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      Um sicher Recht zu tun, braucht man sehr wenig vom Recht zu wissen. Allein um sicher Unrecht zu tun, muss man die Rechte studiert haben.

      Georg Christoph Lichtenberg

       § 112

       Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft.

       § 15

       (1) Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist ausgeschlossen, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen zeitweiliger oder dauernder krankhafter Störung der Geistesfähigkeit oder wegen Bewusstseinsstörungen unfähig ist, sich nach den durch die Tat berührten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entscheiden.

       (2) Das Gericht kann die Einweisung in psychiatrische Einrichtungen nach den dafür geltenden gesetzlichen Bestimmungen anordnen.

       § 213

       (1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.

       (Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1984)

      Prolog

      Sonnabend, den 10. September 1988

      Wernsdorf -- 100 Meter vor der Bezirksgrenze zum Bezirk Frankfurt/Oder.

      Sie haben den S-Bahnhof Berlin-Grünau seitlich hinter sich gelassen und fahren, entlang der Feuerwache, in Richtung Berlin-Schmöckwitz ihrem Ziel entgegen. Karl drückt seinen Fuß auf das Gaspedal. Die Beschleunigung ist derart stark, dass der Motor des Wagens vehement aufheult, der Innenraum vibriert, und der volksmündliche Begriff „Rennpappe“ körperlich zu fühlen ist. Es scheint, als wollen die Insassen mit aller Macht dem hektischen Großstadtalltag entfliehen, mit Düsenantrieb in das wohlverdiente Wochenende auf der kleinen Datscha am Krossinsee starten. Doch ist die Vorfreude nicht der eigentliche Grund für Karls Hektik. Er ist schlicht und einfach sauer, versucht seine Aufgeregtheit mit Aktionismus zu überspielen. Folgerichtig kommt dann auch die Ermahnung Ruths, die mit einem vollen, fast schon überquellenden Einkaufskorb zwischen den Beinen auf dem Beifahrersitz ihre Füße derart in den Boden drückt, als wolle sie unbedingt an dieser Stelle das Bodenblech durchstoßen. „Rase doch nicht so!“, geht sie ihn an. „Ich rase nicht! Ich schlafe aber auch nicht ein“, kommt es genervt zurück. Er schaut in den Rückspiegel. Sein Blick richtet sich auf den Jungen, der, eingeklemmt zwischen den unverzichtbaren Wochenendutensilien, schweigend aus dem Fenster starrt. Wenn diese kleine Missgeburt nicht wäre, hätten wir gestern schon fahren können, würden jetzt bereits faul in der Sonne liegen oder mit dem Boot auf dem Wasser treiben, denkt Karl. Ja, wenn…

      Die „Missgeburt“ hörte auf den Namen Ulf. Mit seinen fünfzehn Jahren und der Körpergröße von gerade mal einem Meter fünfundsechzig war er zu klein geraten und hatte obendrein auch noch rote Haare. Ein Attribut, das er von seinem leiblichen Vater geerbt hatte, der aber schon kurz nach der Geburt seines Sohnes das Weite gesucht hatte. Der hatte schon gewusst, warum! Karl Scheuer selbst war Anfang vierzig, groß und von kräftiger Statur. Wenn er seinen Oberkörper entblößte und mit seinen Oberarm- muskeln spielte, hätte er durchaus als Leistungssportler durchgehen können. Tatsächlich resultierte seine Kraft aus seinem Job bei der Müllabfuhr. Das ständige Bewegen der Tonnen forderte zwar seinen arbeitstäglichen Tribut, war aber anderseits auch eine Art Training. Eine harte Arbeit, die dafür jedoch außergewöhnlich gut bezahlt wurde. Als Zubrot entwickelte sich ein florierender Handel mit allerlei Gegenständen, die das Müll Team von den früheren Besitzern zur Entsorgung bekam. Somit war es auch nicht verwunderlich, dass sich Scheuer ein gehobenes „DDR-Leben“ leisten konnte. Zu den Annehmlichkeiten zählten unter anderem ein gepachtetes Wassergrundstück, ein Auto und ein größeres Motorkajütboot. Das einzige, was Karl fehlte, war eine Familie, mit der er seine „Errungenschaften“ hätte teilen können. Es hatte da mal eine große Liebe gegeben, aber das war sehr lange her und auch wohl nicht das Richtige gewesen. So blieb er das, was er war - ein eigentlich begehrenswerter Junggeselle, der Partys mied, dafür die Ruhe auf dem Krossinsee umso mehr schätzte. Sein Leben hatte sich geändert, als zwei Jahre zuvor die dreiunddreißigjährige Ruth Blossow als Disponentin in seinem Betrieb angefangen und ihm, dem Brigadier der Fahrer, die Tourenpläne ausgehändigt hatte. Eine Schönheit, mit schulterlangen blonden Haaren, die sein Lächeln charmant erwiderte und über seine witzige Art zu lachen vermochte. Schließlich, nach vielen vergeblichen Versuchen der Annäherung, hatte sie eingewilligt, ihn auf seinen Wochenendfahrten zu begleiten. Bereits im Vorfeld hatte er in Erfahrung gebracht, dass sie geschieden und alleinerziehend war. Nun hätte Karl ja nichts gegen einen Sohn einzuwenden gehabt, ganz im Gegenteil. Angelausflüge „unter Männern“ sind ja was Großartiges. Aber der? Nicht unbedingt das Aussehen dieses Halbwüchsigen störte, sondern dessen wundersames Wesen. 'Das ist kein heranwachsender Mann, noch nicht mal ein richtiger Junge', dachte er. 'Dieses Etwas ist einfach nur peinlich. Eine Lusche, schwächlich, spielt in seinem Alter noch mit einem Teddy und verfügt über den Intelligenzquotienten eines Sechsjährigen. Kein Wunder, dass Gleichaltrige ihn ausgrenzen, er in der Schule gehänselt wird.'

      Das Direktorium der Polytechnischen Oberschule hatte bereits den Vorschlag unterbreitet, ihn auf eine spezielle Schule für Lernschwache zu schicken. Doch Ruth hatte abgelehnt. Ihre Begründung war, dass sie nichts von einer „Blödenschule“ hielt. Der Junge würde dann noch mehr geistig abfallen. In Wirklichkeit war es ihr aber offensichtlich peinlich, zugeben zu müssen, dass Ulf eine Sonderschule besuchen würde. Ulf, Ulfi, was ist das schon allein für ein bescheuerter Name? Ulfi! Kein Wunder, dass man sich auf dem Schulhof jeglichen Spaß mit ihm macht. Mit einem, der seine Schultasche, statt wie seine Klassenkameraden in der Hand, immer noch auf den Rücken schnallt, kann man es ja machen... Er sieht ja aus wie ein Erstklässler!

      Für Karl gibt es keine andere Erklärung. Der Junge ist gestört, auch wenn Ruth das teilweise anders sieht. Bestes Beispiel für diese Annahme ist ein Vorfall, der gerade mal zwei Stunden zurückliegt. Eigentlich hat Karl das Wochenende perfekt durchgeplant, ist, während Ruth noch die Sachen zusammengepackt hat, runter in den Intershop gegangen, um seine heißbegehrten Forumschecks gegen eine Flasche feinsten Dujardin einzutauschen. Was kann es Schöneres geben, als bei einem schönen Weinbrand Arm in Arm mit Ruth am Ufer des Sees zu sitzen und den Sternenhimmel zu betrachten? Vorher ist nur noch das Kind von der Schule abzuholen. Und dann raus, ab in die Natur. Gott sei Dank geht der Unterricht sonnabends nur bis halb zwölf. Karl rechnet. Wenn das Gör pünktlich rauskommt, kann man noch vor dem Kreuzen der Zeiger losfahren, und mit einer Portion Glück, bei wenig Verkehr, eine gute Stunde später auf dem Grundstück sein.

      Voller Tatendrang steuert er sein Fahrzeug in die Bergstraße. Noch bevor er die Eingangstür der 9. Polytechnischen Oberschule erreicht, sieht er eine Ansammlung von Schülern, die etwas abseits lärmend im Kreis stehen. Karl schwant Böses und er täuscht sich nicht. Ein Mitschüler hat den Henkel von Ulfs Mappe in der Hand und schleudert so sein Opfer im Kreis herum, während die anderen dem Rotschopf ihr „Feuermelder, Feuermelder…“ entgegen kreischen. Wütend springt Karl aus dem Wagen: „Hey! Sagt mal, spinnt ihr …?“ Seine energische, tiefe Stimme treibt die Meute auseinander. In der Mitte bleibt ein kleiner, sichtlich wankender Junge zurück, der mit zerzausten roten Haaren und verheultem Gesicht in Karls Richtung blickt. Wütend schnappt dieser nach Luft, dann herrscht er den Kleinen an: „Du bist doch selbst schuld. Warum wehrst du dich nicht?“ „Aber …, aber …, die sind doch stärker“, schluchzt das Kind. „Papperlapapp. So ein Blödsinn!“ Er packt den Jungen an der Schulter und schiebt ihn unsanft in Richtung Auto: „Los, steig endlich ein!“

       Nun sitzt dieser Schwächling im Fond, träumt aus dem Fenster und hält seinen Stoffteddy im Arm. Mit fünfzehn! Fehlt

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