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eine disambiguierende Form im Satz auftritt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass diese überhaupt Berücksichtigung findet. Entscheidend für die Satzinterpretation sind besonders Informationen, die früh auftauchen (vgl. hierzu besonders Choi/Trueswell 2010). Besonders mit Blick auf das Deutsche hat dies Auswirkungen darauf, unter welchen Bedingungen eine N>N-Struktur als S>O- oder S>O-Satz interpretiert wird.

      Die hohe formale Ausdifferenziertheit im russischen Kasussystem und die Verfügbarkeit synthetischer Marker führen dazu, dass die Abfolge der nominalen Konstituenten als Indikator für semantische Relationen kaum in Frage kommt. Dies äußert sich in einer relativ variablen Wortstellung, die charakteristisch für das Russische ist.

      Die Übersicht bezieht sich auf einfache Aussagesätze sowie ihre einzelsprachlichen Realisierungsmöglichkeiten.17 Die Beispiele 17 bis 22 zeigen, dass im Russischen dafür sechs verschiedene Wortstellungsmöglichkeiten in Betracht kommen. Jede Variante ist dabei zwar abhängig von pragmatischen Faktoren, allerdings führt keine zu einer Veränderung der semantischen Rollen oder des Satztyps (vgl. Bailyn 1995, 2012 sowie Neidle 1988). Im Deutschen ist die Wortstellungsvarianz deutlich eingeschränkter, was nicht unmittelbar auf eine geringere Validität der Kasusflexive, sondern auf den Stellenwert der Verbposition, die wiederum mit spezifischen Satztypen korreliert, zurückzuführen ist. Lässt man die Position des Verbs außen vor und legt den Fokus auf die Abfolge von Subjekt und Objekt, zeigt sich mit Blick auf die Beispiele 19–22, dass die Reihenfolge der Konstituenten nur bedingt variabel ist. In den Sätzen 20 und 22 ist zwar die Position des Verbs veränderbar, eine O>S-Abfolge jedoch fragwürdig, wenn nicht sogar unmöglich, sofern es sich um nominale Konstituenten handelt.18 Während also die Verbposition im Deutschen relativ flexibel (beziehungsweise grammatikalisiert) ist, ist der Positionswechsel von Subjekt und Objekt stark eingeschränkt. Die Abfolge O > S ist dabei vor allem in Sätzen mit Verb­zweitposition akzeptabel, bei Verberst- und Verbletztsätzen hingegen stark eingeschränkt.

      Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschen und Niederländischen finden sich in Hinblick auf die Grammatikalisierung der Verbposition. Bei der Abfolge der Konstituenten gibt es jedoch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Während die Realisierung des Objekts vor dem Subjekt im Deutschen zumindest in NVN-Sätzen gängig ist, ist sie im Niederländischen schlicht nicht möglich, sodass die Wortstellungsvarianten OVS, OSV sowie VOS im Niederländischen bei Kombination zweier nominaler Konstituten nicht vorhanden sind.19 Während also im Russischen die Abfolge zweier nominaler NPs sowohl auf eine SO- als auch eine OS-Struktur verweisen kann, ist die OS-Lesart im Deutschen auf spezifische Satztypen beschränkt und im Niederländischen nicht vorhanden.

      Trotz der einzelsprachspezifischen Wortstellungsvarianten teilen sich die drei Sprachen eine zentrale Gemeinsamkeit. In allen Sprachen ist die kanonische Konstituentenfolge S>O (Bsp. 17) die neutrale Struktur für aktivische Hauptsätze (vgl. Bailyn 1995, Divjak/Janda 2008, Hawkins 1983 und Tomlin 1986 für das Russische, Musan 2010 für das Deutsche und Bouma 2008 für das Niederländische).20 In allen drei Sprachen wird also das Agens in der Regel satzinitial realisiert und ist morphologisch nicht markiert. Die Abfolge der Konstituenten interagiert mit dem Merkmal der morphologischen Markierung in Hinblick auf die Kennzeichnung semantischer Relationen.

      Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Sprachen ist die Belebtheitsopposition, die als semantische und damit nicht-grammatische Information gewertet werden muss (s. Bsp. 23 und 24).

      Während in Beispiel 23 Konstituentenabfolge und Belebtheitskontrast in einem prototypischen Verhältnis stehen, führt die Belebtheitsopposition in Satz 24 dazu, dass die NPs die Nacht/noč´/nacht als Patiens und die Mutter/mat´/moeder als Agens interpretierbar sind, obwohl die Konstituentenabfolge für eine S>O-Lesart sprechen würde. Die Belebtheitsopposition kann also potentiell die kanonische Konstituentenabfolge als Hinweis auf satzinterne Rollenrelationen aushebeln, die hier aufgrund der fehlenden eindeutigen morphologischen Mar­kierungen als einzige Interpretationsgrundlage aktiviert werden müsste. Die Belebtheit hat folglich das Potential, als zur Konstituentenabfolge konkurrierende Information aufzutreten. Welche Option (Belebtheitsopposition oder Konstituentenabfolge) als Interpretationsgrundlage gewählt wird, hängt vermutlich mit ihrer einzelsprachspezifischen Validität zusammen, sodass es wahrscheinlich ist, dass sich niederländische Sprecher eher auf die Konstituentenabfolge stützen als russische.

      Die Konstituentenabfolge hat für die Kodierung semantischer Relationen je nach Sprache einen unterschiedlich hohen Stellenwert. Im Niederländischen ist sie der hierarchiehöchste, im Russischen der hierarchieniedrigste Indikator. Das Deutsche lässt zwar Wortstellungsvarianz zu, die Relevanz der Konstituenten­abfolge für die Interpretation semantischer Relationen steigt jedoch im Gegensatz zum Russischen durch die hohe Anzahl der Synkretismen im Akkusativ. Stellt man einzelsprachliche Wortstellungsvarianzen und Kasussysteme in Relation zueinander, lässt sich folgende Tendenz beschreiben: Je ausdifferenzierter das Kasussystem und je höher damit die Validität morphologischer Kasusformen, desto variabler ist entsprechend die Wortstellung (vgl. dazu auch McFadden 2003; s. Abbildung 1).21

      Abbildung 1: Interdependenz von Kasusmarkern und Wortstellungsvarianz (kontrastiv)

      Abbildung 1 verdeutlicht das Zusammenspiel zwischen morphologischen Kasusmarkern und Wortstellungsvariationen in den drei untersuchten Sprachen. Das Niederländische ist am linken Pol angesiedelt, da es im nominalen Bereich nur über rudimentäre morphologische Kasusflexive verfügt und gleichzeitig keine Wortstellungsvarianz zulässt. Das Russische ist dem gegenüberliegenden Pol zugeordnet, da die ausdifferenzierte Kasusmorphologie (in Kombination mit einer fehlenden festen Verbstellung) eine große Anzahl variierender Wortstellungstypen zulässt. Das Deutsche bewegt sich zwischen den beiden Polen, wodurch seine typologische Besonderheit deutlich wird (vgl. auch Gladrow 1998: 204). Es ist eine Art Mischtyp.

      Die sprachspezifischen Unterschiede haben Folgen für Verarbeitungsstrategien und -mechanismen. Kempe/MacWhinney (1999) sowie MacWhinney/Bates/Kliegl (1984) belegen für Sprecher des Deutschen, dass die Verfügbarkeit und die Transparenz von Kasusmarkern die Interpretation semantischer Relationen determiniert. Erwartungsgemäß sind in Sätzen wie Den Mann sieht die Frau zwar die Reaktionszeiten höher als bei kanonischen Sätzen, jedoch wird Frau stets als Agens eingestuft. Fehlt hingegen eine eindeutige morphologische Markierung (zum Beispiel in Max gefällt Inge), so wird die Relation zwischen den beiden Aktanten auf der Basis der Wortstellung bestimmt und Max als Agens ausgewählt (vgl. auch Draye 2002). Im Gegensatz zu russischen Sprechern ist jedoch die Verarbeitung von OS-Sätzen für deutsche Sprecher offenbar aufwändiger (vgl. Kempe/MacWhinney 1999). Kilborn/Cooreman (1987) können wiederum für das Niederländische und das Englische zeigen, dass die Wortstellung besonders ausschlaggebend für die Agenswahl ist. Sie stützen damit die Ergebnisse von Bates et al. (1982) für das Englische, was aufgrund seiner zahlreichen Parallelen gut auf das Niederländische übertragbar ist. Um die Relevanz der Konstituentenfolge im Niederländischen zu verdeutlich, soll die Studie von Kilborn/Cooreman (1987) an dieser Stelle kurz diskutiert werden. Kilborn/Cooreman stellen anhand von mono- und bilingualen niederländischen und englischen Sprechern gruppenspezifisch variierende Satzinterpretationsstrategien hinsichtlich der Nutzung von Merkmalen wie Belebtheitsopposition, Konstituentenabfolge und Subjekt-Verb-Kongruenz zur Determination semantischer Relationen heraus. Es wurde unter anderem geprüft, welche Konstituente die Probanden in Sätzen des Typs NVN (De giraffen bijten de vork [Die Giraffen beißen die Gabel]), NNV (De cigaret de kat kust [Die Zigarette die Katze küsst]) und VNN (Bekijt de muis de zeug [Sieht die Maus den Schnee]) als Agens wählen. Während die niederlän­dischen Probanden in allen Satztypen die jeweils erste der beiden NPs zu ca. 60 % als Agens auswählen, entscheiden sich die englischen Probanden vor allem in der VNN-Bedingung häufiger für die zweite NP als Agens. Die Folgerung der Autoren, dass die Wortstellung für die englischen Sprecher ein dominanterer Indikator für semantische Rollen sei, ist dabei nicht ganz nachvollziehbar. Bezogen auf die Abfolge

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