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dem 10. Oktober 2021, mit ihren Eltern, ihrem sechsjährigen Bruder und einem neunjährigen Cousin beim Wandern im bayrisch-tschechischen Grenzgebiet verloren gegangen. Es gab zu dieser Jahreszeit noch keinen Schnee. Aber Kälte und Nässe. Zwei Tage und zwei Nächte war sie allein im Wald umhergeirrt. Am Sonntagnachmittag gegen vier Uhr saß sie noch auf dem Rücksitz des Familienautos. Um halb sechs hatte sie sich beim Versteckspiel mit den beiden Jungs im Wald verirrt.

      Um sieben Uhr, als die Dämmerung hereinbrach, versuchte sie, sich nicht zu fürchten. Versuchte, nicht zu denken „Es ist schlimm, es ist sehr schlimm.“

      Das Mädchen irrt durch die Wälder. Sie ist mutterseelenallein. Sie ist vom Weg abgekommen. Noch hat niemand bemerkt, dass sie verschwunden ist – Bruder und Cousin denken, es gehört zum Spiel. Nur sie weiß, dass sie sich verirrt hat und keiner da ist, der sie beschützen kann – vor dem Hunger und dem Durst, vor der Kälte und dem Nebel, vor den wilden Tieren, vor der Einsamkeit und der Dunkelheit.

      Um neun Uhr, als es stockfinster ist, versucht sie nicht daran zu denken, dass manchmal Leute, die sich im Wald verirren, ernsthaft verletzt werden. Oder niemals wieder zurückkehren. Eine Baseballkappe, ein Taschentuch, ein kleiner hellbrauner Stummelbleistift von IKEA und die Erinnerung an die Gespräche mit ihrem Vater über dessen alte Pfadfinderzeiten sind die einzige Ausrüstung, die Julia mit sich führt. Mehr hat sie dem Grauen der Wälder nicht entgegenzusetzen. Und das ist sehr, sehr wenig.

      Ich muss mich schütteln, als ich jetzt daran denke. Aber da die Geschichte mit Julia gut ausging und sie nach zwei langen Tagen und noch längeren Nächten im Wald lebend gefunden worden war, schöpfte auch ich Hoffnung, dass wir aus der Katastrophensituation unserer Stadt lebend herauskommen würden.

      Einer der Außenposten hatte berichtet, dass die Scheiben der Hof-Apotheke vom Schnee eingedrückt worden waren und das Apothekeninnere sich zu einer kältestarrenden Tundra verwandelt habe. Eis glitzere auf den Buchstaben des Wortes »Arzneimittel« im hinteren Teil des Ladens. Weiter vorn sei das Schild mit der Aufschrift »Besiegen Sie den alten Mann namens Winter mit einer Heizdecke von IMETEC« mit Eiskristallen besetzt, die dem Schild ein spöttisches Aussehen bescherten. Die Pendeluhr im Verkaufsraum – ähnlich der Uhr von Martha – sei so zugeschneit, dass man sie nicht mehr ablesen könne, aber sie funktioniere wohl noch.

      Der Eissalon von Morandin sei inzwischen ein einziger Eisklotz, ähnlich dem Eisberg, der die Titanic am 14. April 1912 kurz vor Mitternacht unsanft streichelte.

      Ich komme bei meinem Kontroll-Rundgang ins gespenstisch ruhig anmutende »Sonnenschein«-Kinderland, wo noch bis in die Abendstunden hinein Remmidemmi geherrscht hatte. Ein Kuckuck, den die »Sonnenschein«-Kinder bestimmt heiß und innig lieben, schnellt immer wieder aus der Uhr an der Wand, unverschämt wie eine herausgestreckte Zunge. Diesmal kommt er nur drei Mal aus seinem Häuschen und ruft »Kuckuck«. Damit verschwindet der Vogel wieder in seinem Versteck. Der Kindergarten selbst ist makellos sauber, wirkt aber unheimlich – die kleinen Tische und Stühle, die Kinderbilder an den Wänden, die Tafel, auf der »Wir sagen Bitte« und »Wir sagen Danke« geschrieben steht.

      Zu viele Schatten, zu viel Stille.

      Ich gehe hoch in das Polizeibüro, wo bis vor kurzem noch Herr Lamor hinter Gittern gefangen war und auf seiner Pritsche mit angezogenen Beinen saß, um uns zu belauern. Der Boden ist nach wie vor mit Papier und Büroartikeln übersät, und die herausgefallenen Gitterstäbe liegen noch dort, wo sie hingefallen waren, aber der Raum ist leer. Auf der großen Batterie-Uhr über Köllers leergefegtem Schreibtisch ist es jetzt vier Minuten nach drei.

      Mein Rundgang führt mich in die Rathaus-Küche im Untergeschoss. Sie wirkt wie aus dem Ei gepellt – die Arbeitsplatten sauber, der Fußboden gewischt, die gespülten Töpfe in den Abtropfkörben gestapelt. Eine kleine Armee von Frauen hat Ordnung geschaffen – zweifellos unter Frau Demuths Oberbefehl. Ich sehe, dass alles bereit fürs Frühstück ist, das es in vier Stunden gibt, so Gott will: Pfannkuchenteig für rund dreihundert Personen. An der Wanduhr ist es inzwischen zwanzig Minuten nach drei. Wie der »Sonnenschein«-Kindergarten wirkt auch dieser Raum unheimlich – die vom Generator gespeiste Beleuchtung ist minimal, und draußen heult schrill der Wind.

      Carlo Mannschmidt und sein Sohn Michel sitzen auf Hockern am Hintereingang der Küche vor einer Tür mit dickem Fensterglas. Sie haben Jagdgewehre auf dem Schoß und starren ins undurchdringliche Weiß. Beide sind kurz davor, einzunicken.

      „Wie sollen wir da draußen irgendwas sehen?“, fragt der Neunzehnjährige seinen Vater.

      Carlo schüttelt den Kopf. Er weiß es nicht.

      Ich wünsche den beiden noch einen ruhigen Abend und gehe weiter zum Gemeindebüro im Erdgeschoss, wo an normalen Tagen Frau Kranz-Mai die Ja-Sager bis zu ihrem Tod mit dem Fluch einer unglücklichen Ehe belegt. Manchmal, wenn sie ihren guten Tag hat (aber nur dann), wünscht sie den frisch Getrauten von Herzen alles Gute – und in diesen äußerst seltenen Fällen geht dann tatsächlich alles gut.

      Vor dem Büro des Standesamtes sitzen Hubert Seifried und Bernardo, beide ebenfalls mit Jagdgewehren bewaffnet, und halten an der offenen Bürotür Wache. Das heißt – Bernardo hält Wache. Hubert döst vor sich hin. Ich sehe, dass Frau Kranz-Mai und Michaela Wiese nebeneinander auf Feldbetten schlafen und flüstere Bernardo zu: „Alles in Ordnung? Oder hat sich Herr Lamor als der graue Kardinal entpuppt?“

      Er lächelt müde, schüttelt den Kopf und sagt: „Ich wäre jetzt gerne mal Mäuschen und würde wissen, wie die da in ihrem großen, kalten und einsamen Schloss eine solche Situation alleine meistern …“

      „Jedenfalls haben sie gewiss genug Vorräte und eine warme Stube“, antworte ich, bevor ich auf den knisternden CB-Funk aus Frau Kranz-Mais Büro höre. Aber das Knistern hat nichts zu bedeuten, wie Bernardo sagt: „Es ist nur atmosphärisches Rauschen!“

      Die Prediger & die Träume

      Das Merkwürdige ist, dass ich – nachdem ich meinen Rundgang fortsetze und die Treppe wieder hinunter gehe, um zu Ben zurückzukehren – durch das nachklingende atmosphärische Rauschen hindurch eine leise Stimme höre. Es ist – dem Inhalt und der predigenden Tonlage nach zu urteilen – die Stimme eines Geistlichen:

      „Wie ihr wisst, Freunde, ist es schwer, rechtschaffen zu sein, aber leicht, sich von sogenannten Freunden einreden zu lassen, dass es in Ordnung ist, zu sündigen und eure Pflichten zu vernachlässigen, weil angeblich kein Gott euch zusieht und weil ihr auch weiterhin alles tun könnt, womit ihr glaubt davon kommen zu können. Sprecht mir nach: »Halleluja«.“

      Als ich in diesem Augenblick im Gemeindesaal ankomme, höre ich eine vielstimmig gemurmelte Antwort der Schlafenden: „Halleluja.“

      Es sind noch ungefähr zehn Leute im Fernsehbereich. Sie haben sich auf die wenigen bequemen Sessel und ein paar Flohmarktsofas, die vor dem Sturm schnell herbei geschafft worden waren, verteilt. Alle, außer dem Bürgermeister, schlafen. Auf dem Bildschirm, kaum sichtbar hinter den Störungen, ist der Geistliche mit den geschniegelten Haaren zu sehen, der einen so vertrauenswürdigen Eindruck macht wie der Immobilienhai Dr. Werner Wüst im Hof eines Stundenhotels.

      Mit Verwunderung sehe ich, dass Jonas Cäsar mit dem Fernseher redet: „Halleluja, Bruder. Sprich weiter.“

      Cäsar sitzt in einem Ohrensessel, ähnlich dem, in dem erst Martha Weis und danach Niko Lamor gesessen haben. Er sitzt ein bisschen abseits von den anderen und sieht sehr müde aus. Ich denke mir, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange wach sein wird. Im Moment scheint er sich auf die Worte des Geistlichen zu konzentrieren:

      „Brüder, heute Nacht möchte ich vor allem über die Sünde der Verschwiegenheit mit euch sprechen. Heute Nacht möchte ich euch daran erinnern – sagt Halleluja –, dass die Sünde auf den Lippen süß, auf der Zunge jedoch bitter schmeckt und den Rechtschaffenen Bauchgrummeln verursacht. Gott segne euch, und nun sprecht mir nach: Amen.“

      Jonas Cäsar spricht ihm nun allerdings nicht mehr nach. Das Kinn ist ihm auf die Brust gesunken, und ihm sind die Augen zugefallen.

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