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mit sehr guten Lernergebnissen und hatte ein vorbildliches Betragen. Vor allem besaß sie noch viele Leistungsreserven, die sie für den Besuch einer EOS (Erweiterte Oberschule, seit den 80-er Jahren für Absolventen der 10. Klasse einer Polytechnischen Oberschule, kurz POS, die mit dem Abitur die Hochschulreife erlangen wollten. Die Auswahl der Schüler erfolgte sehr oft nach Kriterien der politischen Eignung im Sinne der SED) prädestinierten. Warum sollte der Antrag abgelehnt werden? Nun kam es dick: Kathrin war nicht Mitglied der FDJ und kam aus einem christlichen Elternhaus. Das also war der Grund, warum der Direktor Müller gebeten hatte, gegen den Antrag zu stimmen, gerade ihn! Der Vorsitzende der WPO (Wohnparteiorganisation im Umkreis der Einwohner) erzählte, jeden Sonntag ginge die ganze Familie in die Kirche. Von solch einem Kinde könnte man keine uneingeschränkte Loyalität zum Staat und zur Politik der Partei erwarten. Wer studiert, wird schließlich Führungskader. Unvermittelt wandte sich plötzlich der Schulinspektor an Müller:

      „Sie haben sich überhaupt noch nicht geäußert!“

      Müller ärgerte sich, dass er die Verfassung nicht bei sich hatte. Das, was hier geschah, war eklatanter Verfassungsbruch, da nach ihr jeder Bürger ohne Ansehen der Person die gleichen Chancen haben sollte. Er sah die kalten Blicke der Genossen auf sich ruhen. Nur die Klassenlehrerin schaute ihn hilflos an.

      „Ja, wollen Sie sich nicht äußern? Sie müssen doch eine Meinung haben?!“

      Müller schluckte:

      „Ich schließe mich der Meinung meines Vorredners an.“

      Der Inspektor schien befriedigt zu sein:

      „Na also, und Sie Kollegin Klassenleiterin ..?“

      „Ich auch.“

      Nach der Sitzung ging Müller mit der Klassenleiterin ein Stück des Wegs.

      „Mir ist speiübel, und ich könnte mich selbst anspucken. Warum habe ich nur nicht mehr Mut besessen?“

      Die Klassenleiterin besaß den Mut, den Eltern weitere Schritte zu empfehlen, so dass Kathrin später ein Abitur mit Berufsausbildung abschließen konnte.

      ***

      „Warum fiel mir das nur wieder ein?“, fragte sich Müller, „Ach ja, weil die Neue behauptet hat, Sozialismus und Friede seien eine Einheit. Nein, ich werde es nicht mehr zulassen, dass irgendein Schüler wegen seiner anderen Überzeugung diskriminiert wird.“

      Seine Gedankengänge vermischten sich miteinander. Kein Wunder bei dieser Mammutsitzung, in der er, wer weiß zum wievielten Male in seinen 22 Dienstjahren, den politisch-ideologischen Quatsch über sich ergehen lassen musste. Der Sitz wurde ihm hart. Am liebsten wollte er aufstehen und sich lauthals recken und dehnen. Glauben die Kollegen überhaupt das, was die Frau da vorne sagt? Glaubt die Direktorin selbst das, was sie vorliest? Ach ja, Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Hauptaufgabe, das durfte nun auch nicht fehlen. Warum pinseln einige Kollegen dort so eifrig mit?

      Wollen sie sich Liebkind machen, oder schreiben sie nur mit, um sich irgendwie die Zeit totzuschlagen.

      Ragnit, der Geographielehrer, kokettierte mit einer neuen Kollegin, die in der Mittelstufe Mathematik unterrichten sollte. Ein Typ wie die junge Ingrid Bergmann, konstatierte Müller, und war etwas eifersüchtig auf Ragnit.

      Günther Ragnit kannte im Kollegenkreis fast nur die Themen Sex und Porno. Er war ein Kumpel, fuhr bei Feiern die Platten herbei, half, wenn jemand Schwierigkeiten mit seinem Auto hatte, tauschte mit den Schülern interessante Briefmarken und gab sich stets kollegial.

      Neben ihm saß seine „heimliche“ Geliebte, eine Deutschlehrerin, von der unter vorgehaltener Hand behauptet wurde, ihre letzte Tochter sei ein Ragnitsprösschen, weil sie so völlig anders aussah als ihre übrigen Geschwister. Aber das wollte noch gar nichts sagen, denn in der Umgebung der Schule waren die Leute bekannt durch die Verbreitung unbewiesener Gerüchte. Andererseits war das Leben hier dadurch grotesk interessant. Nur wohnen wollte Müller auf keinen Fall in diesem Ortsteil.

      Müller erinnerte sich, dass er einmal sehr um seinen behandelnden Arzt trauerte, der längere Zeit erkrankt war und in der Nähe der Schule praktizierte, weil ihm mitgeteilt wurde, dieser sei plötzlich verstorben. Am gleichen Tage erschrak Horst Müller schrecklich, als er dem lebendigen und von der Krankheit genesenen Doktor auf dem Wege von der Schule nach Hause begegnete.

      Kollegin Strauß sah ja wieder grimmig drein, eine Frau, die sich bei Kleinigkeiten angegriffen fühlte.

      Ihr Mann war Richter am Stadtbezirksgericht - also Vorsicht.

      Einmütig beieinander saß das Lehrerehepaar Mofang. Müller fand es immer rührend, wenn sie bei Feiern verliebt wie am ersten Tag miteinander tanzten.

      Jutta Mofang war SGL-Vorsitzende (Vorsitzende der Schulgewerkschaftsleitung). Sie war meistens freundlich, parteilos, und setzte sich für die Interessen ihrer Kollegen ein.

      Kurt Mofang war Genosse, Werklehrer und Reservist.

      Er soll sogar jemanden, laut Gerüchteküche des Ortsteils, an der Grenze zu Bayern erschossen haben, als der in den Westen wollte.

      Müller selbst verstand nicht, wie sich Jutta in Kurt verlieben konnte. Liebe ist eben ein eigenartiges Gefühl.

      Vielleicht verstanden manche auch nicht, warum Carolin gerade ihn geheiratet hatte.

      Kurt war als Reservist der Nationalen Volksarmee, in der er einige Jahre freiwillig gedient und es bis zum Hauptmann gebracht hatte, für die Wehrerziehung an der Schule verantwortlich. Zwar unterrichtete er an der Schule nicht dieses „Fach“; das erledigten dafür vorgesehene aktive Offiziere der NVA (Nationale Volksarmee) vom Leutnant bis zum Major, aber während der Tage der Zivilverteidigung exerzierte er mit den Schülern und Schülerinnen der neunten Klassen auf dem Schulhof wie auf dem der Kaserne.

      Müller dachte mit Abscheu daran, dass er wieder ein Marschlied einstudieren muss und verpflichtet wurde, mit den Schülern rund um die Schule zu marschieren:

      „Im Gleichschritt - marsch! Ein Lied! - Spaniens Himmel! - Spaniens Himmel! - Spaniens Himmel! - Lied durch! - Spaniens Himmel breitet seine Sterne! Drei … vier!“

      Die Schüler grölten sich die Lunge aus dem Hals und defilierten am Direktor vorbei, der die ganze Lächerlichkeit abnahm.

      Glücklicherweise brauchte er in der zehnten Klasse nicht mehr für Armeeberufe zu werben.

      Als Kind hatte er im Krieg 1945 einen furchtbaren Bombenangriff überlebt. Seitdem war ihm alles Säbelgerassel verhasst. Diese Wehrerziehung in der Schule war ihm absolut zuwider.

      Müller erinnerte sich an die eigenartige Schulung, die er im Traditionskabinett einer Schule des Stadtbezirks zusammen mit Klassenlehrern zukünftiger siebenter Klassen vor drei Jahren ertragen durfte. Es ging um die Frage, wie der Klassenleiter Jungen für militärische Berufe begeistern kann. Zuerst sollte eine Liste alle Jungen erfassen, ihre sportlichen Qualitäten aufnehmen, einen Hinweis auf westliche Verwandte enthalten sowie einen Maßnahmekatalog für die Arbeit mit den Eltern ausweisen. Für Müller war das Ganze ein Horror. Die Strauß, Klassenleiterin seiner Parallelklasse, quatschte dann noch zusätzlich auf dem Heimweg, sie hätte gute Ideen, ihren Schülern den Armeeberuf schmackhaft zu machen.

      Carolin sah schon an der Tür, dass ihr Mann voller Depressionen war und versuchte, ihn mit einem schmackhaften Abendessen aufzuheitern.

      Müller sollte Schüler für eine Sache begeistern, für die er sich nicht engagieren konnte und wollte. Er merkte auch bei den Jungen und im Gespräch mit den Eltern, dass sie nicht besonders erfreut waren, wenn er das Thema ansprach.

      Was sollte er hier auch verteidigen - die Mauer, die Unfreiheit, die „Bonzen“ da oben, die er nicht mochte und viele mit ihm nicht, die Interessen der Sowjets …?

      Wenn nicht ein neuer Schüler im September in seine Klasse eingeordnet worden wäre, dessen Eltern sich in der NVA kennen gelernt hatten, und der unbedingt Pilot eines Kampfflugzeuges werden wollte, hätte Müller wieder Schwierigkeiten mit dem Direktor bekommen.

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