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nicht eigentlich gelogen zu haben. Die Leute von der Stadtpolizei hatten seit jeher eine falsche Vorstellung und zu grossen Respekt vor den Kollegen der Kantonspolizei.

      «Hätten Sie gleich sagen können», meinte sie, schloss die Zeitung – es war der «Blick» –, legte sie zur Seite, griff nach dem Logbuch, schlug es auf, strich mit ihrer schlanken Hand übers Papier, suchte zwischen Aschenbecher, Zigarettenpackungen, Trinkbecher, Thermosflasche, Mobiltelefon und dem «Blick» umständlich den Kugelschreiber und fragte nebenbei nach meinem Namen.

      Meine Augen waren ihrer Hand gefolgt und an der Titelseite des «Blicks» hängengeblieben. «Auftragsmord?», stand dort in dicken Buchstaben. Jetzt wusste ich, was im Dossier fehlte: der Artikel aus dem «Blick»! Die anderen Zeitungen berichteten oder zitierten, die Redaktion des «Blicks» hingegen trieb ihre Journalisten zu mehr an, und diese kannten keine Skrupel, stellten Mutmassungen an, prophezeiten, tadelten, verurteilten im Voraus und gingen in ihren Beiträgen regelmässig einen Schritt zu weit. Nicht selten lag der «Blick» falsch mit seinen Annahmen und sah sich mit einer Verleumdungsklage konfrontiert. Was seine Leserinnen und Leser keineswegs abschreckte, im Gegenteil, Sensationslüsternheit ist die Schwester der Schadenfreude, und beide hausen bekanntlich in jedem von uns.

      Hie und da half der «Blick» mit seinem professionellen Gespür und seinem weiten Netz von Informanten, einen Skandal aufzudecken, und manchmal, selten zwar, trug er dazu bei, die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung zu lenken und ein Verbrechen aufzuklären.

      Sie hatte den Kugelschreiber gefunden, blickte auf die Uhr, trug die Uhrzeit ein und wiederholte ihre Frage, diesmal mit dem leichten Unterton der Ungeduld.

      Mir gefiel ihre Stimme, sie klang ausgeruht und sinnlich.

      «Bergmann», sagte ich, «Alexander Bergmann, und wie heissen Sie?»

      Sie trug meinen Namen ein und fragte: «Wie lange werden Sie drin bleiben?»

      Ich hob die Schultern: «Was weiss ich, zwanzig, dreissig Minuten? Jedenfalls nicht die ganze Nacht. Wann werden Sie denn abgelöst?»

      Sie zeigte keine Reaktion auf meine Fragen, ihr Lächeln blieb, wie es war: versponnen. Sie schob ihrem Kollegen die Schlüssel zu, er grabschte sie sich vom Tisch, zog seinen Bauch ein, rückte seine Hose zurecht, liess den Bauch wieder dahin zurücksacken, wo er am hässlichsten wirkte, gab mir mit einem Wink zu verstehen, ihm zu folgen, und stapfte zum Gartentor.

      Ich legte das Dossier in meinen Wagen, wühlte im Handschuhfach, fand meine Pistole und die Taschenlampe, steckte die Lampe ein und liess die Waffe, wo sie war. Als ich zu ihm trat, hielt er das Tor für mich auf und meinte: «Muss Ihnen wohl nicht sagen, dass Sie nichts anfassen, nichts verändern dürfen.»

      Ich seufzte: «Ich weiss, die Spurensicherung ist noch nicht abgeschlossen», und quetschte mich an ihm vorbei.

      Irgendein verdeckter Sensor schaltete eine Reihe von Laternen ein, die auf Kniehöhe den Steinplattenweg zum Haus erhellten.

      Nach einigen Schritten wartete ich auf ihn und sah zu ihr zurück. Sie sass am Tisch, aufrecht, hellwach, die Augen beschattet, die rot gefärbten Lippen voll im Licht. Ich gebe zu, sie bot einen hinreissenden Anblick.

      Er rasselte mit den Schlüsseln, als gälte es, Geister zu vertreiben, schritt voran und kämpfte sich die künstliche Anhöhe hinauf, mit pfeifendem Atem und ohne nach links oder rechts zu schauen. Ich folgte ihm zum Hauseingang und beobachtete die Umgebung. Auf der Strasse herrschte ein steriles Licht, das von den Sparbirnen der Strassenlaternen stammte.

      Als ich zur Schule ging – und das ist zwanzig Jahre her –, brannten in unserem Dorf die Strassenlaternen hoch über der Strasse und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht zwischen den Häusern. Eines Winters, auf dem Heimweg von der Schule, es schneite dicke Flocken aus dem nächtlichen Vakuum, schleuderten zwei Kameraden und ich Schneebälle hinauf, abwechselnd, um die Wette. Zwei passten auf, der Dritte schoss. Mogeln war ausgeschlossen, die Glühbirne bestimmte den Sieger. Es trafen einige Bälle den Rand des Schirms, doch ich gewann. Bei meinem Wurf erlosch die Birne mit einem elektronischen Seufzer, der mir bis heute in den Ohren nachhallt.

      Später wurde ich Polizist, trotz solcher Streiche, und nach sieben Jahren durfte ich den Dienst wieder quittieren.

      In dieser Strasse befand sich die letzte Laterne auf der Höhe des vorletzten Hauses. Fledermäuse gaukelten lautlos hin und her und schnappten sich die verwirrten Falter. Das weisse Licht floss in den Garten, schuf hinter der Einfriedung, die das Grundstück zur Strasse hin abgrenzte, einen tiefschwarzen Schatten, tauchte den Rasen in ein fahles Grün und hob das Rot der Astern, das Gelb der letzten Rosen und das Grau der Granitplatten aus dem Halbdunkel hervor. Am Ende der Strasse bildete ein Maschendrahtzaun die Grenze zum Maisfeld. Die ausgewachsenen Pflanzen dahinter standen wie stumme, grüne Wächter, vom Licht gerade noch erreicht und vom Schatten der Drahtmaschen bis zur Hälfte hinauf gemustert.

      Ich blieb stehen und lauschte. Von Osten her legte sich ein Rauschen, das von der Autobahn stammte, wie eine Firnis über alle feinen Geräusche der Nacht. Der Lärm war schwach, aber durchdringend und störte die an sich friedliche Stimmung.

      Der Mann hatte die Beleuchtung im Flur angeknipst, hielt die Haustür auf und wartete geduldig. Als ich an ihm vorbei war, sagte er: «Ich schliesse nicht ab, melden Sie sich bei uns, wenn Sie fertig sind.»

      «Wieso hat jemand mit so einem Garten keinen Hund?», wollte ich wissen.

      «Soweit ich weiss», murmelte er, «hatten Schilds einen Hund. Einen Setter. Sie haben ihn vor ihren Ferien ins Tierheim gebracht. Da wird er wohl noch sein.»

      Dann murmelte er noch etwas, das ich allerdings nicht verstand.

      «Ach?», sagte ich, «da muss ich im Dossier was übersehen haben.»

      Ich wollte mehr darüber erfahren, er aber hörte weg und schlug mir die Tür vor der Nase zu.

      4

      Ich stand im Flur, allein und im Schein der Punktlichter, die in die Decke eingelassen waren. Der Spiegel an der linken Wand und das Glas des Bildes an der Wand gegenüber, auf dem ein Segelschiff mit zwei Masten in voller Fahrt zu sehen war, vermehrten das Licht zu tausend glühenden Klarheiten. Und das Weiss der Wände bauschte die Helligkeit bis zur Unerträglichkeit auf. Ich schritt blinzelnd durch diese schwelende Helligkeit und spürte, wie mir das Licht unter die Haut drang und all meine Sünden und Laster blosslegte.

      Einen Moment hatte ich erwogen, meine Schuhe auszuziehen, liess es dann aber bleiben, denn der Spannteppich unter meinen Füssen war verdreckt und glitschig, und bei jedem Schritt raschelte oder knirschte es.

      So ein Mord zieht einen Tross von Leuten an, und sie waren alle durch das Haus gezogen. Der Arzt, der Leichenbestatter, Bezirksanwalt, Regierungsstatthalter, Gemeindeschreiber, dann die Fahnder, Spurensicherer, Fotografen, Journalisten, Polizisten und Nachbarn, nebst den nächsten Angehörigen natürlich. Es kommen immer alle, die glauben, sie könnten früher oder später in irgendeiner Form mit dem Fall konfrontiert sein und sie wären dann ausserstande, ihre Aufgabe zu bewältigen, wenn sie keinen Augenschein genommen hatten. Kommt hinzu, dass manch eine Amtsperson in Begleitung eines Praktikanten erscheint, oder eines Kollegen aus einem anderen Kanton, der zwecks Koordination des Vollzugs zufällig zu Besuch ist.

      Mit Sicherheit waren alle im Garten und womöglich im Maisfeld herumgelatscht und hatten mit ihren Schuhen nasse Erdklumpen, Laub und Kieselsteine hereingeschleppt.

      Es gab eine Garderobe mit einem Regenhut oben auf der Ablage, einer Regenjacke und zwei oder drei Reportermänteln, einer Hundeleine an einem separaten Haken und einem Paar dick besohlten Schuhen, daneben ein Paar Gummistiefel. Ausrüstung für die Gassigänge mit einem Hund.

      Der Flur endete an der Küche; links führte eine Treppe in den oberen Stock, daneben gab es zwei Türen, die offen standen. Hinter der ersten Tür befand sich die Toilette, hinter der zweiten die Treppe in den Keller. Rechts lag das Wohnzimmer. Ich durchquerte die Küche und trat hinaus in den Wintergarten, der auf der hinteren Seite des Hauses lag und von der Strasse her nicht zu sehen war. Die hellen Fliesen in der Küche und im Wintergarten waren dort, wo der Tross

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