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Anscheinend nahmen die Häuptlinge der Polizei an, bis in diese Räume sei der Täter nicht vorgedrungen, somit gäbe es hier oben nichts zu bergen. Die Häuptlinge hatten beraten, dann entschieden und den Indianer von der Spurensicherung angewiesen, im Schlafzimmer alles zu belassen, wie es war. Vielleicht würden sie später darauf zurückkommen.

      Ein leichter Schwindel erfasste mich. Lag ich mit meinem ersten Eindruck, mit meiner Vermutung so weit daneben?

      Vor mir stand das riesige Bett, links ein mächtiger Schrank und rechts zwei Ledersessel vor einer Stereoanlage, dahinter ein Gestell mit Büchern, daneben eine rustikale Kommode und nahe der Tür ein Spiegel, mannshoch und breit wie ein Scheunentor. Vor dem Schrank lagen zwei Koffer am Boden, beide geöffnet, halb leer, daneben schmutzige Wäsche, aufgetürmt, die Quelle des Geruchs.

      Ich stand immer noch unschlüssig im Raum, da knackte ein Kniegelenk.

      Nicht meines. Ich hatte mich nicht bewegt.

      Jemand kam die Treppe hochgeschlichen! Mein Herz setzte für die Dauer eines Augenaufschlags aus, setzte wieder ein, raste umso heftiger und pumpte mir das Blut mit Wucht an die Schädeldecke. Ich glitt in den Schatten des Schranks, starrte auf die Tür, lauschte angestrengt und atmete durch den Mund, um jegliches Geräusch zu vermeiden.

      Die Schiebetür im Wintergarten! Ich sah sie deutlich vor meinem inneren Auge: Ich hatte vergessen, sie zu schliessen!

      Nichts rührte sich, nichts war zu hören. Hatte ich mich getäuscht? Ich wartete. Ein leichtes Girren verriet, dass die Tür nebenan bewegt wurde, der Duschvorhang raschelte: Ich hatte mich also nicht getäuscht! Er suchte im Bad! Wen? Mich? Wusste er, dass ich im Haus war? Hatte er das Licht gesehen, meine Bewegungen registriert?

      Wieder Stille. Dann ein Schaben vom Teppich her, die Tür bewegte sich vor meinen Augen, sie wurde aufgestossen, langsam, unaufhaltsam, eine Taschenlampe erschien, blitzte auf und ich verlor keine Zeit mehr: Mit einem Satz war ich dort, packte den Arm hinter der Lampe, riss ihn über meine Schulter und gleichzeitig nach vorne, stemmte meine Hüfte gegen den Körper – und erkannte meinen Fehler zu spät: Sie stöhnte in mein Ohr und ihr Pferdeschwanz kitzelte meinen Hals, während sie über mich hinweg segelte, bevor sie aufs Bett krachte.

      Ich suchte den Lichtschalter, machte Licht und half ihr auf, gab ihr die Taschenlampe zurück und schaute zu, wie sie sich die Uniform glatt strich, die Mütze zurechtrückte und sich am Ende kritisch im Spiegel prüfte. Sie atmete tief und schwer und rechtfertigte ihr Erscheinen mit den Worten: «Du bist kein Polizist … mehr.»

      Sie duzte mich. Sie stand sehr nah, so nah, dass ich in ihren Augen ein Flackern sah: eine Mischung aus Zorn, Schrecken und Begehren.

      «Ich habe die Zentrale angerufen», ergänzte sie und wandte sich ab, «sie haben gesagt, du gehörst seit einem Jahr nicht mehr zu uns.»

      5

      Am nächsten Morgen fuhr ich gegen neun Uhr in meine Agentur. Ich hatte in der Altstadt eine Wohnung gemietet, dort unten, wo die Mietpreise eingebrochen waren, nachdem die Aare innerhalb von zehn Jahren drei Mal über die Ufer getreten war und sich als reissender Strom durchs Quartier gewälzt hatte. Alle hundert Jahre einen überschwemmten Keller, das hatten die Leute bisher hingenommen. Aber die Aussicht, künftig alle drei bis acht Jahre ein Jahrhunderthochwasser zu erdulden, alle drei bis acht Jahre eine bis zu den Bildern hinauf verschlammte Parterrewohnung, ein ramponiertes Auto und einen verwüsteten Garten in Kauf zu nehmen, das setzte zu. Die Beteuerungen der Politiker, mit baulichen Massnahmen entlang den Uferzonen die Flutwellen vor dem Erreichen der Stadt zu besänftigen, erinnerten an Heilsversprechen von Handauflegern und brachten die unerschütterlichste Optimistin dazu, die Wohnungsinserate zu studieren. Was nützen Stollen, Dämme, Renaturierungen entlang des Flusses und Korrekturen an der Betonschwelle vor der Stadt, wenn sich das Klima ändert und sintflutartige Wolkenbrüche zu einem wiederkehrenden Ereignis werden? Niedergehende Wassermassen müssen in den Bergwäldern und auf den Alpen gebremst werden. Sind sie einmal im Flussbett angelangt, donnern sie mit einer ungeahnten Wucht ins Tal und verlassen auf ihrem Weg ins Meer das steinerne Korsett überall dort, wo es eng wird. Höhere Dämme verlagern den Schlamassel bloss weiter flussabwärts.

      Das fabelhaft besonnte Quartier leerte sich: Zuerst flüchteten die gutsituierten Paare mit ihren Hunden, dann zogen die Familien weg, und mit ihnen verschwanden die Kinderwagen, die Fahrradanhänger und das Geschrei und Gelächter in den Gassen. Zurück blieben die älteren Herren in den Obergeschossen, denen die ehrwürdigen Bauten auf dem Papier gehörten, und die Damen mit ihren Katzen, die im ersten Geschoss logierten, und die Einzelgänger, die in den winzigen Nebenwohnungen hausten und für die das Leben ohnehin und überall aus einem Kampf ums Überleben bestand.

      Bis dann die Mietpreise fielen. Darauf erwog mancher Krämer oder Lebensberater, manche Fussreflexzonenmasseurin oder Friseurin sich in einer leeren Erdgeschosswohnung einzurichten. Das Quartier belebte sich neu.

      Ich wohnte damals in Langnau und brauchte eine Adresse in Bern. Was lag näher, als mir eine günstige Wohnung zu mieten und darin die Agentur einzurichten? Ich fand eine, die lag in einer Seitengasse in der Matte. Die wenigen Akten verwahrte ich in der Küche, in Metallkoffern auf Rädern, so konnte ich sie rasch und mit wenig Aufwand in Sicherheit rollen.

      Der Eingang führte aus einen Hinterhof direkt ins Wohnzimmer. Ich machte daraus ein Wartezimmer.

      Vorne, an der Durchgangsstrasse, befand sich das Restaurant Matte, in dem Rosi das Zepter in der Hand hielt. Als ich sie zum ersten Mal sah, einen Tag nach meinem Einzug, trug sie Gummistiefel und Gummihandschuhe und schrubbte zusammen mit ihrer Angestellten den trockenen Schlamm und die Algen von den Fensterbänken. Es waren drei oder vier Wochen vergangen seit dem Unwetter, und die Pegelstände hatten sich normalisiert. Die Sonne schien morgens um zehn Uhr, als wollte sie die Menschen im Quartier versöhnen.

      Ich blieb vor dem Eingang stehen und sah den beiden einen Augenblick zu. Sie ging an mir vorbei ins Restaurant, kam mit einer Drahtbürste wieder heraus, und bevor sie erneut zu schruppen begann, blieb sie stehen und sagte: «Für einen Versicherungsmann bist du zu wenig fein angezogen … Für einen Vertreter riechst du zu wenig penetrant … Für einen Lebensberater hast du zu kräftige Hände. Was bist du? Pfarrer?»

      «Nein», ich musste lachen.

      «Also doch Polizist», sie streckte sich, strich sich mit der einen Hand übers Kreuz und mit der anderen eine Strähne aus dem Gesicht, seufzte, blickte mir in die Augen und fragte: «Was willst du, Nachbar, uns ausspionieren?»

      Sie trat noch näher vor mich hin und blickte mir tiefer in die Augen; sie war nur zwei Millimeter kleiner als ich, und mit ihrer Selbstsicherheit, gespickt mit Vorwitz, wäre sie selbst als Pfarrerin durchgegangen.

      «Für eine Wirtin bist du zu direkt!», gab ich zurück.

      Worauf sie die Bürste hinwarf, die Handschuhe auszog und mich einlud: «Komm herein, ich gebe einen aus.»

      Sie war hier geboren, und es gab für sie keinen Ort auf der Welt, an dem sie lieber leben würde, wie sie mir später mehr als ein Mal versicherte. Das war nicht immer so gewesen. Sie hatte einige Jahre auf einem Hochseeschiff gekocht, in Hongkong und später in Vancouver ein Restaurant geführt und war an beiden Orten verheiratet gewesen. Vor fünf oder sechs Jahren hatte sie ihr ganzes Geld zusammengelegt, dieses Haus einer Tante abgekauft und das Restaurant Matte eröffnet. Deshalb zog sie nicht weg, und auch weil sie, wie sie sagte, zurückgekommen war, um da alt zu werden, wo sie ihre Milchzähne vergraben hatte, und wo sie, später, im selben Garten, mit einem Jungen aus der Oberstadt die ersten Küsse ausgetauscht hatte.

      Seit ich meine Agentur hier hatte, kehrte ich regelmässig bei ihr ein, oftmals am Morgen, um die Zeitung zu lesen und wach zu werden, mittags zum Essen (sie kochte wunderbare asiatische Menus) oder nachts auf einen Single Malt.

      Wenn sie in der Früh den Vorplatz säuberte, trug sie stets Handschuhe. Sie stellte eine Kiste in die Mitte, suchte den Platz nach Spritzen ab, sammelte die leeren Flaschen ein und fegte schliesslich Pizzaresten, Getränkedosen, Hundekot, Laub und Quittungen zwischen den Stühlen zusammen. Oder sie stand ganz einfach unter der Tür, mit aufgestützten Händen, schaute nach dem Wetter,

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