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von „Kommunismus“ hatte, kannte ich schon den „Antikommunismus“. Denn ich hatte Onkel Karl von Anfang an als einen fanatischen Antikommunisten kennen gelernt – wahrscheinlich entlud sich hierin sein schlechtes Gewissen, wenn er denn überhaupt noch ein Gespür dafür besaß, was er den Menschen Russlands angetan hatte.

      Eine damals typische Erkrankung der Frontsoldaten rettete meinem Vater im Krieg das Leben. Er er- krankte 1943 an Ruhr und wurde von der Ostfront abgezogen. Nach seiner Genesung kam er nach Italien, wo er 1945 von den Amerikanern gefangen genommen wurde. Das war reine Glückssache. Als er 1948 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, waren seine Kinder Ursula und Günter bereits sechs und fünf Jahre alt.

      Hanna hatte keine Geschwister. Als Einzelkind ge- noss sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Eltern, was bedeutete, dass ihre schulischen Leistungen super gut waren. Meine hingegen pendelten in der Gymnasialzeit um den mittleren Level herum. Ich war auf dem naturwissenschaftlichen Zweig, der mir sehr lag. Mathe, Chemie, Physik, Bio – das waren „meine“ Fächer, sie waren mir sehr wichtig und ich bemühte mich redlich. Meine Lieblingsfächer aber waren Geschichte und Sozialkunde. Religion fand ich kotzlangweilig. Erst in der letzten Klasse wurde aus dem religiösen Gebrabbel mehr ein pseudophilosophischer Ethikunterricht. Das war halbwegs interessant. Hanna besuchte den sprachlichen Zweig ihres Mädchengymnasiums. Mitte der Sechziger Jahre wurden die Geschlechter noch getrennt unterrichtet.

      *

      Die sexuelle Revolution von Hanna und mir fand in den folgenden drei Sommerwochen des Jahres 1966 nicht so recht statt. Wir fabrizierten eher kleine Reförmchen. Wir dümpelten liebestechnisch mit Dingen dahin, die wir uns in BRAVO und TWEN oder – noch viel besser – in irgendwelchen studentischen Aufklärungsbroschüren angelesen hatten. Wir lernten neue Fremdwörter kennen. Mit Fellatio versuchte Hanna an mir die hohe Kunst vom Lecken, Saugen und Lutschen. Mit Cunnilingus revanchierte ich mich bei ihr für den Blow-Job. Das Petting-Programm beschäftigte uns in ziemlich gleichberechtigter Weise. Schließlich hatte die BRAVO und sein Dr. Sommer-Team sachkundig aufgeklärt, was Petting bedeutet, nämlich knutschen, fummeln, streicheln, zärtlich beißen, kurzum: heiß machen. So vergingen die hochsommerlichen Wochen.

      In einer jener Wochen, am Abend der dritten miss- glückten Entjungferung und zehn Tage vor unserer Trennung, erzählten Hanna und ich uns wieder einmal unsere Familiengeschichten. Und wieder fragten wir uns, wie unsere Väter und Mütter in der Nazizeit und während des Krieges wohl gewesen waren. Wir fragten, warum keiner dieser Männer und Frauen, die wir als Eltern und Großeltern zutiefst zu kennen schienen und die wir als solche auch bei unseren Schulkameraden kennen lernten, warum keiner von ihnen aufgemuckt hatte. Niemand außer einer Handvoll Verschwörer hatte versucht, dem Nazipack Einhalt zu gebieten. Was für ein Volk waren wir denn?! Hochnäsige Herrenmenschen und doch nur hochfeige? Großkotzig und doch nur kleinkarierte Duckmäuser?

      Noch empfanden wir Jugendliche unsere Alten nicht als das, was sie zu diesem Zeitpunkt aus tiefenpsychologischer Sicht wohl waren – eine gebrochene Generation, ein gebrochenes Volk. Weit über fünf Millionen deutsche Männer kamen aus dem Wahnsinnskrieg nicht mehr lebend heim, in den eine braun-konservative Allianz unser Land gestürzt hatte. Die, die es nachhause schafften, mussten jetzt die Ärmel hochkrempeln und aufbauen.

      Die Frauen leisteten dabei in den ersten Nachkriegsjahren den Hauptanteil an dieser Schwerstarbeit. Es sollte später ein schwerwiegendes Argument sein, um sich auf dem Gebiet der Erwerbsarbeit an die gleichen Rechte, wie sie die Männer besaßen, heranzupirschen. Das war eine mühselige, bis heute andauernde Arbeit. Oder anders gesagt: Es war eine politische Schwerstarbeit, behindert von braun-schwarz durchsetz- ten Strukturen und ihren Repräsentanten. Sie setzten den Erhalt männlicher Privilegien irrtümlich mit der Sicherung der kapitalistischen Wirtschaft gleich.

      Aufstehen! In die Hände spucken! Aufräumen und aufbauen! Aus Ruinen auferstehen! So lauteten die Schlagworte jener Zeit. Ein historisch unweigerliches Folge-Produkt des Nazi-Desasters war übrigens die antifaschistische Nachkriegs-Ordnung im Osten, die DDR.

      „Wer hat denn die DDR aufgebaut“, fragte ich Klint, einen meiner älteren Gammlerfreunde, der fast jeden Tag am Marshallbrunnen auf seiner Klampfe spielte und auf alles eine Antwort zu wissen schien.

      „Sie wurde von Männern und Frauen gegründet, die unter den IG Farben, unter Krupp und Hitler im Knast, in Folterkellern, in KZ’s oder im Exil saßen und das Glück hatten zu überleben.“

      Noch wusste ich zu wenig. Mit sechzehn Jahren war mir die Ostzone – oder nur »Zone«, wie sie verkürzt von den Westzonlern genannt wurde – noch ein fernes, fremdes und völlig unverständliches Ausland.

      Mein Vater war im Dritten Reich trotz seiner sozi- aldemokratischen Einstellung kein wirklicher Wider- ständler gewesen. Er habe zwar „gemuckt“ sagte er, schließlich jedoch „widerwillig mitgemacht, weil alle mitmachten.“ Ich glaube, dass er ursprünglich ver- dammt antisozialistisch war, wahrscheinlich ein „rech- ter“ Sozi. Später zeigte er allerdings zunehmend Interes- se für meine bohrenden Fragen und wurde lockerer.

      Allerdings interessierte ihn die DDR bis zum Jahr 1966 keinen Deut. Denn „da drüben“ herrschte „unmenschlicher Kommunismus und Stalinismus“ und überhaupt war das nix Deutsches „da drüben“. Und mich interessierte dieses andere Deutschland bis dahin nur mäßig. Ich kannte „die Zone“, dieses „da drüben“, lediglich über die märchenhaft-grauenvollen Erzählungen bei den Treffen unserer Jungen Union. Ich glaubte alles. Ohne mit der Wimper zu zucken. Völlig ohne zu hinterfragen.

      *

      Mit vierzehn war ich Mitglied geworden, schwenkte bei jedem Anlass die Deutschlandfahne und spielte auf meinem gottverdammten Akkordeon ununterbrochen das Deutschlandlied. Sieben Jahre lang hatten mich meine Eltern im moralischen Sinne gezwungen, dieses mir damals fremde, verhasste Instrument zu spielen. Zur christdemokratischen JU war ich freiwillig gegangen, weil sie die Einzigen in Bornheim waren, mit denen man in jungen Jahren „philosophieren“ konnte. Damals verwechselte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn philosophieren mit politisieren. Wie schnöde und einseitig das JU-Gesülze war, konnte ich noch nicht erkennen. Zeitgleich war ich bei den evangelischen Heliand-Pfadfindern engagiert.

      Der „Heliand“, das war unser Heiland. Hin und wieder kam hier das Akkordeon zum Einsatz. Bei den Pfadis war ich bereits seit meinem zehnten Lebensjahr und hatte dem Heiland bei paramilitärischen Morgenappellen für immer und ewig die Gefolgschaft geschworen. Wir lernten stramm zu stehen, uns an den Schuhspitzen auszurichten, den Führer mit Zack zu grüßen und unserem Vorbild, Baden-Powell, der im kolonialistischen südafrikanischen Burenkrieg kleine Jungs als Krieger eingesetzt hatte, nachzueifern.

      Auch wir sollten kleine Krieger sein, Krieger Gottes, die Truppe des Heilands, natürlich naturverbunden. Das hieß auch, auf dem Boden robbend den Gegner unbemerkt von hinten anzupirschen. Man lehrte uns ein Leben mit schlichten Ansprüchen, mit schlichtem Untertanengeist und wenig Fragen auf den Lippen. Das entsprach meiner bisherigen elterlichen, calvinistisch-puritanischen Erziehung. Das Beste bei unseren wöchentlichen Pfadi-Treffen waren sportliche Wettkämpfe wie Speerkämpfe, Waldläufe und Kletter- und Anseilwettbewerbe. Einhalten von Regeln, Disziplin, Gehorsam und Drill, stramme mehrstündige Wanderungen mit Vollgepäck gehörten zum Pfadfinderalltag – eine vorweggenommene Bundeswehrzeit.

      1965 war ich schließlich aus der Jungen Union und bei den Pfadis ausgetreten. Ich war kritisch geworden. Und das lag an unserem Pfadfinderführer, Helmut, dem wir be- sonders vertrauten, auf den wir besonders stolz waren und den wir wegen seiner Herzlichkeit und menschlichen Wärme außerordentlich schätzten. Er teilte unserer Sippe eines Tages bei einem Sippentreffen mit, dass er das autoritäre Pfadi-Theater nicht mehr mitmache. Er redete kurz und bündig, aber sehr überzeugend. Helmut wollte mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung in unser Pfadfinder-Dasein einführen. Die alten Pfadi-Haudegen waren dagegen. Es gab Auseinandersetzungen in Form von offenen Diskussionen, die zuvor undenkbar gewe- sen waren. Ab da verfielen unsere „Sitten“.

      Andere Sitten hingegen verfielen nicht so einfach. Vater regte sich

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