Скачать книгу

schon ausgereicht, um eine Beurteilung des Tatbestandes zu treffen. Was aber viel schlimmer wog, waren die Aussagen des jungen Beschuldigten, der sich um Kopf und Kragen redete, sich permanent selbst belastete. Immer wieder hat sich Bayer die Vernehmungsprotokolle durchgelesen und dabei oft mit dem Kopf geschüttelt, sich gefragt, ob der Junge willentlich einen verminderten Intellekt vorzutäuschen versucht. Will dieser so seine Tat vertuschen oder ist er schlichtweg geistig zurückgeblieben? Schließlich befindet er letzteres für die wahrscheinlichste Option. Bayer liest weiter in den Akten. Nach den Schilderungen gibt es eigentlich keine andere Interpretation als die, die Ulf heute auch zur Last gelegt wird. Anscheinend ist das Vater-Mutter-Kind-Spiel irgendwann ausgeufert, hat er versucht, sie zu küssen, sie zu berühren. Er habe, so die Aussage des Jungen, die Kleine gestreichelt, wie es Karl immer mit der Mutter machte. Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun, wehrte sich. Er hielt das weiterhin für das Spiel, umarmte sie. Die Kleine stolperte, fiel auf einen Stein und verletzte sich dabei an der Stirn. Er als Vater wollte helfen, ihr die Stirn abwischen, daher die Blutflecken auf seiner Kleidung. Aber Susanna wollte sich nicht helfen lassen, sprang auf und rannte schreiend weg. Er zögerte einen Moment, dann bekam es mit der Angst zu tun, rannte ihr hinterher, konnte sie aber nicht mehr finden. Das waren zusammengefasst die Aussagen, stückchenweise hervor- gepresst und immer unterbrochen von der Bemerkung: „Ich habe doch nur mit ihr gespielt.“ Noch schlimmer findet der Staatsanwalt die Äußerungen, die er gegenüber den Psychologen gemacht hat, bei denen es um häusliche und schulische Begebenheiten ging. Das Ergebnis: Das Kind verfügt über einen extrem unterentwickelten Intelligenz- quotienten, verglichen mit dem Gleichaltriger. Liegt hier die Ursache für die Tat? Langsam kommt dem Staatsanwalt der Gedanke, dass womöglich der Falsche auf der Anklagebank sitzt, dass hier alle Hebel des sozialistischen Zusammen- lebens versagt haben. Da war die fehlende Geborgenheit eines Elternhauses, der missmutige Stiefvater, der das Kind eher als Störung denn als Glück empfand und dessen Äußerung zur Sache in einem erschütternden Kommentar mündete: „Schließt ihn einfach nur weg! Ist besser für den Jungen“. Eine Mutter, die ausschließlich auf ein ganz anderes Leben spekulierte, in dem der Sohn keinen Platz hatte, die aus falschem Stolz die Warnungen der Pädagogen ignorierte. Sie, die als Erziehungsberechtigte diesem Prozess beiwohnen muss, tut das nur widerwillig. Teilnahmslos sitzt sie da, reagiert auf entsprechende Fragen ausweichend. Ja, sie habe Probleme mit der Erziehung ihres Sohnes. Es hatte immer schon Probleme gegeben. Nein, sie fühle sich nicht verantwortlich für die Geschehnisse. Stattdessen machte sie das Kind dafür verantwortlich, dass ihre Beziehung zu dem Kindsvater in die Brüche ging und die Beziehung zum neuen Freund täglich neu gefährdet war. Eine Mutter, die, statt Geborgenheit und Liebe zu geben, mit einer bedrohlichen Vision des „Kinderknastes“ operierte. Hinzu kam das komplette Versagen der Jugendhilfe, die anscheinend im behördlichen Tiefschlaf Anzeichen aus dem Umfeld und auch Meldungen des Direktors der Polytechnischen Oberschule ignorierte. Eigentlich leisten die Mitarbeiter der Jugendhilfe in der Regel hervorragende Arbeit, das weiß Bayer und er wertschätzt es. Er weiß von unzähligen Begebenheiten, wo die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und den Heranwachsenden vieles zum Guten wendete. Nur in diesem speziellen Fall hat man augenscheinlich versagt. Letzteres, so nimmt sich der Staatsanwalt vor, würde nicht ohne Folgen bleiben.

      Selbstverständlich können die betreffenden Sachbearbeiter nicht für die angeklagte Tat zur Rechenschaft gezogen werden, aber für ihr Nichtstun sind disziplinarische Schritte möglich. Schließlich sind gerade die Kollegen der Jugendfürsorge dafür da, Missstände zu beheben und jungen Menschen den Weg zu sozialistischen Persönlichkeiten zu ebnen. Und genau das ist nicht geschehen! Bayer hat sein Plädoyer gehalten, setzt die Brille ab, die ihn noch bedrohlicher aussehen lässt, setzt sich und klappt den Aktendeckel zu. Was gesagt werden musste, ist gesagt. Den Ausführungen des Verteidigers und der Vertreterin der Jugendhilfe, die Freispruch beantragen und zudem, die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten in Frage stellen - ein Widerspruch in sich, wie er befand - schenkt er wenig Beachtung. Monoton wirkt die Stimme des Vorsitzenden bei der Urteilsverkündung, die der Beklagte nur in Bruchstücken zur Kenntnis nimmt.

      „Opfer nicht gefunden… Ungeachtet dessen, wurde das Ermittlungsverfahren gegen Ulf Blossow fortgeführt und er wurde wegen Mordes – auf der Grundlage von § 112 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik angeklagt. Auf der Grundlage der vorliegenden Ermittlungs- ergebnisse ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass Blossow die schreckliche Tat begangen hat. Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten schließt das Gericht allerdings wegen seiner Unzurechnungs- fähigkeit aus (§ 15 des Strafgesetzbuches der DDR). Dass der Angeklagte wegen dauernder krankhafter Störung der Geistestätigkeit unfähig war, sich „nach den durch die Tat berührten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entscheiden“ (wie es in § 15 Abs. 1 des Strafgesetzbuches der DDR heißt), stützt das psychiatrische Gutachten über den Angeklagten. Die Anordnung zur Erstellung dieses Gutachtens erfolgte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens. Das Gericht ordnet daher die Einweisung des Angeklagten in eine psychiatrische Einrichtung gemäß § 15 Abs. 2 Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik an.

      Bayer hebt kurz den Kopf. Als man den empathiearmen Jungen in Richtung eines kleinen Saalzugangs abführt, mehren sich die Zweifel des Hünen. Was mochte in dessen Psyche jetzt vorgehen? „Kinderknast, Kinderknast!“ Kurz bevor der Justizbeamte mit ihm den Gerichtssaal verlässt, dreht sich das kleine Bündel noch mal um und ruft weinerlich: „Ich hab doch nur mit ihr gespielt!“ Dann fällt die Zugangstür ins Schloss.

      Das war’s! Einen Antrag auf Revision wird es nicht geben. Wer sollte ihn stellen?

       Auch in den Zeitungen wird man davon so gut wie nichts lesen. Schließlich ist man hier nicht darauf erpicht, solche Geschehnisse als Sensationsmeldung zu präsentieren. Ganz im Gegensatz zu der sogenannten „Westpresse“, die ähnliche Meldungen medial bis zum Exzess ausschlachtet. Außerdem steht der Mensch im Mittelpunkt der sozialistischen Gesellschaft! Da aber der Fall bereits wie ein Lauffeuer und unter vorgehaltener Hand sehr viel Aufsehen hervorgerufen hat, wird die ohnehin gleichgeschaltete Presse mit dürftigen, dafür aber maßgeschneiderten Informationen abgespeist. So kommt es dazu, dass nicht einmal die freitags erscheinende „Wochenpost“ berichtet. Deren letzte Seite widmet sich stets ausführlich einem aktuellen Gerichtsprozess. An diesem Tag aber berichtet man lieber über einen Bauarbeiter, der für seinen Privatbau wiederholt zahlreiche Säcke Zement von der Baustelle mitgehen ließ. Diebstahl von Volkseigentum! Abschreckend die Strafe - ein Jahr und sechs Monate.

      § 162 Abs. 1, ZIFF. 4 Strafgesetzbuch der DDR – „Bestrafung von Verbrechen zum Nachteil sozialistischen Eigentums“.

      Auch die Boulevardblätter „Berliner Zeitung“ und „BZ am Abend“ verlieren keine Zeile über den Fall Ulf Blossow. Einzig allein das „Neue Deutschland“ spricht in einer Randnotiz von einer tragischen Tat eines kranken Menschen, dem jetzt durch Ärzte geholfen werden soll. Die Überschrift zu diesem sieben Zeilen kurzen Artikel: „Im Sozialismus kümmern wir uns um jeden – hier lassen wir keinen Menschen im Stich!

       31 JAHRE SPÄTER

       § 306

       (1) Wer fremde Gebäude oder Hütten, Betriebsstätten […] in Brand setzt oder durch eine Brandlegung ganz oder teilweise zerstört, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

       (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

       (Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, Stand 08.05.2015)

      1. Kapitel

      Eggersdorf - bei Berlin, 08.02.2020

      Mit mächtigem Geknarze verschafft sich der Pieper Gehör. Es ist genau zwei Minuten vor Mitternacht, als der kleine schwarze Funkmeldeempfänger die Kommandozentrale und alle angeschlossenen Einsatzkräfte über einen Notfall informiert. Die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr sind unmittelbar in Kenntnis gesetzt, wissen, was in etwa passiert ist und auch wo. Kurz darauf ertönt der dreimalige Sirenenton. Letzter Aufruf! Die Kameraden, die bereits

Скачать книгу