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ich eben noch Adlern gleich, so schlage ich jetzt einige Male kräftig mit den Flügeln, gleite dann wieder ruhig über dem Tal dahin.

      Doch dies - wie alles andere auch - endet einmal, vergeht, ist einigen Erinnerung, anderen längst entfallen.

      Schlafe ein im Flug.

      Wache auf - nicht im Jenseits, weil ich abgestürzt bin, nein - wache auf in einem Menschenkörper.

      Gewaltig geht der Sonn am Horizont auf. Noch ist die Welt kalt von der Nacht, doch schon ist der Tag erwacht. Vögel zwitschern, singen, jubilieren in meinen Ohren, in meinem Geist, der sie als Mensch niemals verstehen, der nicht wie sie singen kann. Denn mir fehlen Vogelschnabel, -syrinx, -ohr, -hirn und -seele.

      Erhebe mich von meinem Lager, stehe auf, drehe mich frontal zum Sonn, schließe die Augen, strecke mich, breite meine Arme aus, atme den Duft der frischen Morgenluft. Beuge mich nieder, lasse die Arme fallen und atme aus. Und strecke mich wieder, beuge mich - wieder und wieder - sieben Mal. Dann stehe ich aufrecht und still. Seine Wärme fange ich mit Gesicht, Körper, Armen und den Innenflächen meiner Hände auf. Mein ganzer Körper atmet Seine Energie, ganz so, wie es die Blätter und Nadeln der Pflanzen tun.

      Einer sieht alles, schaut nur kurz hin, sieht alles aus Vogelaugen, was dort unten vor sich geht. Es ist der Amselmann dort oben auf dem Wipfel. Er schaut hinab, sieht sich nach Rivalen, Feinden und Frauen um, während er sein Amsellied singt: „Hört mich an, hier bin ich, ein Mann, so jung, so stark! Und das ist mein Revier!“ Er wundert sich nicht, denn er ist ja kein Mensch, ist nicht wie der dort unten, der etwas von einem gefährlichen Vogel zu haben scheint - deshalb tixt er nun doch, denn der dort unten wandelt sich.

      Nackt und still und stumm steht der Mensch für einen Augenblick. Dann wächst etwas, wachsen aus Rumpf, Beinen und Zehen, Armen und Händen Zweige, die sich auch schon mit frischem Grün beblättern. Blätter und Grün breiten sich aus. Die neugeborenen Chloroplasten in den Zellen atmen Kohlendioxid der Luft und Sonnenmorgenlicht ein.

      Anderes nehmen die Engerlinge und Regenwürmer unter der Erde wahr. Sie verstehen es nicht, und könnten sie es begreifen, so wäre es ihnen sicher egal. Denn Menschenfüße wandeln sich: Wurzeln wachsen heraus, hinaus und hinab in die Erde, suchen Wasser und saugen es ein.

      Aus Kohlendioxid und Wasser wird Zucker in seinen grünen Oberflächenzellen, Sonn liefert die Energie, aus Zucker wird Stärke und ... Pflanzenstoffwechsel. Sauerstoff wird frei.

      Ein Rabe kommt geflogen. Er landet ganz in der Nähe auf einem anderen Baum und schaut im Gegensatz zum Amselmann, der „Luftfeind“ schreiend jetzt verschwindet, interessiert zu dieser seltsamen Birke, die anders ist als all die anderen, die sich nun rauschend und schüttelnd wieder zurück in einen Menschen verwandelt.

      Rundum gesättigt wache ich auf, reibe mir die Augen und - kann mich nicht daran erinnern, was eben noch geschah, muss wohl eingeschlafen sein.

      Die Rabin, nicht der Rabe, fliegt hinüber, setzt sich auf einen Ast und schaut dem Menschen tief in die Augen.

      Schwarz sind ihre Augen, die da vor mir landet und mich neugierig zu betrachten scheint. Ja, Raben gehören doch zu den intelligentesten Vögeln. Schwarz, denke ich, schwarz ... schließe meine Augen, um mehr zu sehen, zu ergründen, wer sie wirklich ist.

      Die waren doch eben noch blau-grau, denkt die Rabin, deren wahren Namen Menschenmünder niemals aussprechen könnten. Denn jetzt sieht sie dort rote Feuer brennen.

      Gedanken rasen: Eine Rabin. Wer könnte sie sein? Weshalb schaut sie mich so an. Das kann doch kein Zufall sein! Trafen wir uns früher schon? Eine Frau bist du. Doch wer? Erinnerst du mich an sie, die ich einst verlor. Du - in mir - und du dort draußen? Bist du Nairra in neuem Körper? Weilt ihre Seele in dir? Weine ich nun wieder Tränen um meine verlorene Liebe? Tränen - salzige Wassertropfen oder Tränen aus Feuer, die fern der Außenwelt brennen. Ein Krächzen, ein Singen. Ach ja, eine Rabin war da. Öffnet euch, meine Augen! Öffnet euch und schaut!

      Aha! Noch immer sieht sie mich interessiert an, spricht schließlich: „Kroar kroar!“

      Ich nix verstehen, nix Rabe, denke ich noch und schlage mir auch schon mit der rechten Hand an meine Menschenstirn: „Ach, was mache ich denn, wieso tue ich nichts? Die Lösung heißt doch Verwandlung. „Hallo, wie geht’s?!“, antworte ich ihr nun aus Syrinx und Schnabel auf rabisch.

      Die Rabin aber spricht: „Träume noch ein wenig! Schwebe dann nach Osten! Dort triffst du die Drachen, die jetzt erwachen. Hörst du sie lachen, die da bewachen - schon lange keine Schätze mehr?“ Dann fliegt sie davon.

      Und was tue ich? Fliege ich hinterher oder ...?

      Ich bleibe, nehme meinen alten Menschenkörper wieder an und denke ein wenig nach über Raben, Zahlen und Magie: Rabenzahlenmagie. Ich sehe Bilder in mir. Ich höre, lebe es: Eins, zwei, fünf, zehn, einhundert.

      Eins.

      Eine Rabin, ein Rabe - eine Liebe.

      Einst im Westen lebte Lug, der große Gott der gallischen Kelten. Lug aber trug auch andere Namen. Er war Lamfada, der mit der langen Hand, Samildanach, der Alleskönner, Meister des Handwerks und der Künste. Ihm verbunden war der Rabe. Heil dem Zauberer und dem Dichter. Er war der Lichte.

      Dann war da der Rabe als Diener der Zauberer und Hexen. „Sieh dem Raben nicht zu lange in die Augen, sonst stiehlt er dir deine Seele und fliegt damit davon!“, sprach der Zwerg zu Sneewittchen.

      Zwei.

      Ein Rabenpaar. Einst lebten zwei Raben, Hugin und Munin, bei Odin. Ihm opferten die Normannen den Abt der Mönche. Odin aber ist Wodan, Gott des Krieges und Vater der Toten, der auf seinem Schimmel Sleipnir durch die Kältewüsten zieht. Wolf und Rabe sind ihm geweiht. Ein Auge gab er für die Weisheit hin, denn er ist der Gott der Dichtkunst und Ekstase. Seine Raben sandte er als Späher aus. Nachts raunten sie ihm ins Ohr, was sie auf ihrem Flug durch die Welt bei Tag gesehen hatten.

      Fünf.

      Im Frühling finden sich die Paare. Rabe und Rabin, aus eins und eins werden zwei, aus zwei werden mehr. Er bringt ihr einen Leckerbissen und zeigt ihr, was für ein Kerl er ist: segelt dahin, dreht und überschlägt sich. Beide fliegen sie synchron: das ist zeitgleicher, gleichstarker und gleichartiger Flügelschlag ... Eins-sein in Harmonie.

      Nun sind wir wieder vereint - jetzt - für einen Augenblick - für alle Ewigkeit: Du und ich sind nun ein Rabenpaar, eine Familie, die bald Nachwuchs bekommen wird. Denn ich habe dich begattet, und du hast die Eier gelegt. Drei sind es im Nest dort oben in der Felsenwand, die nur Vögel wie wir erreichen können.

      Dann kommt die Zeit der Geburten, brechen die Schalen auf, schauen drei Rabenkinder heraus. Wir füttern sie.

      Zeit rast dahin. Frühling und Sommer. Schon wagt hechelnd unser erstes Kind seinen ersten Flug, und - landet auf dem Boden. Nebel liegt über allem am Morgen, Regen. Endlich bricht Sonn durch Wolken.

      Sie fliegen, sie lernen, sie leben für sich mit den anderen in der Gruppe.

      Du und ich sind wieder zu zweit, ein Rabenpaar für alle Zeit!?

      Zehn.

      Ein Rabe, eine Rabin, ein Rabenpaar, drei Kinder, fünf Raben. Zehn waren es einst. Weit im Osten lebte Shen-Yi, der himmlische Bogenschütze. Dort erzählt man sich die Sage, das vor langer Zeit zehn Sonnen in Gestalt von Raben das Leben der Erde bedrohten. Yi schoss neun von ihnen ab, ein Rabe blieb am Leben. Und deshalb kann man heute noch den dreifüßigen Raben im Sonn erblicken.

      Einhundert.

      Auf den Schlachtfeldern und an den Leichen der Tiere, die die Wölfe jagen und erbeuten, versammeln sich die Raben und nehmen sich die leckeren Bissen. Hundert Jugendliche finden sich im Winter im Tal ein. Dort gibt es jetzt Essen im Überfluss. Auch die Drei, die vor kurzem noch Kinder waren und die wir kennenlernten, sind dabei.

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