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konnte, und auch Lutz sah mich mit erstauntem Blick an. Ich vertraute darauf, dass er die Situation intuitiv verstand. Und so war es auch. Er fuhr souverän in seinem Lehrstoff fort, während Braun unvermittelt einen Zollstock aus seiner Jacketttasche holte und die Raumhöhe maß. Dann ging er die Raumlänge messenden Schritten ab; es folgte auf der Rückseite die Raumbreite; er zählte lautlos die Anzahl der Seminarteilnehmer und ging sodann zur Tür, um mir halblaut und doch etwas zu schroff mitzuteilen, dass er für seinen Teil fertig sei. Ich wandte mich an die Teilnehmer und Lutz, entschuldigte noch einmal die Störung und verabschiedete mich. Braun sagte kein Wort zum Abschied.

      Auf dem Flur holte er einen altmodischen Taschenrechner hervor und tippte seine Zahlen hinein. Dann sah er mich triumphierend an und sagte: „Die erforderlichen Raumkubikmeter pro Teilnehmer sind unterschritten. Sie können diesen Raum nicht mehr nutzen. Wir geben Ihnen drei Monate Zeit, eine Änderung der Verhältnisse anzugehen. Weiteres teile ich Ihnen schriftlich mit.“

      „Sagen Sie mir bitte vorab, wo das Problem konkret liegt. Die Teilnehmer haben genügend Platz, sogar mehr als man in den öffentlichen Unterrichtsräumen einer Volkshochschule bereit hält. Die Belüftung ist durch­gehend und ausreichend möglich, wie es der TÜV fordert, und es wird stets auf Luftzufuhr geachtet.“

      „Es liegt an der Deckenhöhe. Sie ist rund 5 cm zu niedrig. Erforderlich sind 270 cm, sie beträgt jedoch nur 265,5 cm.“

      „Das wird doch mindestens ausgeglichen durch die übergroße Raumbreite, Herr Braun. Wäre das nicht gegenzurechnen?“

      „Nein, da kann ich Ihnen leider nicht folgen. Also, Sie hören dann von mir! Auf Wiedersehen!“ – und weg war er. Als ich ihn so triumphal weglaufen sah, fiel mir spontan der Name eines Brüder-Grimm-Märchens ein: »Rumpelstilzchen«.

      *

      Mit Lutz, dem Kursleiter, verstand ich mich sehr gut. Schon beim Bewerbungsgespräch vor drei Jahren hatte mich seine natürlich-sympathische Ausstrahlung beeindruckt. Er erschien aufgeschlossen und fachlich durch und durch kompetent. Dieser Eindruck hatte sich nicht nur erhalten, sondern verstärkt. Zwar bedauerte ich, dass er in absehbarer Zeit nur noch für sein Jungunternehmen, das Umweltinstitut Offenbach, und nicht mehr für die GTU arbeiten würde, aber ich hatte volles Verständnis für diesen Schritt, schließlich hatte auch ich diesen Weg in die Selbständigkeit getan und bisher nicht bereut. Wir pflegten eine fast schon freundschaftliche Kollegialität, hatten uns gegenseitig bereits mehrmals samt unseren Familien eingeladen und erzählten uns auch in den Mittagspausen private Dinge.

      Als Herr Braun gegangen war, unterrichtete ich Frau Wenzel und Lutz über die merkwürdige, fast beängstigende Begegnung mit diesem Beamten.

      „Was kann denn groß passieren, wenn es bloß um eine angeblich mangelnde Raumhöhe von 4,5 cm geht? Da müssten wir erst einmal überprüfen, wo und wer das vorschreibt“, sagte Lutz in einem so zuversichtlichen Ton, dass ich innerlich aufatmete. Mich hatte die Begegnung doch recht nervös gemacht, obwohl ich sonst nicht zur Panik neigte. Doch Brauns Verhalten, sein erbarmungsloser Blick, sein Nicht-im-Geringsten-einlenken-wollen, hatten mich verunsichert.

      „Wenn das jedoch tatsächlich ein Punkt wäre, mit dem uns das Gespann Braun-Söhnlein dauerhaft ärgern könnte, müsste man wahrscheinlich über die Grenzen hinaus denken …“, sagte Frau Wenzel.

      „Über die Grenzen hinaus denken?“ Ich sah sie fragend an.

      Sie blickte nachdenklich zu Lutz, zu mir, dann wieder zu Lutz, bis ihr Blick zum Fenster schweifte. Endlich sagte sie: „Vielleicht sollten wir umziehen. Die Kurse sind so erfolgreich, die Bewerberlage so blendend und stabil, die Finanzen ausreichend und die Miete hier recht teuer. Erweiterte Raumkapazitäten könnten uns nicht schaden.“ Sie setzte ein gewinnendes Lächeln auf, legte eine Kunstpause ein und sah mich dann auffordernd an. „Ich denk‘ an jenes Haus von diesem Herrn Nabel-Schoen, das Sie einmal als Betriebsstätte in Betracht gezogen hatten. Würden wir dort nicht besser dastehen und hätten wesentlich mehr Räume – übrigens auch für mehr Kurse? Und endlich separate Büroräume für die Dozenten, die sich nicht mehr zu zweit oder zu dritt ein Büro teilen müssten? Vielleicht ist die Friesstraße noch zu haben. Ich bin vor einem halben Jahr zufällig dort vorbeigekommen und es machte mir einen leerstehenden Eindruck.“

      „Das ist gewiss eine Option, aber warten wir erst einmal das Schreiben des Herrn Braun ab“, wandte Lutz ein.

      Ich stimmte ihm zu und bat Frau Wenzel, dennoch schon einmal ausfindig zu machen, ob der Leerstand in der Friesstraße definitiv sei.

      Lutz und ich gingen anschließend zum Italiener zum Mittagessen. Hier schüttete er mir sein Herz aus, eine private Angelegenheit, es ging um seinen Adoptivsohn Kai, siebzehn Jahre alt. Seit seinem zwölften Lebensjahr war er auffällig, trank seit geraumer Zeit heimlich Alkohol, rauchte Shit und nahm LSD. Kurzum: Kai war ein Problemkind und fühlte sich zurückgesetzt gegenüber dem leiblichen Sohn von Lutz. Es gab am laufenden Band Zoff zwischen den beiden Jugendlichen, die altersmäßig nur ein Jahr auseinander lagen.

      Kai, so schilderte es Lutz völlig verzweifelt, den Tränen nahe, war dabei, die gesamte Familie zu zerstören.

      „Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht und wie ich mich entscheiden soll. Was auch immer ich in Erwägung ziehe, führt in eine ausweglose Situation und wird mich und die Familie auf Dauer schrecklich belasten.“

      Ich musste in diesem Moment an eine Geschichte denken, die wir in der Realschule als Fünfzehnjährige für eine Deutscharbeit als Erörterung bearbeiten sollten:

      Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Uhrmacher, Ende vierzig, Vater von fünf Kindern, hat vom Pastor den Auftrag erhalten, die defekte Kirchturmuhr zu reparieren, was nur von außen mittels zwei Steigleitern geschehen kann. Der Vater bittet Johann, seinen ältesten Sohn, mit ihm hinaufzusteigen, da er jemanden braucht, der ihm die Werkzeuge reicht. Der Sohn hat dies schon sehr oft gemacht; er ist wie sein Vater Uhrmacher, ist schwindelfrei und hat an verschiedenen Rathäusern und Kirchen bereits selbständig oder mit seinem Vater in schwindelerregenden Höhen gearbeitet.

      Die Arbeit in luftiger Höhe ist für die Kleinstadt ein besonderes Ereignis und so haben sich viele Mitbürger, Kaufleute und Händler, die rund um den Marktplatz wohnen oder ihre Geschäfte betreiben, eingefunden, um das Geschehen zu verfolgen. Die Uhr ist in 60 Meter Höhe angebracht, und man muss mit zwei Leitern arbeiten, wobei die untere immer nach oben mitgezogen werden muss. Der erfahrene Uhrmacher steigt die erste Leiter hinauf. Als er am Ende der oberen Leiter angekommen ist, wartet er ab, bis sein Sohn auf der unteren Sprosse steht und die darunter hängende Leiter heraufzieht, um sie ihm hochzureichen. Er wiederum hängt die Leiter unter höchster Konzentration und Kraftanstrengung, aber mit Ruhe und Geschick, in die oben angebrachten Halterungen ein.

      Beide haben jetzt zwei Drittel der Strecke geschafft und befinden sich auf circa 40 Höhenmetern. Plötzlich sehen die Zuschauer auf dem Marktplatz, wie der Jüngere auf der Leiter unterhalb des Älteren auszurutschen scheint. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Aber der junge Mann fängt sich wieder, klammert sich jetzt aber mit einer Hand am Hosenbein des Vaters fest. Die Leute hier unten hören nicht, was der Vater den Sohn fragt.

      „Was ist los mit dir?“

      „Vater, ich kann nicht mehr. Mir ist schwindlig und ich habe das Gefühl, gleich abzustürzen.“

      Der Alte bleibt ruhig und sagt: „Schau nicht nach unten. Wir halten inne. Ruhe dich aus und atme tief ein und aus.“

      „Um mich herum dreht sich alles, Vater, ich kann hier nicht stehen bleiben. Ich rutsche gleich ab.“

      „Reiß dich zusammen und behalte einen klaren Kopf. Der Schwindel geht wieder vorbei.“ Er fühlt, wie sich sein Sohn an sein Bein klammert und spürt das schwere Gewicht seines fünfundzwanzigjährigen Sohnes. „Du darfst dich nicht an mich klammern. Halte dich an der Leiter fest und schau nicht nach unten!“, sagt er jetzt mit lauter, fester, bestimmter Stimme.

      „Wohin ich auch schaue, alles dreht sich um mich herum“, schreit der Sohn verzweifelt seinem Vater zu.

      „Warte noch einen Moment und denke, dass sich nichts

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