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vor ihr ist leer. Entspannt schaut sie in die Obstbäume.

      Carlina setzt sich neben sie und versucht ein Gespräch. „Hast du jemals gefehlt?“

      Elfriede weiß was sie meint. Überlegt, ob die Frage eine Antwort wert ist. Schaut verträumt in die Bäume. Doch schließlich: „Das sind doch nur sich ewig wiederholende Gespräche. Ich habe keine Lust mehr dazu.“

      Carlina schaut in die gleiche Richtung und nickt. „Dann hast du bestimmt nichts dagegen, wenn du ersetzt wirst?“

      Elfriede verneint mit dem Kopf. Wirkt etwas entrückt.

      Carlina wartet auf mehr, stellt dann die nächste Frage. „Stimmt es, dass du kein einziges Mal beim Sportplatz warst? Keinem der jungen, knackigen Hintern zugejubelt hast?“

      Ihre Mutter zieht leicht die Winkel ihres immer noch breiten Mundes auseinander. „Daran habe ich gemerkt, dass ich zu nichts mehr Lust habe“, antwortet sie schleppend. „Nichts gibt es, was mich noch hinter dem Offen hervorlocken könnte.“

      Carlina sieht sie nun scharf von der Seite an. „Sag mal, bist du High? Du redest so vernebelt.“

      „Bin irgendwie müde“, antwortet sie sofort.

      „Hm“, Carlina überlegt. „Es findet sich bestimmt noch etwas, das dir Spaß macht oder womit du dich nützlich machen kannst. Du siehst ja noch gut. Und gehen kannst du auch noch. Zora hatte es da schwerer.“ Erwartungsvoll betrachtet sie ihre Mutter.

      Nach einigem sinnieren beugt sich Elfriede nach vorne, als ob das Gespräch eine Last wäre, legt ihre Unterarme auf die Tischplatte und starrt auf die Maserung. „Mein Leben war lang genug und ständig was Neues anzufangen, hat seinen Reiz verloren. Mir ist, als ob das Leben mir nichts mehr zu bieten hat.“

      „Kennst du überhaupt alle deine Enkel und Urenkel? Bis du alle besucht und jedem etwas Nettes gesagt hast, ist ein Monat vorbei. Menschen brauchen immer Zuspruch. Keine weiß das besser als ich.“

      Elfriede schnaubt. „Das ist mein Hauptproblem. Ich verspüre null Lust auf Mensch.“

      „Das kann auch eine vorübergehende Unlust sein. Was meinst du wer geeignet wäre, im Rat deine Nachfolge anzutreten?“

      Elfriede stützt ihre Ellenbogen auf die Platte und legt ihr Gesicht in die Hände. Carlina sieht gerade noch, wie aus dem Mund ihrer Mutter ein bisschen weißer Schaum quillt. Sie reißt ihr die Hände weg und Kraft ihrer schnellen Auffassungsgabe weiß sie sofort Bescheid. Carlina stellen sich die Nackenhaare.

      „Hast du Pilze gegessen?“

      Elfriede bleibt die Antwort schuldig.

      Carlina springt auf. „Du hast dich absichtlich vergiftet.“

      Ihre Mutter zeigt ein Aufbäumen. Mit giftiger Stimme zischt sie: „Wehe, du versuchst mir das Leben zu retten. Ich will nicht mehr und das hast du zu akzeptieren. Ich bin schließlich nicht dein Besitz.“ Während sie die Worte spricht, verlassen kleine Schaumflocken ihren Mund.

      Carlina stutzt, schaut betroffen ihre Mutter an. Dann setzt sie sich wieder und legt ihre Arme um sie. „Vermutlich bist du der letzte lebende Mensch aus der alten Zeit. Der letzte lebende Mensch, der im Internet gesurft hat. Der die Autobahnen voller Autos und Lastwagen erlebt hat, dutzende Fernsehprogramme kannte. In einem Kino war, Massen von Menschen gesehen hat.“

      „Auch der muss mal sterben“, kommt es leise.

      „Jetzt sag bloß, du hast die letzten Wochen an einem Gift geforscht, um aus dem Leben zu scheiden?“

      „Um möglichst schmerzfrei, schnell und mit Euphorie aus dem Leben zu scheiden“, ergänzt ihre Mutter schwach. „Das kommt auch dir zugute. Ich habe dir das Rezept aufgeschrieben.“

      Carlina ist wie gelähmt. Weiß, dass Magenauspumpen ein Fehler wäre. Sie zieht ihre Mutter, die sie ihr ganzes Leben lang immer Elfriede genannt hat, fester an sich. „Mama“, sagt sie erstmals. „Du bist das Licht meines Lebens. Die perfekte Ergänzung zu meiner unvollkommenen Person.“

      Elfriede nimmt den Kopf von ihrer Schulter. Schaut ihre Tochter mit geweiteten Pupillen und schaumbedecken grinsenden Mund an. „Ich bin furchtbar stolz, dich geboren zu haben“, bringt sie noch hervor.

      Carlina wischt mit einem Ärmel den Schaum weg. Sieht den gebrochenen Blick. Die Mutter fest an sich gedrückt, weint sie leise vor sich hin, während Elfriede lächelnd immer flacher atmet. Eine Viertelstunde später hört ihre Atmung auf. Locker wie ein Sack Knochen fällt sie zusammen. Carlina legt sie auf den Tisch und holt Instrumente, um ihren Tod festzustellen.

      Jeder weiß, Elfriede kannte noch die alte Zeit, hat ihr aber nie nachgeweint. Ihre Erzählungen gestaltete sie immer so, dass die Nachfahren nie das Gefühl bekamen, etwas begehrungswertes versäumt zu haben. Viele kennen auch noch Toms Spruch, „es ist erstaunlich, was ich alles nicht vermisse“. Sie wird neben Zora und Tom, den Gründern der Kommune und ihrem Mann Dennis, der jung tödlich verunglückte, beigesetzt.

      In der darauf folgenden Vollversammlung, im brechend vollen Sportheim, wird zuerst über das Fußballturnier und seine Folgen diskutiert. Es hagelt Beschwerden. Die Fremden hätten überall hingepinkelt, manches gestohlen, mehrere Mädchen frech angebaggert und die Pferde der Gäste hätten zu viel Heu und Hafer konsumiert. Dafür lägen leere Flaschen in den Feldern. Es gibt auch andere Stimmen. Die Mehrheit der Bürger ist hoch zufrieden, denn es wurde viel verkauft und verdient. Unterm Strich war das Turnier ein wirtschaftlicher Erfolg und soll im nächsten Jahr wiederholt werden. Mit der Absicht, den Besuchern zuerst Benimmregeln zu vermitteln.

      An Elfriedes statt, ergreift Carlina das Wort, gibt kund, dass nun die Nachfolge ihrer Mutter geregelt werden müsse. Bernie hebt eine Hand und erklärt, es ginge ihm nicht besonders, er wünsche den Rat zu verlassen. Als Nachfolger schlägt er seine Nichte Michelle vor. Eine fünfundzwanzigjährige Blondine, die hyperaktiv seine Geschäfte führt. Auf ihrer Habenseite steht, dass sie mit jedem locker reden kann und meist gut gelaunt ist. Als die Wahl ansteht, zeigt Michelle ihre Raffinesse. Anders als gewohnt steht sie auf, stellt sich vor die Vollversammlung und schaut alle direkt an. Für die Besucher sieht es so aus, als ob sie aufpassen würde, wer gegen sie stimmt. Das Gros der Bürger wählt sie zu Bernies Nachfolger, um auch in Zukunft Schnecken, Froschschenkel und Meerschweinchen beziehen zu können.

      Elfriedes Nachfolger zu finden ist weit komplizierter. Jeder weiß, wie schwer die alte Medizinerin zu ersetzen ist. Mehrere junge Leute stehen zur Wahl, keiner bekommt eine Mehrheit. Irgendwann fragt ein älterer Mann von den Gregor-Höfen aus der Ebene, ob jedem bewusst sei, dass die Flachlandhöfe nicht mehr im Rat vertreten sind. Früher sei das üblich gewesen. Er schlägt seine Tochter Fritzi vor. Sie ist das absolute Gegenstück zu Michelle. Groß, dünn, dunkel und still. Von dieser Fritzi, die richtig Friedelinde, Frederike oder so ähnlich heißt, weiß man nicht viel. Die meisten fänden es gerecht, wenn die Höfe der Ebene wieder einen Vertreter im Rat hätten. Da Fritzi einen ruhigen Eindruck hinterlässt und verträglich erscheint, wird sie gewählt. Erstmals haben im Rat die Frauen die Mehrheit und niemand stört es, weil sich alle an Carlina orientieren. Wie selbstverständlich übernimmt Elfriedes Tochter den Vorsitz und führt durch die Sitzungen. Weil die Gemeinschaft nie so etwas wie einen Bürgermeister wollte, lässt sie so oft wie möglich die anderen reden.

      Seit der Rhein das ihm zugedachte Bett verlassen hat und sich ab und an in die Ebene ergießt, ist der Grundwasserspiegel deutlich gestiegen. Zuvor genutzte Keller mussten aufgegeben werden. Die Gregor Höfe haben zudem das Problem, dass auf den Feldern oft Wasser steht und die Bewirtschaftung verhindert. Fritzi ist nicht besonders gesprächig aber beharrlich. Im Laufe des Herbstes fordert sie mehrmals die Hilfe der Gemeinschaft. Die Ackerflächen in der Ebene seien für alle wichtig. Wenn auf den Hügeln die Saat erfriert, hätte man immer noch das Getreide der Ebene. Deshalb sollten alle zusammen Entwässerungsgräben ausheben, um die tieferen Anbaugebiete zu erhalten.

      Nach der letzten Ernte beginnen die Männer und Frauen der Höfe die ersten Gräben zu buddeln. Einzelne Personen aus Zoratom helfen. Knietief würde schon reichen. Aber die breite Masse der Bürger

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