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sie gespannt dem Prediger zuhören.

      Der Geistliche redet weiter zu seiner unsichtbaren Gemeinde: „Oh ja, die Sünde der Verschwiegenheit! Das selbstsüchtige Herz, das sagt: »Ich brauche mich nicht zu öffnen; ich kann alles für mich behalten, und niemand wird es je erfahren.« Denkt daran, Brüder und Schwestern! Es ist leicht zu sagen: »Oh, ich kann dieses schmutzige kleine Geheimnis bewahren, es geht niemanden etwas an, und mir tut es nicht weh«, und dann die Augen vor dem Krebsgeschwür der Verderbtheit zu verschließen, das drum herum zu wachsen beginnt … vor dieser Krankheit der Seele, die sich drum herum auszubreiten beginnt …“

      Währenddessen gehe ich die Treppe hinunter, und hinter mir verklingt die Stimme des Predigers. Er spricht weiter über Geheimnisse, Verschwiegenheit, Sünde und Selbstsucht. Ich betrete den großen Schlafsaal und sehe unter anderem Martin Kurz, den jungen Rettungssanitäter, der im Feldbett neben Lilli schläft, die ihren Sohn Felix in ihren Armen hält. Die Wirtsleute Tom und Britta Kruse liegen mit aneinandergelegten Köpfen auf zwei zusammengerückten Feldbetten.

      Ich komme an Udo Müller, dem RUWE-Chef, vorbei, der mit gerunzelter Stirn auf dem Rücken schläft. Ein Bett weiter schläft seine Frau Petra; sie trägt noch immer das gelbe Shirt der Deutschen Post und hat die Wolldecke bis zu den Augen hochgezogen. Hier im Schlafbereich höre ich Geräusche, die man in jedem Raum hört, in dem viele Menschen schlafen: Husten, pfeifendes Atmen, leises und lautes Schnarchen.

      Ich sehe Anja Kühn, ihren vierjährigen Sohn Moritz und ihre Tante, Frau Fremdel – sie schlafen tief und fest. Nach Ninos Dahinscheiden durch eine Todesspritze liegen sie so nah beieinander, wie es nur geht. Der kleine Moritz schläft gewiss recht gut, denn noch weiß er nichts vom Tod seines Vaters. Sein gleichaltriger Freund Jan Köller schlummert in den Armen seiner träumenden Mutter.

      Ich gehe hinüber in den Bereich, in dem die ersten Kinder zu Bett gebracht worden sind, und eine ganze Menge von ihnen sind nach wie vor dort – Tina Kruse, Petty Wecker, Lisa Wiese, Clara Cäsar, Charly Seifried, Nena Gründler, Marco Schmidt und Bernardos Sohn Jonas.

      Die Einwohner von Lich schlafen. Ihr Schlaf ist unruhig, aber sie schlafen.

      Jonas Cäsar schläft jetzt – ob tief und fest kann man nicht beurteilen. Im Moment murmelt er jedenfalls etwas Unzusammenhängendes. Seine Augäpfel bewegen sich schnell hinter den geschlossenen Lidern. Er träumt.

      Er träumt von einem Fernsehreporter.

      Auf der Straße – oder vielmehr über deren Asphaltdecke, da die Gießener Straße unter mindestens einem Meter Schnee begraben liegt – steht ein Fernsehreporter. Er ist jung und sieht auf konventionelle Weise gut aus. Er trägt einen leuchtend purpurroten Ski-Anzug von Bergson mit den dazu passenden purpurroten Handschuhen und hat Skier unter den Füßen … vermutlich die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, wo er jetzt steht.

      Auf den Straßen liegt, wie erwähnt, über ein Meter Schnee, aber das ist nur der Anfang. Die Geschäfte sind geradezu begraben unter gewaltigen Schneewehen. Heruntergerissene Stromleitungen verschwinden wie abgerissene Spinnwebfäden im Schnee.

      Der Fernsehreporter berichtet ziemlich unaufgeregt: „Die Landstriche nördlich Hessens haben die Ausläufer des sogenannten Jahrhundertsturms nun hinter sich. Von Hamburg bis Kassel graben sich die Leute durch Schneemengen ans Tageslicht, die die Bücher der Rekorde nicht nur um neue Einträge, sondern um ganze neue Seiten bereichern werden.“

      Der Reporter setzt sich auf seinen Skiern in Bewegung und fährt langsam die Gießener Straße entlang, an Mehtaps Bäckerei Inbrunst entlang, biegt »Am Wall« um die Ecke, kommt an Sedelmayrs Hörgeräte- und Optik-Geschäft und dann am Restaurant Moustaki vorbei.

      Er spricht weiter: „Das heißt, sie graben sich überall durch, nur hier in Lich nicht – einer Kleinstadt samt ihren dörflichen Stadtteilen, von einer Raumkapsel aus gesehen ein winziger Fleck –, auf dem der letzten Volkszählung zufolge ungefähr 15000 Seelen beheimatet sind. Nur dreihundert von ihnen haben im Rathaus Schutz gesucht, als sich herausstellte, dass dieser Sturm die Stadt wirklich treffen würde, und zwar hart. Dazu gehören einige Kinder der Stadt, vom Kindergarten- bis zum Teenageralter. Aber genau diese fast dreihundert Männer und Frauen samt der dazu gehörigen Kinder … sind verschwunden. Es gibt Ausnahmen, aber die sind noch rätselhafter und beunruhigender.“

      Die Augen des schlafenden Bürgermeisters bewegen sich hinter den geschlossenen Lidern rasch hin und her.

      Der Fernsehreporter berichtet: „Bisher hat man in Lich drei Leichen gefunden. In zwei Fällen handelt es sich möglicherweise um Selbstmord, wie aus Polizeikreisen verlautet. Doch im anderen Fall handelt es sich mit Sicherheit um eine Mordsache, denn das Opfer wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.“

      Cäsar erkennt im Traum ziemlich bald den Mann in seinem purpurroten Ski-Anzug – es ist Lamor. Aber statt der purpurroten Handschuhe hat er jetzt leuchtend gelbe an.

      Lamor – als Reporter – berichtet weiter: „Die Identität der Toten wird nicht bekannt gegeben, ehe man nicht die nächsten Verwandten benachrichtigt hat. Aber wie es heißt, sind die Opfer alle langjährige Bewohner von Lich. Und die verblüfften Polizisten stellen sich immer wieder eine Frage: »Wo sind die anderen Menschen hin, die im Rathaus Schutz suchten?« Wo ist Jonas Cäsar, der Bürgermeister? Wo ist Jens Köller, der Erste Stadtpolizist? Wo ist der neunzehnjährige Michel Mannschmidt, der seine Ausbildung als Koch unterbrach, um im Rathaus auszuhelfen? Wo sind die Ladenbesitzer, die Künstler und Ratsherrn? Niemand weiß es. In der gesamten hessischen Landesgeschichte hat es bisher nur einen einzigen solchen Fall gegeben.“

      Ich gehe weiter durch den Schlafsaal und schaue mir fasziniert die dort Liegenden an, deren Gesichter sich keinesfalls in der entspannten Ruheposition von tief Schlafenden befinden. Irgendwie bewegen sich die Augen unter ihren Lidern. Das ist es, was mich zu diesem Zeitpunkt stutzig macht, auch als ich bei Maria Köller vorbei komme.

      Maria sieht in ihrem mysteriösem Traum eine uralte Karte von Dorf Güll, einem südwestlich von Lich gelegenen Örtchen. Und sie hört und sieht eine Fernsehreporterin: „So sah Dorf Güll im Jahr 1527 während des Deutschen Bauernkrieges aus, bevor die gesamte Einwohnerschaft verschwand – jeder Mann, jede Frau, jedes Kind. Man hat nie herausgefunden, was mit ihnen geschehen ist. Man fand nur einen einzigen möglichen Hinweis, nämlich ein Wort, das in einen Baum geschnitzt war …“

      Maria sieht im Traum einen Holzschnitt von einer Eiche. In die Rinde ist das Wort »ALMOR« geschnitzt. Und sie hört weiter die Reporterin sagen:

      „… und zwar dieses Wort: ALMOR. Der Name eines Ortes oder eines Schuldigen? Ein Schreibfehler? Ein Wort einer ausgestorbenen Sprache? Auch das weiß niemand.“

      Die Reporterin sieht sehr hübsch aus in ihrem purpurroten Ski-Anzug. Er passt gut zu ihren langen blonden Haaren, den geröteten Wangen … und ihren leuchtend gelben Handschuhen. – Ja, es ist wieder Lamor, der jetzt mit der Stimme einer Frau spricht und dabei sehr attraktiv ist. Das ist keine Transvestiten-Show, die den Zuschauer zum Lachen bringen soll. Wir haben es mit einem Kerl zu tun, der wirklich wie eine schöne junge Frau aussieht und mit der Stimme einer Frau spricht. Die Sache ist todernst.

      Diese Reporterin macht genau dort weiter, wo der Reporter in der Version des Bürgermeisters aufgehört hat: Sie fährt auf Skiern die Straße »Am Wall« entlang, biegt das Bäckerei-Böhm-Sträßchen zum »Kirchenplatz« ab in Richtung Rathaus und spricht dabei in die Kamera:

      „Die Polizei versichert den Journalisten weiterhin, dass man die Lösung finden wird, aber auch sie kann eine wichtige Tatsache nicht leugnen: Für die vermissten Einwohner von Lich besteht nur noch wenig Hoffnung.“

      Die Reporterin fährt auf Skiern weiter zum Gebäude der Stadtverwaltung, das ebenfalls unter Schneewehen begraben ist.

      Lamor – als Fernsehreporterin – berichtet weiter: „Indizien deuten darauf hin, dass rund dreihundert Stadtbewohner die erste und schlimmste Nacht des Sturms hier im Tiefgeschoss des Licher Rathauses verbracht haben. Danach … kein Mensch weiß es. Man fragt sich, ob sie etwas hätten tun können, um ihr seltsames Schicksal abzuwenden.“

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