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zuckt er mit den Schultern: „Ich weiß nicht. Wir können ja das tun, was meine Mutter und ihr Freund immer tun.“ Ohne eine Antwort der Kleinen abzuwarten, nimmt er sie in die Arme, streichelt über ihr Gesicht und versucht sie zu küssen. „Halt still!“

      Es ist dunkel geworden, der Vollmond zeigt sich in seiner Ausgehmontur. Wie spät mag es sein? Ein unbestimmtes Angstgefühl wächst in ihm, sein Herz rast. Er ist allein, wieder einmal. Vom wiederholten Rufen wird seine Stimme heiser. Doch sie bleibt verschwunden. Oder ist sie hier ganz in der Nähe, noch irgendwo in dem Dickicht? Wo mag sie sein? Vielleicht geht es ihr genauso wie ihm, vielleicht sucht auch sie nach ihm …? Das hat sie nun davon. Sie haben doch so schön gespielt. Dann ist sie weggelaufen. Einfach so. Tannenzweige schlagen ihm ins Gesicht. Kratzspuren bilden sich auf seiner schweißnassen Haut, die von den Bäumen stammen, die sich ihm in den Weg zu stellen scheinen. Stundenlang hat er das Waldgebiet abgesucht, ist bis zur Chaussee gerannt, die beide Waldhälften voneinander trennt. Immer wieder hat er ihren Namen gerufen. Sein Körper bemerkt den Schmerz nicht. Wo ist sie nur? Er hat nur einen Wunsch: Sie schnell finden! Er ruft wieder ihren Namen, doch sie antwortet nicht. Da - hat er nicht ein Knacken gehört …? Ruckartig dreht er seinen Kopf in die Richtung des Geräusches. Versteckt sie sich vor ihm, ist das ihre Endversion des Spiels? Enttäuscht stellt er fest, dass es nur das Knistern der Tannen im lauen Wind des Spätsommers ist. Erst jetzt nimmt er den eigenwilligen Geruch von nassem Moos wahr. Die Mischung aus Modder und irgendwie seltsamer Frische lenkt ihn ab. Und bringt neue Gedanken ins Spiel. Er muss nach Hause! Es ist schon dunkel. Sicherlich wird es Ärger geben. Die Mutter und Karl wollen heute Abend tanzen gehen. Und was für einen Ärger es geben wird! Verdammt noch mal, wo steckt sie? „Susanna …?“ Doch die Kleine antwortet nicht. Vielleicht ist sie schon längst wieder bei ihren Eltern, hat sich nur einen Spaß mit ihm gemacht. Ulf beschließt, nicht mehr weiter zu suchen. Der schnellste Weg hin zu Karls Datsche ist immer an der Chaussee entlang. Es ist unheimlich, so ganz im Düsteren. Wenn nicht dieser Vollmond wenigstens etwas den Trampelpfad beleuchten würde, wäre die Nacht pechschwarz. Die Lichtkegel, der um diese Zeit wenigen vorbeifahrenden Autos verdrängen nur sekundenweise die Angst vor der Dunkelheit.

      Dann wird die Nacht blau. Das fahle Mondlicht taucht ein in ein Wolkenbett. Rundumleuchten grünweißer Wagen mit der Aufschrift: „Volkspolizei“ werfen ein wenig beruhigendes Bild. Erschrocken bleibt Ulf mit gehörigem Respektabstand stehen. Hat die Mutter etwa die Polizei gerufen? Als er noch klein und unartig war, hat sie oft damit gedroht. Er hat dann immer den Kopf eingezogen und ihren Anweisungen bedingungslos Folge geleistet, um nicht in den „Kinderknast“ zu kommen, wo es laut der Mutter kalt und dunkel ist. Gewiss, später hat er nicht mehr so recht an ihre Ankündigungen geglaubt, aber heute? Jetzt…? Habe ich etwas Schlimmes getan? Hätte ich nicht mit Susanna spielen sollen? Ulf kommt nicht mehr dazu, seinen Gedanken zu beenden. Denn plötzlich ruft einer der Jungs, der noch vorhin auf der Schaukel saß, aufgeregt in seine Richtung deutend: „Da, da ist er! Der war es!“ Das ist der Punkt, an dem Ulf beschließt, das Weite zu suchen. Auf gar keinen Fall „Kinderknast“! Doch Weglaufen klappt nicht. Nach nur wenigen Metern hat ihn einer der durchtrainierten Volkspolzisten eingeholt, am Schlafittchen gepackt und in Richtung der Funkwagen und einer stattlichen Anzahl Schaulustiger gedreht. „Halt, Bürschchen! Erzähl uns mal, wo die kleine Susanna ist?“ Zitternd sieht Ulf dem Uniformierten, der ihn mindestens um drei Kopfgrößen überragt, ins Gesicht. Es wirkt entschlossen, ja bedrohlich. Hilflos stammelt er: „Ich, ich hab doch nur mit ihr gespielt.“ „Was habt ihr gespielt?“ „Vater-Mutter-Kind. Susanna wollte das doch!“ Der Polizist zieht leicht die Stirnfalten in die Höhe: „Und wo habt ihr das gespielt?“ Ulf deutet mit der Hand in Richtung Waldinneres: „Da!“ Weitere Erklärungen ersticken im Geschrei von Frau Mistroi, die hastig auf den Jungen losstürmt: „Wo ist meine Tochter?“ Schützend stellt sich der Volkspolizist vor das Kind, hebt warnend den rechten Arm als Geste, bitte zum Stehen zu kommen: „Halt, werte Bürgerin! So kommen wir nicht weiter. Sämtliche in der Kürze der Zeit aufzutreibenden Genossen durchkämmen gerade das Gelände. Wir werden Susanna finden. Ganz bestimmt. Bitte beruhigen Sie sich!“ Dann gibt er einem seiner Kollegen ein Handzeichen, sich um die verzweifelte Mutter zu kümmern, während er sich wieder dem Kind zuwendet: „So, nun sag mir mal, wie du heißt und wo du wohnst!“ Doch statt der erwarteten Antwort bekommt er nur ein langgezogenes Schluchzen zu hören. Tränen rinnen über das Gesicht des kleinen Kerls. Kinderknast! „Nun sag schon!“, fordert der Beamte noch einmal und stupst den Jungen an der Schulter. Keine Antwort. „Herr Polizist, ich glaube der wohnt da hinten, bei den Gänikes, ganz hinten. Ich glaube, Parzelle drei“, mischt sich der „Schaukeljunge“ erneut ein. „Stimmt das?“ Wieder bekommt der Volkspolizist keine Antwort. „Also gut, dann werden wir mal nachschauen“. Er ergreift Ulfs Schulter und schiebt ihn vor sich her.

      Auch nach mehrmaligem Klopfen öffnet niemand die Verandatür. „Nun rede schon! Wo sind deine Eltern?“ „Ich, ich, ich glaube, die sind tanzen gegangen“, stottert Ulf unter Tränen. „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Hast Du einen Schlüssel?“ „Nein. Ich sollte ja vor dem Dunkelwerden wieder zurück sein.“ „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, wiederholt der Volkspolizist.

      Berlin, Hauptstadt der DDR, Littenstraße, Gerichtsgebäude, Mittwoch, 01.Februar 1989.

       10.30 Uhr

      Der Genosse Staatsanwalt Klaus Bayer überragt sie alle. Das hat zum einen mit seinem Beruf als Staatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik zu tun. Seinen Job hat er stets als Berufung angesehen. Zum anderen übertrifft er fast jeden seiner Zeitgenossen auf Grund seiner Körpergröße. Schon allein das selbstsichere Auftreten des fast zwei Meter großen Mannes ist dementsprechend furchteinflößend. Gerade heute kommt das besonders zur Geltung, sind außer ihm nur noch wenige Personen im Sitzungssaal anwesend, was auch nicht verwundert. Verfahren gegen Jugendliche werden stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Und gerade bei dem vorliegenden Tatbestand gilt die Devise, dass man die Bevölkerung nicht mit spektakulären Verbrechen verunsichern will. Bayer belächelt diese Begründung. Für ihn ist das reinster Quatsch, er hat sich dem aber zu fügen. Er vertritt das Recht, hat dafür zu sorgen, dass die Gesetze der sozialistischen Republik durchgesetzt werden. Und das tut er, peinlichst genau nach der Gesetzeslage. Nun gibt es natürlich hin und wieder Fragen der Auslegung, unterlegt von persönlichen Gefühlen und Auffassungen, doch letztendlich gilt nur das Strafgesetzbuch der DDR. Aber auch Bayer ist ein Bürger dieses Staates, sieht, was gerade in dieser Republik passiert, nimmt das Lodern einer unsichtbaren Flamme zur Kenntnis und macht sich seine Gedanken. Derzeit flattern fast täglich Zweihundert- dreizehner auf seinen Tisch. §213 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik befasst sich mit der Thematik „Ungesetzlicher Grenzübertritt“. Über Ungarn flüchten viele Bürger in den Westen. Na ja, immer dasselbe! Aber die Verfügung zur Einleitung des Ermittlungs- verfahrens kostet Zeit. Der „Täter“ würde man sowieso nicht habhaft werden können. Und wenn dann doch, kommt es zu Prozessen, bei denen das Urteil bereits feststeht, da die „Beweisführung“ ziemlich eindeutig ist.

      Die Frage, ob das menschlich richtig oder falsch ist, hat er sich nicht zu stellen, tut es aber im Stillen dennoch. Bei der heutigen Verhandlung nagen starke Zweifel in ihm. Sind alle Ermittlungsansätze ausgeschöpft, alle Spuren und Hinweise sorgsam bearbeitet worden? Der Angeklagte, ein junger Mensch, ist ja fast noch ein Kind! Ja, die Beweislage ist ziemlich klar, fußt letztlich aber auf Indizien. Allerdings, das Opfer hat man nie gefunden. Hundertschaften der Volkspolizei, unterstützt von einer ganzen Kompanie der in der Nähe stationierten Einheit der Nationalen Volksarmee, haben das Areal immer wieder Zentimeter für Zentimeter abgesucht, aber außer einer Puppe nichts gefunden. Welche Schwankungen zwischen Hoffnung und Verzweiflung müssen die jungen Eltern durchlebt haben? Trauer und Ungewissheit vermischten sich mit Ärger und Unverständnis. Der Vorfall wurde, was man ja um alles in der Welt vermeiden wollte, öffentlich bekannt. Tratsch ist menschlich und scheint unvermeidbar. Schließlich zog man ein weiteres Register. Die geheime, offiziell überhaupt nichtexistierende Kripoabteilung der Staatssicherheit übernahm den Fall. Jene speziell für heikle Fälle geschulte, mit besonders guter Technik aus dem westlichen Ausland ausgestattete Truppe, sollte ermitteln. Aber auch die „Supergenossen“ konnten keinen Erfolg vermelden, Susanna blieb verschwunden. Alles haftet an diesem

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