan war.

      Ich aß also um kurz vor Mitternacht eine und eine Minute später, als sich meine Familie in den Armen lag, um das neue Jahr zu feiern, die zweite Praline. Damit hatte ich keine Regel gebrochen und trotzdem mehr als sonst.

      Meine Großmutter hätte mir sicherlich auch zu späteren Geburtstagen als dem achtzehnten weiterhin Pralinen geschenkt, aber kurz nach Neujahrsbeginn erlag sie ihrem Brustkrebs, wie er allen Frauen der Familie bisher früher oder später zuteil wurde. Ich hatte bis dorthin schon zehn der Pralinen gegessen, also waren noch zweiundzwanzig übrig und ich schwor mir von nun an mir jedes Jahr nur eine einzige zu gönnen. Sie waren so süß, dass ich mir um ihre Haltbarkeit keine Gedanken machen musste, sie würden, wenn sie müssten, meine Person selbst überleben und einem kleinen Kind noch den Genuss eintrichtern.

      Sie würden also bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr anhalten.

      Zurück aus meiner Erinnerung, in die sehr verwirrende Wirklichkeit geschmissen, versuche ich den Grund für mein Abschweifen wiederzufinden. Genau. Der Tee.

      Ebenso wie die dünne Decke, unter der die Pralinen sanft gebettet waren roch, schmeckt der Tee den mir die beiden mir höchst suspekten, aber doch freundlichen Männer einschenkten.

      Als kleinen Genuss zum Tee gibt es etwas Süßes. Der Mann mit der Brille und dem Bart hält mir eine große, weiße Porzellanschüssel vor und ich wusste, weil auch sie es so getan hatten, dass ich nur eine Kleinigkeit daraus entnehmen sollte, wenn ich mir einen peinlichen Moment ersparen will.

      Schokotropfen,

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