Скачать книгу

bitter. Sein Blick glitt forschend über die versammelten Kollegen und blieb bei Oliver Hell hängen. Als dieser nichts sagte, fuhr er fort. „Wir haben jetzt sechs Wochen lang ermittelt und alles was wir zusammengetragen haben, hängt an dieser traurigen Wand hier!“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Fotos auf der gläsernen Stellwand. Nahm eines der Blätter ab und hielt es den Anwesenden hin.

      „Der Fall Vivien Vandenbroucke, verschwunden seit Sonntag, dem 26. Mai 2013 wird heute zu den Akten gelegt. Wenn Sie mich fragen, ob mir das gefällt, dann muss ich Ihnen sagen: Nein, das gefällt mir überhaupt nicht. Aber wir haben nicht eine neue erfolgversprechende Spur aufzuweisen. Und meinem Team wächst die Arbeit über den Kopf. Wir haben noch drei weitere verschwundene Teenager in den letzten vier Tagen hier in Bonn und auf der anderen Rheinseite. Sobald sich ein neuer Sachverhalt ergibt, werden wir den Fall wieder aufnehmen. Vielen Dank, meine Damen und Herren!“

      „Diese neuen Sachverhalte werden sich kaum auftun, wenn wir nicht weitersuchen“, gab Oliver Hell in diesem Moment als Antwort. Die Augen der Anwesenden Kollegen der Vermisstenabteilung und den Mitgliedern der soeben beendeten SoKo Vivien richteten sich sofort auf René Ostermann. Der drehte sich langsam um und musterte seinen Kollegen lange.

      „Wenn du Zeit und Muße hast, dann kümmere dich weiter um den Fall. Setz einen deiner vielversprechenden Neulinge auf ihn an, vielleicht seid ihr ja schlauer als wir alle zusammen“, antwortete er pikiert. Weder sein Tonfall noch sein Gesichtsausdruck ließen einen Zweifel aufkommen, dass er Hell am liebsten in der Luft zerrissen hätte.

      „Du weißt genau, dass wir nicht weiterermitteln können, wenn du den Fall offiziell schließt. Was ist mit den Befragungen, die noch anstanden?“

      Ostermann sah Hell an, als wolle er auf ihn losgehen.

      „Du bist anmaßend, Oliver. Aber so kennen wir dich ja“, sagte er und blickte in die Runde, als erwartete er Beifall. Doch keiner der Anwesenden tat ihm den Gefallen. Alle spürten, dass Oliver Hell mit seinem Zweifel recht hatte.“

      Ich bin nicht anmaßend, ich möchte eine Antwort auf meine Frage haben, René.“

      „Ich handele auf Anweisung von ganz oben. Verstehst du? Man hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich den Fall zu den Akten legen soll“, antwortete er und biss die Zähne aufeinander.

      „Trotz der noch anstehenden Befragung des Ministers?“, hakte Hell nach.

      Ostermann blieb sich und seiner Antipathie gegenüber Hell auch jetzt treu.

      „Geh hin und frage nach, wenn du mir nicht glaubst“, zischte Ostermann, griff sich seine Aktentasche und verließ den Besprechungsraum. „Du darfst es ihren Eltern mitteilen!“, rief Hell dem Kollegen nach.

      Oliver Hell atmete einmal tief durch. „Wem außer mir stinkt das hier ebenso gewaltig?“ Alle nickten, doch keiner sagte etwas. Die Gleichgültigkeit seiner Kollegen brachte Hell erst recht in Rage.

      „Hier stinkt etwas ganz gewaltig. Kurz vor der Befragung von Dr. Walther Matheissen wird der Fall geschlossen. Hier nimmt die Politik Einfluss auf unsere Ermittlungen und ihr sitzt da und schweigt wie ein Haufen armseliger Würstchen!“ Ärgerlich stieß er die Luft aus. „Das müsst ihr mit euch ausmachen. Auf Wiedersehen, Kollegen!“ Er stand auf und ging. Er konnte es dort nicht mehr aushalten.

      Schnaubend durchquerte er den langen Flur des Dezernats und machte sich auf in Richtung seiner eigenen Räumlichkeiten innerhalb des Dezernats 11, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte. Der Drang, in diesem Fall endlich Gewissheit zu erlangen, war größer als der Respekt, den er seinen Kollegen gegenüber verspürte. Vielleicht verhielt er sich ihnen gegenüber ungerecht. Sie hatten die letzten sechs Wochen alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das vierzehnjährige Mädchen zu finden. Umsonst. Es gab keine Leiche. Vivien Vandenbroucke war von der Schule nicht nach Hause gekommen. Seitdem war sie wie vom Erdboden verschwunden. Die Befragungen der Freunde, der Lehrer und ihres gesamten Umfelds hatten keine Fahndungserfolge gebracht. Sie hatte Bonn auch nicht verlassen, jedenfalls nicht mit Bus oder Bahn, ebenfalls waren alle in frage kommenden Flüge vom Köln-Bonner Flughafen überprüft worden. Ihr Name tauchte auf keiner Passagierliste auf. Kollegen von der Autobahnpolizei hatten Tage damit verbracht, LKW-Fahrern ihr Foto zu zeigen. Ergebnislos. Es war zum Verzweifeln. Die letzte Spur, die noch hätte verfolgt werden können, war jetzt abgewürgt worden. Es gab die Aussage eines Schülers, der in eine Parallelklasse von Vivien ging. Dieser Schüler, sein Name war Tobias Ernst, hatte einen schwarzen Mercedes in der Nähe der Schule gesehen und sich das Nummernschild gemerkt. Er gab zu Protokoll, dass Vivien sich durch das geöffnete Fenster im Fond mit jemandem unterhalten habe. Die Halterabfrage dieses Wagens ergab, dass der Mercedes zum Fuhrpark des Innenministeriums gehörte. Und er wurde fast ausschließlich von Dr. Walther Matheissen genutzt. Natürlich fuhr er nicht selber, sondern bediente sich eines Fahrers. Das Ministerium hatte sich geweigert, den Namen des Fahrers zu nennen, der an diesem Tag den entsprechenden Wagen genutzt hatte. Genauso konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, ob der Minister an diesem Tag seinen Dienstwagen genutzt hatte. Die Staatsanwaltschaft Bonn wollte keine weiteren Ermittlungen erlauben. So kam es noch nicht einmal zu einer Befragung. Wer da auf wen Druck ausgeübt hatte und ob überhaupt, würde nie ans Tageslicht kommen.

      *

      Drei Jahre später. Freitag, 15.07.2016

       Bonn, Hells Garten

      Niemand trachtete in diesen Tagen jemand anderen nach dem Leben. Man hätte von einem mörderischen Sommerloch sprechen können. Das Fachkommissariat für Tötungsdelikte hatte keine aktuellen Fälle zu bearbeiten, daher hatte Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen darauf gedrängt, dass Hells Team seinen alten Urlaub nahm. Ihm selber standen noch zwei Wochen Urlaub aus dem Jahr 2015 zu. Ein paar Tage davon feierte er gerade ab. Hell lag auf der Liege auf der Terrasse, im Schatten eines Sonnenschirmes. Sein Hund Bond lag unter einem Busch und döste. Der belgische Schäferhund war vor mehr als einem Jahr bei ihm eingezogen. Als ehemaliger Polizeihund auf vorgezogener Rente nahm sich der Kriminalhauptkommissar des Tieres an und war glücklich, diese Entscheidung getroffen zu haben. Hinter der Sonnenbrille zog der Bonner Kriminalbeamte die Augenbrauen zusammen. Er blätterte in einem Magazin und dessen Inhalte waren in diesem Sommer wahrlich kein Genuss. Die Briten hatten sich vor kurzer Zeit entschlossen, die europäische Union zu verlassen. Dabei standen sich die Gegner und Befürworter so unversöhnlich gegenüber, dass sogar eine junge britische Labour-Abgeordnete ermordet wurde. Der offenbar psychisch gestörte 52-jährige Attentäter, rief bei der Tat „Britain first!“ Nicht nur die Briten traten für den Austritt aus der EU ein, auch einige der Balkan-Staaten dachten mehr oder weniger laut nach. Nachdem seit dem September 2015 die Grenzen der europäischen Staaten von Tausenden von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Staaten bestürmt wurden, stand die Union vor einer Zerreißprobe. Innerhalb von kurzer Zeit hatte Deutschland fast eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Die Kanzlerin sah sich mit ihrem Kurs einem harten Gegenwind gegenüber. Die Protest-Partei, die noch vor kurzer Zeit als Anti-Euro-Partei Schlagzeilen gemacht hatte, heftete sich jetzt dieses Thema auf die Fahnen und mutierte zur Anti-Flüchtlings-Partei. Alles, was die Koalition aus SPD und CDU in dieser äußerst schwierigen Zeit auf den Weg brachte, die Opposition schrie auf. Hätte man für jeden dieser Flüchtlinge sofort einen Arbeitsplatz gefunden, die Opposition hätte erneut geschrien und gefordert, dass man Flüchtlinge nicht bevorzugen dürfe. Man konnte als Regierungspolitiker nur einen miesen Job machen. Hell hatte sich seine Meinung über all das bereits gebildet. Er sah sich auf der Seite der Kanzlerin, was er selber nie gedacht hätte, da er diese Frau nicht gewählt hatte.

      Er blätterte weiter bis zum Leitartikel des Focus-Magazins. Die Frage war wirklich weltbewegend: Was und wie sollte man denn essen? Vegan, vegetarisch oder doch lieber alt hergebracht? Gottseidank blieb ihm die Antwort auf diese Frage erspart, denn in diesem Moment kam Bond vorbei und legte ihm die Pfote auf das Bein. Er legte das Magazin auf den Boden neben der Liege. „Du hast es gut, Bond. Brauchst nicht wählen, hast immer etwas zu fressen im Napf und auch sonst geht es dir doch hervorragend!“

      Bond bellte, als hätte er ihn verstanden. Hell füllte etwas Trockenfutter in den Napf und

Скачать книгу