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Kartell Compliance. Max Schwerdtfeger
Читать онлайн.Название Kartell Compliance
Год выпуска 0
isbn 9783811453098
Автор произведения Max Schwerdtfeger
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
4. Soft law
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Neben den formellen Rechtsquellen muss die kartellrechtliche Praxis auch das sog. Soft Law[28] berücksichtigen, das insbesondere von der Europäischen Kommission intensiv genutzt wird (regulation by publication).[29] Darunter fallen insbesondere Leitlinien wie hier die „Leitlinien für vertikale Beschränkungen“ („Vertikal-LL“), Bekanntmachungen und Mitteilungen.[30]
a) Rechtsnatur und praktische Bedeutung
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Bei der juristischen Einordnung des Soft Law sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: Die Rechtsnatur (theoretische Bedeutung) auf der einen und die tatsächliche Bedeutung in der Praxis auf der anderen Seite.
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Nach der Entscheidungspraxis des EuGH kommt dem Soft Law als solchem keine rechtliche Bindungswirkung zu.[31] Daraus folgt aber nicht, dass dem Soft Law in der Praxis keine rechtliche oder faktische Bedeutung zukommt.[32] Das Gegenteil ist der Fall. Zunächst beschränken die Vertikal-LL den Handlungsspielraum der Europäischen Kommission.[33] Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Europäische Kommission unter Vertrauensschutzgesichtspunkten an ihre dortigen Äußerungen gebunden.[34] Die Vertikal-LL begründen also eine Art Selbstbindung[35] (ähnlich den Verwaltungsvorschriften in Deutschland).[36] Für die Europäischen Gerichte hingegen entfalten die Leitlinien keine präsumtive Verbindlichkeit:[37] „Die Leitlinien berühren nicht die Rechtsprechung des Gerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Anwendung von Art. 101 AEUV auf vertikale Vereinbarungen.“[38] Eine interpretative Bedeutung misst die Rechtsprechung den Leitlinien gleichwohl bei.[39]
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Auch bei den nationalen Behörden und Gerichten zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis.[40] Formaljuristisch sind die Leitlinien der Europäischen Kommission für nationale Autoritäten nicht bindend.[41] In der täglichen Praxis hingegen orientieren sich Behörden und Gerichte regelmäßig am europäischen Soft Law.[42] Dem Soft Law der Europäischen Kommission kommt damit als Auslegungsstütze und Argumentationshilfe eine zentrale Bedeutung zu. Gleichwohl sollte ein auf Basis des Soft Laws gefundenes Ergebnis nicht unkritisch übernommen, sondern stets näher hinterfragt werden. Dies folgt schon daraus, dass sich die Anwendungspraxis im Zeitverlauf ohne eine entsprechende Änderung des Soft Law ändern kann. Überdies weicht etwa das Bundeskartellamt z.T. auch offen von den Leitlinien der Kommission ab.[43] Zusammenfassend und auf vertikale Vereinbarungen gewendet lässt sich also festhalten: Die Vertikal-LL sind von großer praktischer Bedeutung, allerdings nicht allein maßgeblich.
b) Softlaw der Kartellbehörden im Überblick
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Nachstehend sind die für die Beurteilung von vertikalen Vereinbarungen relevanten Leitlinien, Hinweise und Bekanntmachungen aufgelistet:
Softlaw der Europäischen Kommission | |
Leitlinien vertikale Beschränkungen[44] [Vertikal-LL] | Grundsätze bei der Beurteilung vertikaler Vereinbarungen, insbesondere zur Anwendung der Vertikal-GVO |
Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3[45] [Art. 81 Abs. 3-LL] | Grundsätze zur Auslegung der Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV (ex. Art. 81 Abs. 3) |
Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes[46] [Bekanntmachung Marktabgrenzung] | Erläuterung der Begriffe des sachlich und räumlich relevanten Markts sowie (methodische) Vorgehensweise bei der Marktabgrenzung |
Leitlinien zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels[47] [Zwischenstaatlichkeits-LL] | Grundsätze der Unionsgerichte zur Auslegung des Begriffs der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels i.S.v. Art. 101 und 102 AEUV |
Bekanntmachung zu Vereinbarungen von geringer Bedeutung[48] [De-minimis-Bekanntmachung] | Kategorisierung von Vereinbarungen, die den Wettbewerb nicht spürbar i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV beschränken. |
Softlaw des BKartA | |
Hinweispapier zum Preisbindungsverbot im Lebensmitteleinzelhandel[49] [Hinweispapier LEH] | Zusammenfassung der Erkenntnisse aus dem sog. Vertikalfall[50] mit grundlegenden Ausführungen zu Preisbeeinflussungsaktivitäten von Markenartikelherstellern; Anwendung im Einzelfall nur, soweit Marktverhältnisse eine Übertragung der Wertungen aus dem Vertikal-Fall zulassen.[51] |
Bagatellbekanntmachung[Bagatellbekanntmachung] | Definition geringfügiger Wettbewerbsbeschränkungen, bei denen das Bundeskartellamt nicht einschreiten wird. |
III. Praxisleitfaden für die Prüfung vertikaler Vereinbarungen
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Bevor Abschnitt B. sogleich konkrete vertikale Vereinbarungen und Beschränkungen adressiert, wird nachfolgend zunächst ein Leitfaden für die praktische Vorgehensweise bei der Beurteilung vertikaler Vereinbarungen vorangestellt. Angesichts der möglichen Komplexität der Prüfung sollte dabei grds. schrittweise vorgegangen werden.[52] Der hier vorgeschlagene Ansatz beruht auf der Ordnung der Vertikal-GVO sowie den Vertikal-LL:
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1. Erster Schritt: Vertikale Wettbewerbsbeschränkung
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Nur Wettbewerbsbeschränkungen i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB, also Beschränkungen der wettbewerblichen Betätigungsfreiheit zumindest einer Partei, bedürfen einer Freistellung. Wenn deren Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, kommt es auf die Freistellung nicht an. Die Tatbestandsmäßigkeit nach Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB scheidet etwa aus, wenn eine Vereinbarung das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spürbarkeit nicht erfüllt, also nicht geeignet ist, den Wettbewerb spürbar zu beeinträchtigen.[53] Tatsächlich zu prüfen ist die Spürbarkeit aber lediglich bei bewirkten Beschränkungen. Bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen stellen hingegen „ihrer Natur nach und unabhängig von ihren konkreten Auswirkungen eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs dar.“[54]
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Ungeachtet der Frage der Spürbarkeit sind bei der Beurteilung vertikaler Vereinbarungen auch Tatbestandsrestriktionen zu beachten, die der EuGH (im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung) entwickelt hat. Neben der Beurteilung des Selektivvertriebs spielen derartige Tatbestandsrestriktionen insbesondere in Gestalt sog. Nebenabreden eine Rolle. Insoweit sind für die Erreichung eines Vertragszwecks notwendige Abreden, selbst wenn sie an sich wettbewerbsbeschränkend sind, schon nicht tatbestandsmäßig.[55]
2. Zweiter Schritt: Anwendungsbereich der Vertikal-GVO eröffnet?