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sie ihre Ausbildung zum „Truppmann“ absolviert und wurde von der Jugendfeuerwehr in die Gruppe der Erwachsenen übernommen. Ihre noch nicht erreichte Volljährigkeit war der einzige Bremsklotz. Sie besucht noch das örtliche Gymnasium und ist laut Gesetz nur für Einsätze bis 18.00 Uhr einsetzbar. Aber heute ist Sonnabend, morgen würde genügend Zeit zum Ausschlafen sein. Und überhaupt, einen Versuch ist es wert. Sie wirft sich ihre Jacke über und verlässt hektisch das Haus, gerade noch rechtzeitig, um ihrem Nachbarn, der sich ebenfalls auf den Weg machen will, den Zugang zu dessen Auto zu versperren: „Hey, nimm mich mit!“ „Du weißt, dass das nicht geht. Los, scher dich wieder ins Bett!“, bekommt sie als unliebsame Reaktion zu hören. „Mann ey, das sind doch nur noch ein paar Monate!“ „Gesetz ist Gesetz.“ „Bitte!“ „Also gut …“ Achim Herrmann hat keine Zeit mehr für Diskussionen. „Die schicken dich wieder nach Hause, wirst sehen ...“ Etwas genervt öffnet er die Autotür.

      Auch im anderen Teil des Doppeldorfes Petershagen betrachtet jemand interessiert das Display des Piepers: „Brand, Haus Bötzsee.“ Marco Rutter war bis zu seiner Ernennung zum Bürgermeister Wehrführer der Gemeinde. Obwohl ihn sein derzeitiger Job als oberster Dienstherr des Ortes mehr als genug auslastet, kam er doch nie so recht von der „Freiwilligen“ los, blieb Mitglied und beteiligt sich, sofern es seine Zeit erlaubt, auch hin und wieder an Einsätzen. Als er den Einsatzort liest, hält ihn nichts mehr zurück. Hastig springt er in seinen Wagen und fährt direkt zum Ort des Geschehens. Brand, Haus Bötzsee. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

      Das dreistöckige Kultur- und Tageszentrum „Haus Bötzsee“ befindet sich in der Altlandsberger Chaussee. Eingebettet von üppiger Natur, liegt es direkt am gleichnamigen Gewässer und bietet eine malerisch anmutende Kulisse. Angeblich soll die Villa von einer Familie Pannek erbaut worden sein, die später nach Berlin zog, um dort ein Ledergeschäft zu eröffnen. Jedenfalls munkelt man das. Genaueres weiß keiner aus der Gemeinde. Später nach dem Krieg, bis kurz vor dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik, wurde das Haus als Jugendherberge genutzt. An diese heiteren Zeiten, die rührige Herbergsleiterin, die von allen nur Marianne gerufen wurde, erinnert sich hier im Ort fast jeder. Nachdem auch diese Jugendherberge geschlossen wurde, nutzte man das Gebäude für Veranstaltungen der Ortsvereine, wie zum Beispiel der Ortsgruppe der Volkssolidarität. Aber leider wurden, weder zu „Ostzeiten“ noch danach, irgendwelche Instandsetzungsarbeiten an dem Haus vorgenommen. Es bröckelte gewaltig an der Vorkriegssubstanz. Umfangreiche Sanierungskosten belasteten den Geldbeutel der Gemeinde. Bürgermeister und örtliche Gremien suchten nach Lösungen. Immer wieder wurden freiwerdende Mittel für dringlichere Anschaffungen verplant. Insofern wäre es umso logischer, das Gebäude abzureißen, das Grundstück zu verkaufen und dadurch dringend benötigtes „Kleingeld“ in die Gemeindekasse zu spülen. Allerdings sprechen zwei gewichtige Gründe gegen dieses Gedankenspiel: Zum einem steht das „Haus Bötzsee“ unter Bestandsschutz. Daran lässt sich nicht rütteln, auch wenn so manches Mitglied des Gemeinderates heimlich von alternativen Verwendungen träumt. Zum anderen gäbe es einen Aufstand der Einwohner, die für ihre Sturheit bekannt sind und diesen Verkauf mit Sicherheit mit allen Mitteln verhindern würden. So gammelt und altert das Gebäude vor sich hin. Insbesondere die sanitären Anlagen im Inneren sind in einem schrecklichen Zustand. Ein Umstand, der auch dem Landrat nicht verborgen blieb. Und so begann eine für die Eggersdorfer unheilvolle Entwicklung.

       Die nahe gelegene Hauptstadt, die ohnehin schon aus allen Nähten platzte, hatte ein immer größeres Problem mit der Unterbringung von Strafgefangenen. Aus diesem Grund machte der Berliner Senat dem Land Brandenburg den Vorschlag, die Sanierung von „Haus Bötzsee“ zu übernehmen, um dort sogenannte „Freigänger“ unter- zubringen. In der Folge wurde Rutter vor einem halben Jahr zum Landrat zitiert, der ihm diesen Gedanken offenbarte. „Ihr habt kein Geld, um das Haus zu unterhalten, also halte ich unseren Plan für sinnvoll. Außerdem soll es nur eine Übergangslösung sein, bis Berlin seine neue Strafanstalt fertig gestellt hat“, beschwichtigte der Landrat. Der Politiker blickte in das missmutige Gesicht des jungen Bürgermeisters. „Ich denke, Berlin ist arm, aber sexy? Aber für eine Sanierung in Brandenburg haben die Geld …?“, witzelte Rutter, mit einem ironischen, Unterton: „Ich denke, dass unsere Gemeinde nicht begeistert sein wird.“ Der Landrat winkte ab. „Zunächst ist es ja nur eine Anfrage, eine Planungsidee. Außerdem ist die Nutzung natürlich nur für „leichte“ Fälle gedacht. Steuersünder, Mietnomaden oder hartnäckige Schwarzfahrer werden hier untergebracht. Und ihre Gemeinde ist eine große Sorge los.“ „Ich habe trotzdem Bedenken, wie man das auffassen wird.“ Der „Gemeindechef“ schüttelt den Kopf. „Wie schon gesagt, im Moment ist es nicht mehr als ein Gedanke. Es nützt nichts, im Vorfeld die Pferde scheu zu machen. Informieren Sie den Gemeinderat und warten Sie ab, bis endgültig entschieden wird. Erst dann halte ich es für sinnvoll, an die Öffentlichkeit zu treten.“ In diesem Moment schwante Rutter, dass es sich mit ziemlicher Sicherheit schon um eine beschlossene Sache handelte. Mit zugeschnürter Kehle trat er die Heimfahrt an, in der Gewissheit, dass ein Beschluss des Landrates als übergeordneter Stelle für ihn bindend war. Auf sein Veto und das der Gemeinde kam es da nicht an.

      Das Ganze war vor sechs Monaten passiert. Eine Woche später kam die Weisung. Die beschlossene Sache sprach sich, trotz zugesicherter Diskretion, in Windeseile herum und sorgte für die erwarteten Reaktionen im Doppeldorf. Ein anderes Gesprächsthema gab es nicht. Lauthals machten sich die „Dörfler“ Luft, diskutierten in den sogenannten „Tratsch-Zentralen“, dem Postamt, dem Nahkauf, an den Gartenzäunen und in den Gasthäusern. Zahllose Beschwerdebriefe überfluteten den Briefkasten des Rathauses, setzten Bürgermeister und Gemeinderat unter Druck. Schließlich sah man nur noch einen Ausweg und lud die Einwohner zu einem Bürgergespräch in die Giebelseehalle. Schon nach wenigen Minuten war die Lokalität dermaßen überfüllt, dass man aus Sicherheits- gründen den Einlass stoppen musste, was die Brisanz des Themas offenbarte. Natürlich steigerte das „Aussperren“ die emotionale Gemengelage umso mehr. Schon nach wenigen Minuten Diskussion endete der Dialog in wüsten Beschimpfungen. Verhärtete Fronten machten einen sachlichen Diskurs unmöglich. „Die Tanzgruppe der Volkssolidarität musste da raus, weil die sanitären Anlagen angeblich nicht in Ordnung sind, aber für Verbrecher wird alles hergerichtet!“ „Also erstens, haben wir der Tanzgruppe einen neuen Übungsraum zur Verfügung gestellt und …“ Vergeblich wollte sich der Bürgermeister Gehör verschaffen: „…zweitens wird das Haus vom Berliner Senat restauriert, die sind ja schon kräftig dabei und drittens ist es ja nur eine Übergangslösung, zirka für zwei Jahre.“ „Egal wie lange. Berlin soll seinen Dreck behalten, wir brauchen hier keine Verbrecher. Denkt hier mal jemand an unsere Kinder? Nicht weit davon entfernt ist die Badestelle. Willkommen am Kalten Buffet, werte Kinderschänder! Bitte bedient Euch!“, wurde Rutter rüde unterbrochen. „Das ist Nonsens! Das Land hat zugesichert, dass hier nur sogenannte Freigänger untergebracht werden.“ „Das Land hat zugesichert …“ Keine Seite drang mehr mit seinen Argumenten durch. Nach zwei Stunden ergebnisloser Debatte erklärte der Gemeinderat die Sitzung für beendet. Ein deutlich gezeichneter Bürgermeister trat die Heimfahrt an. Da halfen auch die tröstenden Worte seiner Frau nicht. Kopfschüttelnd antwortete er: „Weißt du, bevor ich mich zur Wahl stellte, habe ich mir geschworen, immer für meine Gemeinde einzutreten. Und jetzt? Jetzt stehe ich mit gebundenen Händen da! Und das Schlimmste ist, dass ich die Bedenken sogar verstehen kann.“

      Die Versammlung endete gegen zweiundzwanzig Uhr. Zwei Stunden später erschallte der Pieper. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

      Als Rutter am Brandort eintrifft, wird die Nacht von etlichen rotierenden Blaulichtern erhellt. Einsatzwagen der Freiwilligen Feuerwehren aus Petershagen, Eggersdorf und sogar aus Strausberg sind auf die Altlandsberger Chaussee gefahren, was nicht unüblich ist, da bei Bränden immer alle nahegelegenen Wehren informiert werden. Allerdings ist man gerade damit beschäftigt, die Ausrüstungsgegenstände wieder zusammenzupacken. „Und …?“, erkundigt sich der Bürgermeister bei dem auf ihn zukommenden, mit der Hand abwinkenden Truppführer: „Vergiss es. Alles schon vorbei. Am Haus stand ein Papiercontainer, der gebrannt hat. Glücklicherweise hat ein PKW-Fahrer den hellen Schein von der Straße aus gesehen und hat angerufen, gerade rechtzeitig, bevor die Flammen auf das Gebäude überschlagen konnten. Wahrscheinlich ein Dummejungen- streich. Aber das soll die Kripo klären.“ „Dummejungen- streich? Um diese Uhrzeit?“, spricht

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