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uns sind sieben Mütter und ein Vater – Tim Cäsar – hiergeblieben. Sie müssen sich mit kleinen Kindern herumschlagen, denen es ganz und gar nicht passt, dass sie nichts von dem spannenden Geschehen mitkriegen sollen.

      „Mama, bitte, kann ich nicht auch raus?“, fragt Jansi seine Mutter.

      Maria wechselt einen Blick mit Dunja Wecker – er ist gleichzeitig genervt und belustigt, ein Blick, den nur die Eltern von Kindern im Vorschulalter kennen.

      Die fünfjährige Petty Wecker schlägt sofort in Jans Kerbe: „Bitte, Mama, darf ich?“

      Die gleichaltrige Clara wiederum versucht es bei ihrem Vater Tim auf eine etwas despotische Tour: „Zieh mir die Jacke an! Ich will raus! Mach schon, ich will es sehen!“

      Jonas und Tim sehen sich hilflos an. Sie können und wollen hier vor all den Bürgern keinen Eklat und schweigen zu den unerzogenen Worten ihrer Adoptivtochter.

      Maria antwortet Jan: „Oh …, nun, na gut.“ Und an Dunja gewandt: „Ich will es eigentlich auch sehen.“ Und wieder zu Jan redend: „Komm, Jansi, gehen wir deine Jacke holen.“

      Die meisten anderen Eltern – Britta und Tom Kruse, Eric Wiese und seine Frau Michaela, Eva Gründler, Hubert und Jenny Seifried, Bernardo und Ewa Wagner, Lilli Schön – tun das Gleiche. Anja Kühn jedoch widersteht den inständigen Bitten ihres Sohnes Moritz, der noch immer nichts vom Tod seines Vaters weiß.

      „Mama kann nicht, Schatz – sie ist zu müde. Tut mir leid.“

      „Paps nimmt mich mit … wo ist Papa?“

      Anja weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Sie ist kurz davor in Tränen auszubrechen. Eigentlich hatte sie ihm schon vor dem Frühstück sagen wollen, dass Papa sich in einem Rettungseinsatz befindet. Sie hatte die offensichtliche Lüge aber nicht übers Herz gebracht. Die anderen Frauen, die eben zugehört haben, zerfließen vor Mitgefühl, und Lilli sagt: „Ich nehm‘ dich mit raus, kleiner Mann. Wenn deine Mama einverstanden ist.“

      Stella und ich sehen, wie Anja dankbar nickt.

      Vor dem überschwemmten Schlosspark, der zu einem großen schwarzen See geworden ist, stehen ungefähr siebzig Stadtbewohner in einer lockeren Reihe beisammen und schauen hinaus auf das vom Sturm wild aufgepeitschte Wasser. Die Eltern, die zur Seitentür herauskommen, um sich den anderen anzuschließen, tragen ihre kleinen, dick eingepackten Kinder entweder auf den Armen oder führen sie an der Hand. Ab und zu versinken sie bis zur Taille im Neuschnee und müssen einander aus den Schneewehen heraushelfen. Es gibt einiges Gelächter; die Aufregung hat dazu beigetragen, sie aus ihrem traumbedingten, nach innen gekehrten Zustand aufzurütteln.

       Als unsichtbar dahin schwebende Geister, würden wir jetzt Lamors haselnussfarbenen Schaft seines Stocks in den Schnee herabsinken sehen. Lamor steht hier und beobachtet die Stadtbewohner durch den dichten Schnee. Sie sehen ihn nicht, weil sie ihm den Rücken zukehren.

      Hubert steht neben Jens; sie schauen hinüber zur Brauerei, und Hubert fragt: „Wird er sich verabschieden, Jens?“

      Maria und Jenny gesellen sich mit Jansi und Charly zu ihren Männern. Jens bückt sich, um Jan hochzuheben, ohne den Blick von dieser Art »Leuchtturm« zu wenden.

      „Ich glaube schon“, antwortet Jens seinem Kollegen nach einer kleinen Weile.

      Eine riesige Böe trifft das Wasser und gleich darauf die Menge der Zuschauer. Dann heult der Wind wie verrückt, der Schneefall verdichtet sich, und der Turm gegenüber wird zu einem kaum noch sichtbaren, schemenhaften weißen Gespenst im wirbelnden Schnee. Die ganze Welt verwandelt sich in ein konturloses Weiß.

      Kleine Familiengruppen und Freunde oder Nachbarn stehen beieinander, aber einige Leute stehen ein bisschen abseits von den anderen. Hinter ihnen allen bildet der Schnee einen wogenden weißen Prospekt. Wer von ihnen zurückblickt, sieht das Rathaus nur noch als einen matten, beige-rosa Schatten.

      Die kleine resolute Clara brüllt gegen den Wind an: „Papa, wo ist der Turm da drüben hin? Ich seh‘ überhaupt nichts!“

      „Warte, bis der Wind nachlässt, mein Schatz“, antwortet Tim.

      „Mach, dass er jetzt nachlässt!“

      Ihr Vater zuckt die Achseln und dann sieht man wieder den Turm schemenhaft auftauchen, als eine Pause im Schneegestöber eintritt.

      „Es klart auf!“, sagt Hubert Seifried.

      Eine ältere Dame, Frau Lacroix, Nachbarin des Café Göbel am Kirchplatz, mit einem gelben gefütterten Friesennerz, steht links von Köllers. Sie trägt eine knallgelbe Wollmütze und hat den Stadtpolizisten gerade gefragt, ob man noch bis morgen im Rathaus Schutz suchen könne, ihr Holzvorrat sei ausgegangen und sie heize seit der Gas-Teuerung hauptsächlich mit ihrem Kaminofen. Jens sieht sie kurz an, nickt, sagt ein knappes „Na sicher doch!“ und schaut dann wieder – gebannt wie alle anderen – hinüber zum Turm.

      Er sieht nicht, wie leuchtend gelbe Handschuhe im Schnee erscheinen. Einer legt sich fest auf den Mund der alten Dame, der andere packt sie am Hals. Sie wird nach hinten ins Schneegestöber gezerrt. Die Köllers neben ihr und auch die Seifrieds, ganz in der Nähe, merken nichts. Sie alle spähen angestrengt in die Ferne und wollen das Unfassbare miterleben.

      Eine gigantische Böe jagt über das Wasser und peitscht es auf. Sie erfasst den Turm, und die Leute sehen, dass er sich zu neigen beginnt. Eric Wiese und Martin Kurz stehen beieinander und Eric ruft erschrocken aus: „Er kippt! Herr im Himmel, er stürzt mit Sicherheit!“

      Neben den beiden steht ein männlicher Einwohner in einem fleckigen Parka, auf dessen linker Brustseite Günter Brasche Gebäudetechnik WALTZ steht. Eine Gestalt – Lamor – zeichnet sich schattenhaft hinter ihm ab. Sie hält ein oder zwei Sekunden inne, dann senkt sich der Stock – an beiden Enden von leuchtend gelben Handschuhen umfasst – vor Herrn Brasches Kehle herab. Der Gebäudetechniker wird rücklings ins Schneegestöber gezerrt. Weder Eric noch Martin bemerken es. Sie sind fasziniert von der Zerstörung, die da drüben auf dem Brauereigelände stattfindet.

      Eine weitere schwere Böe trifft den Brauerei-Turm. Selbst Stella und ich können im Rathaus das Ächzen der zerbröckelnden Ziegelsteine hören. Die Menge, die draußen am Schlossparksee dem Schauspiel zusieht, kann sehen, wie sich die Neigung des Turms wie in Zeitlupe verstärkt. Er neigt sich … neigt sich weiter … die Schräglage wird stärker.

      Tom Kruse ist ungeheuer aufgeregt. Er nimmt seine kleine Tochter mit einer schwungvollen Bewegung auf die Arme und macht ein paar schnelle Schritte durch den Schnee nach vorn.

      „Schau, Tina! Der Brauerei-Turm fällt um!“

      „Fällt um! Turm fällt um!“, wiederholt die Fünfjährige fasziniert.

      Ihre Mutter Britta steht ungefähr vier Schritte hinter ihnen. Weder Tom noch ihre kleine Tochter Tina sehen die gelben Handschuhe, die aus dem Schnee kommen, sie packen und rücklings in den weißen Vorhang hineinzerren.

      Die Spannung steigt, alle warten auf den endgültigen Show-down des Turms. Einen Moment lang scheint es, als würde der Brauerei-Turm vielleicht noch bisschen länger standhalten … und dann bricht er krachend zusammen. Während der Turm einstürzt, fegt eine weitere Sturmbö über den See im Park und verwischt die Sicht mit einer Mischung aus aufspritzendem Wasser und einer dichten Schneefront.

      Die Zuschauer sind verstummt, ihre kurze Erregung ist verflogen. Jetzt, wo es wirklich passiert ist, wünschen sie, es wäre nicht geschehen. Tina fällt in den Sprachmodus einer Dreijährigen zurück und fragt: „Wo ist der Turm, Papa? Ist er in die Heia gegangen?“

      „Ja, Schatz, ich glaube schon. Der Turm ist in die Heia gegangen“, antwortet Tom und dreht sich nach seiner Frau um: „Hast du das gesehen, Britta? Hast du …“

      Aber dort, wo sie gestanden hat, sieht er nur noch ihre Spuren im Schnee.

      „Britta? Hallo, Britta?“

      Verwirrt, aber noch nicht besorgt oder ängstlich lässt er den

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