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Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн.Название Sexy Zeiten - 1968 etc.
Год выпуска 0
isbn 9783742739810
Автор произведения Stefan Koenig
Жанр Языкознание
Серия Zeitreise-Roman
Издательство Bookwire
Es ging dann noch darum, ob sie sich heimlich ver- loben sollten und ob es nötig sei, dass ihr Freund bei ihrem Vater um die Hand seiner Tochter anhielt. „Diese verstaubten Rituale sollten langsam der Geschichte angehören“, sagte die Mittzwanzigerin. Ob Mitte Zwanzig oder gar schon Dreißig – so schrecklich alt wollten wir Jungen nicht unbedingt werden. Erst viel später erkannten wir, dass Teile der älteren Generationen genau wie wir tickten und ebenso für etwas ganz und gar Neues eintraten.
(Zwei Jahre später begegnete ich dem „Misch-Ehepärchen“ an einem herbstlichen Feiertag auf der Zeil. Beide waren glücklich und schoben einen Kinderwagen vor sich her. Der Schachzug war geglückt. Sie hatten den Heiratssegen ihrer popligen Verwandtschaft erhalten. Das waren wahrhaft schwarz-braune Zeiten, gelebter Konservatismus, den wir Jugendlichen aufbrechen mussten!)
Dann erzählte ich an jenem Abend im Club, wie umständlich es war, wenn Hanna und ich uns einmal über Nacht treffen wollten. Nun hagelte es Tipps. Wir erfuhren von leerstehenden Hütten, tollen Ecken und Verstecken am Mainufer und in Frankfurts Parks.
Irgendwann am Abend ging es um Nacktheit, Scham, Hygiene und andere Dinge, die damals tatsächlich noch der Rede wert waren. Und das, obwohl hier keine Pubertierenden, sondern Studentinnen, Studenten, Lehrlinge, junge Fabrikarbeiterinnen und Jungarbeiter, Gammler, Provos, Beatniks, Mitglieder der Naturfreundjugend, der Jungsozialisten oder Jungdemokraten diskutierten. Sie alle waren zwischen achtzehn und sechsundzwanzig Jahre alt. Von den älteren Anwälten und Journalisten, die hier ihre Erfahrungen austauschten, mal abgesehen. Sie saßen bei Else am Holz-Tresen, vor sich den billigen Lambrusco oder den original italienischen Chianti, und scherten sich keinen Deut um unsere lächerliche Hygiene-Diskussion.
Zu dieser Zeit war von Amerika bereits die Duftspray-Invasion über das Land gezogen und hatte die deutsche Familie mit Deo-Rollern überrollt. Die deutsche „Bac“-Familie bekämpfte in einer Art Reinlichkeitswahn jeglichen Geruch.
Amendt erklärte uns an jenem Abend, welche Auswirkungen dies habe: „Ob wir die Gerüche unseres Körpers mit Wohlbehagen empfinden oder voller Ekel, hängt sehr vom Erziehungsstil des Elternhauses ab. Ekel wird uns anerzogen genauso wie das sogenannte Schamgefühl. Wo der General kommandiert und Ajax wirbelt, wo Bac duftet und Lenor das Gewissen bearbeitet, haben Kinder und Jugendliche wenig Chancen, sich mit ihren Gerüchen wohlzufühlen. Alles ist nur bäh und ekelig.“
Ich saß neben dem Chef-Provo. Er ließ sich „Spieler“ nennen, und er klatschte jetzt frenetisch und jauchzte. „Spieler“ war der Spitzname unseres „antiautoritären Anführers“, des gammligen Frankfurter Oberprovos. Er stammte aus Nürnberg, war schon fünfundzwanzig Jahre alt, für uns also wirklich alt, klein gebaut mit kantigem Gesicht, relativ kurzen zotteligen Haaren und von Beruf Koch. Und ihn zeichnete ein besonderer Gestank aus. Ich glaube, er hat sich aus Prinzip nie gewaschen. An jenem Abend roch er derart penetrant, dass Hanna davon übel wurde. In der Pause gingen wir zum Luft holen schleunigst nach draußen, und sie flüsterte mir ins Ohr, dass sie tausend Mal lieber den Bac-Duft ertrage als den fürchterlichen Gestank des Frankfurter Chef-Provos.
*
Am Samstag fuhren Hanna und ich mit dem Bus an die Kiesgrube Mörfelden zum Baden. Dort trafen sich allerdings nicht die Stinkis aus unserer Marshallbrunnen-Clique, die ein Bad dringend nötig gehabt hätten. Es waren hauptsächlich unsere Schulfreunde und Freundinnen, so zwischen sechs und zwölf Jugendliche in unserem Alter, maximal achtzehn Jahre alt. Pit war dabei und Gaby, auch Hörbi, den ich noch aus der Realschule kannte und der im Gegensatz zu uns anderen schon stramm politisch war. Sein Thema war der „Antifaschismus“. Später half er mir bei meinen Schulreferaten. Irgendwann wurde dies sein Studienfach im Rahmen der Politikwissenschaft. Er studierte noch Pädagogik. Dann wurde er mein Mitarbeiter in einer Umweltbildungseinrichtung. Und sehr viel später wurde er tatsächlich vielgefragter wissenschaftlicher Experte in verschieden Staatsdiensten in Sachen Antifaschismus.
Wir saßen an der Kiesgrube bis spätabends, zündeten ein Lagerfeuer an und tranken Bier. Das war der Ursprung meines Spitznamens, den ich über Jahre behielt. Denn ich konnte dem bitteren Bier nichts abgewinnen und bevorzugte Karamalz. Das war ein kalorienreiches, nichtalkoholisches Malzbier, das mir mein sportlicher Vater empfohlen hatte, das „inoffizielle Getränk der Helden“, wie er meinte. Seitdem hieß ich Kara.
Mein Vater mied Alkohol, bis auf den Apfelwein. Davon trank er schon mal ein Glas zum Abendbrot. Man konnte ihn auch getrost als Nichtraucher bezeichnen, denn er rauchte nur sonntags eine einzige Zigarette, Reval oder Reyno mit Menthol-Geschmack. Er hatte mir das Rauchen nicht verboten. Im Gegenteil, schon sehr früh schenkte er mir großkalibrige Zigarren und meinte, die hätten so einen tollen Duft. Ich roch sie gerne und sammelte sie seit meinem dreizehnten Lebensjahr. Natürlich hatte ich sie auch mal geraucht – und das ging ganz schön in die Hose. Auch Bier mit Schuss hatte ich damals in frühen Jahren von meinem Vater erlaubt bekommen, das war ein genialer pädagogischer Schuss ins Schwarze. Ich fühlte mich zwei Tage elend.
Die Folge mit sechzehn Jahren war, dass ich nun hier in meiner Clique am Badesee der einzige Nichtraucher und Nichttrinker von Alkoholika war. Das war eine verdammt blöde Außenseiterrolle. Aber da halfen mir die Weiber. „Weiber“ sagten wir Jungs damals tatsächlich noch, jedenfalls hin und wieder. Die Mädels erklärten mich zum standhaften Helden, da mich meine männlichen Herausforderer selbst nach wochenlanger Bearbeitung nicht dazu bewegen konnten, Zigaretten und das echte Männerbier mit ihnen zu teilen. Ich stand es durch. Es half mir später, in und vor Gruppen meinen Standpunkt standhaft zu verteidigen.
Wir paddelten auf zusammengebundenen Holzflößen und – ganz modern – auf Luftmatratzen über das stille, klare Wasser. Dass es stark kerosinbelastet war, erfuhren wir erst zwei Jahre später. Damals ließen die amerikanischen Militärflugzeuge und die zivilen Flieger über Mörfelden massenweise ihren Treibstoff ab, um gefahrloser und leichter auf dem Rhein-Main-Flugplatz landen zu können. Übrigens hieß der Flugplatz tatsächlich »Flughafen« und noch lange nicht so wie heute: »Rhein-Main-Airport«. Die Amerikanisierung der deutschen Sprache steckte noch in den Kinderschuhen.
Am Abend sammelten wir Holz für ein Lagerfeuer und grillten. Die meisten Jungs und auch Mädels tranken Bier. Es war ein Wunder, dass manche trotz ihres halb besoffenen Zustandes in dieser spätsommerlichen Hitze wieder lebend aus dem Wasser stiegen, in das sie sich zuvor Hals über Kopf gestürzt hatten. Ohne langsame Abkühlung, wie es uns die Eltern immer wieder einbläuten. Aus Pits voluminösem Radiorekorder – Ghettoblaster lagen noch für eineinhalb Jahrzehnte in der unvorhersehbaren Zukunft – hörten wir auf Audiokassetten Tonbandmitschnitte von Konzerten der Beatles, von The Troggs oder von The Mamas and The Papas: „Paperback Writer“, „With a girl like you“, „Monday Monday“.
Unsere Clique blieb regelmäßig am längsten am Strand der Kiesgrube. Pit drehte auf volle Lautstärke und wir tanzten schweißtreibend im Sand, bei flackerndem Lagerfeuer. Bis die Batterien alle waren. Sie hielten nicht länger als drei Stunden. Manchmal hatten wir Glück und hatten Ersatzbatterien mit; eine teure Sache. Erst kurz bevor der letzte Bus in die City fuhr, brachen wir auf. Meistens erreichten wir den Hauptbahnhof gegen Mitternacht und hatten Schwierigkeiten, die letzte Tram nachhause zu bekommen. Dann mussten wir total erschöpft den Fußweg antreten.
Der Fußweg führte uns schnurstracks durchs Rotlichtviertel der Kaiserstraße. Die Polizei durfte uns hier nicht erwischen, denn um diese Uhrzeit waren Sechzehnjährige in diesem Viertel nicht erwünscht und man riskierte, dass die Bullen bei den Eltern vorstellig wurden. Joachim war in meiner Klasse, aber nicht in unserer Clique. Der Grund war einfach. Sein Vater war bei der Sitte. Die Sittenpolizei streifte auch an jenem Abend durch das Rotlichtmilieu. Das waren Bullen in Zivil, die auf die eine oder andere Art den Nutten und den Freiern das Leben schwer machen sollten. Als Hanna, Hörbi, Gaby, Pit und ich nun auf unserem Heimweg an einem Sexshop stehen blieben und uns an den ausge- stellten Dildos und anderem Zubehör erfreuten, tippte mir ein Ziviler von hinten auf die Schulter.