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Ein weiteres Mal stahlen sich die Szenen aus dem Schlosshof in meine Gedanken. Die Schreie der Sterbenden und das Blut, das das Pflaster in einen glatten, purpurfarbenen Teppich kleidete. Noch immer wachte ich nachts schweißgebadet auf – das letzte Bild eines, in dem Ethan den Dolch in meine Brust stieß.

      Schon seit einigen Tagen waren die Bilder und die immerwährende Schuld jedoch nicht mehr das Einzige, das mich verfolgte. Ich hatte es bisher noch niemandem anvertraut, doch je öfter ich die Geschehnisse jener Nacht durchging, desto klarer stand mir ein Schluss vor Augen.

      "Morrigan kann Magie wirken." Es ausgesprochen zu wissen, nahm nichts von der Angst, die sich zu einem Knoten in meinem Inneren ballte. "Es waren keine Katapulte oder Feuerpfeile im Einsatz. Der Feuerball im Schlosshof – das war Morrigan, nicht wahr? Sie ist eine Hexe."

      Wallace antwortete nicht sofort. Schwere Stille senkte sich über uns und nur das Knacken der Zweige unter meinen Sohlen war noch zu hören. Ich hatte die Abkürzung durch den Wald gewählt – ein von Brombeerranken überwucherter Pfad, den ich nur in Notfällen wie heute benutzte.

      "Ihr solltet mit der Hexe des Lichts sprechen", sagte Wallace schließlich. "Zu wissen, wofür man kämpft, ist nutzlos, solange man seinen Gegner nicht kennt."

      "Was meint Ihr?" Ich verhedderte mich in einer der Ranken und stolperte fast, aber Wallace' Worte forderten meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Einmal mehr wünschte ich, mein Trainingsplan würde eine längere Pause zulassen, doch mit einer wütenden Königin im Nacken konnte ich es mir nicht leisten, zu trödeln. Ich beherrschte meine Magie noch nicht ansatzweise gut genug, um Morrigan gegenüberzutreten. "Warum soll ich mit Gladys sprechen? Was hat das alles mit Morrigans Magie zu tun?"

      "Das solltet Ihr selbst herausfinden, Mylady." Wallace' Gewicht verschwand von meiner Schulter und ich dachte bereits, er hätte mich ein weiteres Mal ohne Antwort stehengelassen, als er auf einem tiefhängenden Ast direkt vor meinem Gesicht wieder auftauchte. Ich hielt so abrupt inne, dass ich einen Schritt zurücktaumelte.

      "Vielleicht hilft Euch ja auch die Nachricht, wegen der ich eigentlich gekommen bin. Streckt Eure Hand aus."

      Ich zögerte nicht. Was immer er mir übergeben wollte, war wichtig genug, dass er sich nach mehr als zwei Wochen Funkstille wieder zeigte – also musste ich es haben. Nebel umhüllte meine Hand und kurz darauf spürte ich eine leichte Berührung – Papier. Ich wartete nicht, bis der Nebel zerstoben war, sondern hob den Brief so nah an meine Augen, bis ich im Zwielicht der Dämmerung etwas erkennen konnte. Mein Name prangte in säuberlicher Schrift auf dem Umschlag, doch so oft ich ihn auch zwischen den Fingern drehte, ich fand keinen Hinweis darauf, woher er stammte.

      "Wer hat –"

      Ich unterbrach mich selbst, als mein Blick den Frosch fand. Nebelschwaden zogen sich um ihn zusammen und dieses Mal war ich sicher, dass sie ihn endgültig verschlucken würden.

      "Nur eines noch, Mylady." Er erhob einen seiner langen Froschfinger. "Nur, weil ich Euch diesen Gefallen getan habe, heißt das nicht, dass ich mich in Zukunft zu Eurem Postboten degradieren lassen werde."

      Nebel verschluckte seinen Körper. "Und was diesen Brief betrifft – ich schlage vor, Ihr lest ihn nach Eurer nächsten Lektion. Eure Mentorin wird nicht gerade erfreut sein, wenn Ihr sie noch länger warten lasst."

      Mit diesen Worten verhüllten die violetten Schwaden auch Wallace' Züge. Kaum einen Wimpernschlag später war er verschwunden – einige winzige violette Wölkchen der einzige Hinweis darauf, dass er jemals hier gewesen war.

      Erneut betrachtete ich den Brief zwischen meinen Fingern, doch Wallace' Worte siegten. Eilig schob ich das Papier in meine Hüfttasche, bevor ich loslief. Sidony würde mich in der Luft zerfetzen, wenn ich noch später kam.

      "Du bist zu spät." Meine Mentorin bedachte mich mit einem strengen Blick, kaum, dass ich die Hütte betreten hatte. "Ist alles in Ordnung?"

      "Alles bestens." Ich schloss die Tür hinter mir und trat einen Schritt in den Raum. Sidonys Hütte ähnelte eher einem Fuchsbau als einer menschlichen Behausung. Bündel getrockneter Kräuter verwandelten die Luft in ein Sammelsurium schwerer Düfte. An den Wänden hatte sie unzählige Regale angebracht, auf denen sich konservierte Frösche, Insekten oder Früchte in Einmachgläsern tummelten, während jeder kleinste Flecken des restlichen Raumes mit Utensilien übersät war, die sie für ihr Handwerk benötigte. Das einzige Fenster, durch das etwas Tageslicht in die Hütte drang, sah aus, als hätte es schon unter einigen von Sidonys Tränken und Elixieren gelitten. Es bestand aus unzähligen Glasscherben in allen erdenklichen Größen und Farben, die als Kreis angeordnet in die Wand eingelassen waren.

      Als mein Blick zu Sidony zurückkehrte, musterte sie mich noch immer. "Du hast Zweige im Haar und deine Gedanken sind ebenso wirr wie deine Frisur. Ist wirklich alles in Ordnung?"

      Ich schnappte nach Luft. "Du liest meine Gedanken?"

      Telepathie war eine der Fähigkeiten, die jede Hexe in der Grundausbildung lernte, die in ihrer Anwendung jedoch verboten war. Zumindest außerhalb des Trainings und ohne Erlaubnis. Allein, dass Sidony versucht hatte, in meine Gedanken zu dringen, ließ Furcht in mir aufsteigen. Hatte sie etwas über Wallace aufgeschnappt? Womöglich wusste sie sogar von dem Brief?

      "Beruhige dich. Ich habe keinen Schimmer, was du denkst", entgegnete Sidony in diesem Moment. "Aber ich muss deine Gedanken nicht lesen, um zu sehen, dass dich etwas beschäftigt. Also, was ist es?"

      "Es ..." Ich zögerte. "Nichts weiter. Ich ... habe die Zeit vergessen."

      Sidony hob eine Braue und ich wusste, dass sie mir diese mehr als lahme Ausrede nicht abnahm. Doch irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, ihr die Wahrheit zu sagen. Nicht, solange ich nicht wusste, was in diesem Brief stand.

      Entschieden straffte ich die Schultern und setzte das beste Lächeln auf, das ich zustande brachte. "Also, was steht heute auf dem Plan?"

      Sidony wandte sich ab und trat an den schweren Holztisch, der im hinteren Teil des Raumes stand.

      "Ich habe einen Entschluss gefasst", verkündete sie von dort aus. "Es wird Zeit, dass du eigene Elixiere herstellst. So bekommst du eine tiefere Verbindung zu den Stoffen und kannst die Magie in ihnen fühlen."

      "Aber –" Zögernd folgte ich ihr. "Elixiere allein herzustellen ist Novizen des dritten Jahres vorbehalten."

      "Du darfst nicht vergessen, dass es dir schon einmal gelungen ist." In Sidonys haselnussbraunen Augen lag Ermutigung. "Warum also keinen zweiten Versuch wagen?"

      Ich zögerte. "Um welchen Trank geht es?"

      "Lies selbst." Mit einer Handbewegung hatte sie mir einen ihrer Wälzer zugeschoben. "Ich habe ein Gefühl, dass du dieses Elixier noch gebrauchen kannst."

      Angespannt überflog ich das Rezept, während meine Gedanken noch immer um Wallace' Neuigkeiten kreisten. Obwohl Morrigan verschwunden war und die Rebellen eine ernsthafte Chance hatten, Ciaora zu übernehmen, konnte ich die Furcht nicht abschütteln. Die Ungewissheit über einen weiteren Angriff kostete mich mehr Nerven als ich mir eingestehen wollte. Und die Tatsache, dass Morrigan Magie wirken konnte, machte es nicht besser.

      Die Zutatenliste verschwamm vor meinen Augen, während der Name des Elixiers scharf zwischen den Worten hervortrat. Ich hob den Kopf und sah Sidony an. "Das Elixier der schlimmsten Ängste?"

      "Es wird dir Zeit verschaffen, wenn du sie am nötigsten brauchst."

      "Es ist gefährlich", erwiderte ich. "In den falschen Händen könnte es ..."

      Ich unterbrach mich und schüttelte die dunklen Gedanken ab. Angst würde mir nicht helfen, Morrigan zu besiegen. Das Elixier womöglich schon.

      "Bist du sicher, dass ich bereit bin?", fragte ich stattdessen.

      Für einen Moment herrschte Stille, doch dann ergriff Sidony meine Hände. Ihre Haut erinnerte mich an Pergament und ihre Handrücken waren von unzähligen Falten überzogen. Wenn Sidony mit mir sprach, vergaß ich oft, wie alt sie war. In ihren Worten lag noch immer die Hoffnung einer jungen Frau, doch ihr Blick erzählte von

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