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zu dunkeln, hinter den schwarzen Umrissen der Parkbäume funkelte tiefblau der Abendhimmel.

      Marty presste beide Fäuste gegen die Schläfen, es muss einfach einen tieferen Sinn für diesen wahnwit­zi­gen Albtraum geben. Erregt schloss er die Balkontür und setzte sich mir gegenüber an den Tisch, der alte, verzogene Fensterflügel klirrte ob der uneleganten Heftigkeit.

      Er zermartere sich das bockige Gehirn, wie es nach der Klinik weitergehe. Man könne das kaum als Leben bezeichnen, so wie er zurzeit Tag für Tag hinter sich bringe und mühsam einen Lebenslauf zusammenstückle, der ihn zunehmend befremde. Leben bedeute doch, Wünsche zu haben. Er habe keine. Ohne Erinnerungen keine Wünsche und somit auch keine Lebensziele. Da habe einer die Tür hinter ihm zugeschlagen. Die Neuschreiberei des Journals bringe nichts, er bedaure, aber er steige aus dem Schreibprojekt aus.

      Ich hatte es geahnt, wollte aber unter allen Umständen den vorzeitigen Abbruch verhindern. Falls es nicht gelingen sollte, damit die Gedächtnisblockade zu lockern, nicht einmal Haarrisse zu provozieren, durch die feinste Erinnerungen zu dringen vermochten, dann habe er sich mit den neu formulierten Texten immerhin doch Wunscherinnerungen erschrieben, habe zumindest etwas in der Hand respektive im Kopf, und vielleicht reiche dies bereits, damit sich Ziele und Wünsche für die Zukunft formierten, seien sie noch so bescheiden.

      Marty blickte mich nachdenklich an. Klingt nachvollziehbar. Er stand auf, begann zwischen Tisch und Fenster hin und her zu gehen, blieb dann schließlich vor mir stehen. Gut, er werde also versuchen, mögliche, wahrscheinliche, wünschbare Vorstellungen zu entwerfen, wie das Leben seines Alter Ego in den vergangenen drei Monaten gewesen sein könnte. Aber er zweifle, ob man mit Wörtern das Vergessen zurückbuchstabieren könne. Trotz Lizenz zum Lügen. Sein Lächeln geriet ziemlich schief.

      Das war am Sonntagabend, am folgenden Freitagmorgen brachte Marty die ersten Überarbeitungen seines Royan-Journals, oder, wie er zu sagen pflegte, der «Aufzeichnungen des Anderen», auf dem USB-Stick zum Ausdrucken ins Sekretariat und hinterließ die Mitteilung, dass er um ein zusätzliches Gespräch mit mir außerhalb der abgemachten Sitzungen bitte, so bald wie möglich.

      Royan, Montag, 5. Mai 2003

      Die Geschichte ist besser vorstellbar, wenn zuerst die Kulissen aufgestellt werden. Royan. Badeort mit kleinstädtischem Charakter an der französischen Westküste, genauer am nördlichen Ufer der Girondemündung gelegen, es ist nicht ganz klar, ob das Wasser bereits dem Atlantik oder noch der Gironde gehört, jedenfalls salzig, aber in der Ferne sieht man das gegenüberliegende Ufer. Achtzehntausend Einwohner und in der Badesaison über hunderttausend mehrheitlich französische Sommergäste. Vorzeigestadt für Fünfzigerjahre-Stadtarchitektur, fast in Reinkultur, fast museal. Architekturschulen studieren am Objekt die für den Wiederaufbau in den Fünfzigern entwickelte neue Architektursprache, royano-bré­silien. Eine Mischung von Bauhaus aus den Zwanzigern, Art déco aus den Dreißigern und dem brasilianischen Lyrismus eines Oscar Niemeyer aus den Vierzigern. Je­denfalls gewöhnungsbedürftig.

      Doch die Vergangenheit geistert herum, will sichtbar werden. Jahrhundertwende, Belle Époque, die Eleganz des pompösen Grandhotels, der Casinos, Tennisplätze, gestreiften Strandkabinen, prächtigen Badehotels und Sommervillen. Im herrschaftlichen Seebad Royan traf sich die Welt, Künstler, Dichter, ganz Paris und die Reichen aus Bordeaux. Meerbäder kamen in Mode, die Perle des Ozeans, wuchs und glänzte während Jahrzehnten, überstand den Ersten Weltkrieg ohne Kratzer, aber nicht den Zweiten. Das Ende der luxuriösen Epoche kam in drei Schritten. Die sozialistische Regierung hatte 1936 in Frankreich zwei Wochen bezahlten Ur­laub eingeführt. Der Volkssturm auf die Seebäder brachten Royan die zweifelhaften Segnungen des modernen Massentourismus, der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 24. Juni 1940 nahm dem Badeort sodann allen Glanz. Aber endgültig beendet wurde die prunkvolle Vergangenheit mit der beinahe kompletten Zerstörung der besetzten Stadt durch alliierte Bomber am 5. Januar 1945.

      Danach blieb nur ein resoluter Blick in die Zukunft. Etappenweise eine Stadt vom Reißbrett aufbauen, mutig im Zeitgeist der radikalen Moderne, weder geleitet von pragmatischer Ökonomie noch nostalgischer Res­tau­ration. Aber mögen muss man diesen Fünfzigerjahre­architekturstil schon. Zum Beispiel der berühmte Front de Mer, Symbol des eigenwilligen Wiederaufbaus von Royan in den Fünfzigern, mittlerweile mehrmals renoviert, Bausubstanz eher schlecht, und unübersehbar auf allen Ansichtskarten. Zwei je fast zweihundert Meter lange Gebäude mit Appartements, nur drei Stockwerke hoch, die in einer elegant gezogenen Kurve der Linie des Meers folgen und die dahinter liegende Stadt abschirmen. Aber eine imaginäre Wasserlinie, die ganze Anlage liegt nicht mehr am Meer. Das kleine Stadtzentrum, symmetrisch angelegt, dominieren großstädtisch doppelspurige, um nicht zu sagen großspurige Boulevards.

      Hier trifft man auf JP. Er ist seit zwei Tagen in Royan, ein heller, heißer Nachmittag. Er schlendert den menschenleeren Cours de l’Europe hinunter, kneift die Augen zusammen, hält von Zeit zu Zeit die schützende Hand davor. Die Hitze schmerzt in den Augen, er drückt sich in den schmalen Schattenstreifen, den die Häuser gnädig noch bieten, aber immer wieder gezwungen, ei­nem Hindernis auszuweichen, einige Schritte in der Mit­te des grellen Trottoirs zu gehen, mal sind es die leeren Stühle eines Cafés, die Leute sitzen drinnen, mal parkt einfach ein Auto auf dem Gehweg, normale Sache hier, keinen störts, alle tuns. Die verrückten Hochsommertem­peraturen lähmen die Menschen, die noch auf Wärmesuche eingestellten Körper wissen nicht, wie das plötzliche Zuviel abwehren. Gereizt wischt er sich über die Stirn. Obwohl mit leichter Sommerhose und Kurzarmhemd bekleidet, leidet der aus der kühlen Schweiz Angereiste stärker als die Einheimischen.

      Er zögert, unklar, in welche Richtung es ihn zieht. Es ist halb zwei, in Frankreich sitzt zu dieser Zeit bei Tisch, wer etwas auf sich hält, alles ruht, daran wird sich JP gewöhnen müssen. Er durchschreitet die breite Parkanlage, bemerkt die verlassenen Boulefelder unter Pinien und Akazien kaum und überquert die Fahrspur achtlos, bis er im Schatten der weißen Häuser auf der linken Seite angelangt ist. Man bemerkt sofort, dass er nicht zu den Zweitwohnungsbesitzern gehört, den frohgemuten Rentnern, die sich am Ende des Arbeitslebens in Royan eine kleine Wohnung leisten. Obwohl er etwa im gleichen Alter ist, fehlt ihm die lederne Sportlichkeit der junggebliebenen Senioren. Seine Kleidung zeigt aber auch keinerlei touristischen Missgriffe, er verkneift sich die Sonnenbrille, die ihn, Anfang Mai, ohne jeglichen Zweifel als Touristen deklassiert hätte. Er trägt eine mappenähnliche Umhängetasche und über die Schulter eine am Zeigefinger aufgehängte Wildlederjacke. Richtig, die gleiche Jacke und dieselbe Geste, nicht zu leugnen.

      Einer, der in der Morgenkühle aus dem Haus gegangen ist und doch eindeutig kein Einheimischer, seinem Gang fehlt deren Zielstrebigkeit. Eine kaum merkliche Verzögerung beim Aufsetzen des Fußes, erwartungsfreu­dig, sofort bereit, die Richtung zu ändern, verrät den Neu­angekommenen. Intensiver Schwebezustand, er saugt das Fremde ein, labt sich am Unbekannten, es sprengt das Herz, die Freiheit ist zum Greifen, ein Luftsprung und ein Jauchzer sind jetzt das einzig Richtige. Nur innerlich, versteht sich, JP ist Schweizer. Das bisschen Exotik des Badeorts, das bisschen salzige Meeresbrise, das reicht noch nicht, um fünfzig Jahre Wohlbenehmen und Selbstkontrolle abzuwerfen wie ausgetragene Kleider. Es wird noch etwas dauern.

      JP bleibt unschlüssig am Ende des Cours de l’Europe stehen. Alle Geschäfte geschlossen, teilweise sogar die Gitter heruntergelassen. Auch die Grünanlage ist ausgestorben, sie wird gegen Ende des Boulevards schmaler, Sträucher ersetzen die Pinien, Parkplätze bald diese und schließlich beendet ihn ein erhöhtes Asphaltdreieck mit Verkehrsampel und Wegweisern. Weiße Stille liegt über dem weiten Platz vor der Post. Warum ist er überhaupt jetzt und hier in Royan? Gute Frage. Eigentlich zwei Fragen.

      Jetzt: weil er ausgelaugt ist, zynisch, jeder Schultag wurde unerträglicher. Sein Antrag auf ein Freisemester, Sabbatical klingt besser, ist ihm anstandslos bewilligt worden. Wiedersehen am Montag, 18. August, zum neuen Schuljahr. Er fährt sich über die feuchte Stirn. Vieles muss sich in diesen knapp vier Monaten ändern. Diese Leere, nicht einmal Schülerarbeiten kann er mehr beurteilen, alle Kriterien sind ihm abhanden gekommen. Keine Ahnung, was gut ist, was ungenügend, wer ist so anmaßend, das wissen zu wollen. Ihm ist einfach scheißegal, was die Schüler schreiben, denken, nicht denken, nicht überlegen, nicht wissen. Was hat das mit ihm zu tun?

      Eine

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