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mit seiner Frau schlafen wollte, bei ihm staute sich ausreichend körperliches Bedürfnis, seit einer halben Ewigkeit keinerlei Aktivitäten, auch kein Alleingang. Und so ist es geschehen, sie haben sich geliebt oder vielmehr, sie hatten ehelichen Geschlechtsverkehr, und der ist sogar ziemlich gut gewesen. Wenn er mit den rar gewordenen Kontakten davor vergleicht. Annet nachgiebig, beinahe ein Anflug von Leidenschaft, wie er sie sich wünscht, keine Missverständnisse, beide kennen sie die Regeln und die Reaktionen des andern, wissen, wo die Sackgassen liegen. Alles eingeschliffen und über die Jahre geglättet. Das ist auch gut so. Kein Bedürfnis nach neuen Praktiken und Unruhe, nicht mit der Frau.

      Der Kellner will wissen, ob er noch was wünsche, er schüttelt unwillig den Kopf, sitzt er etwa schon zu lange hier? Er ist überzeugt, kein schlechter Liebhaber zu sein. Seit physische Entspannung nicht mehr so drängt, ist er aufmerksamer, ob sie auch wirklich will, und gelassener, wenn er ihre Ablehnung spürt. Verloren aber auch die Verführungsenergie. Annets Ausweichen wird zu ihrer beider Gewohnheit, reizt sein Begehren nicht mehr.

      JP bestellt doch noch einen Kaffee, jetzt beginnt die Zeit der schonungslosen Ehrlichkeit. Er ist keineswegs unglücklich, von der Frau in dieser Hinsicht nicht mehr gefordert zu werden. Offen gestanden, sogar erleichtert, dass sie ihn in Ruhe lässt. Ist sexuelle Unlust der Anfang vom Ende? JP blickt, er merkt es nicht, einer jungen Frau nach, die zwischen den Tischen Richtung Bar balanciert. Er ist wie so viele seiner männlichen Artgenossen überzeugt, sich gegen Verführungen im Griff zu haben. Nein, die Möglichkeit eines amourösen Abenteuers war bei der Planung des Urlaubs nie ein Hintergedanke, wirklich nie.

      Und seine Frau? Vielleicht ist Annet sehr wohl für die Aufmerksamkeit eines fremden Mannes anfällig. Wenn er erst mal aus ihrem Blickfeld ist. Er schluckt, keine Lust, darüber nachzudenken. Gereizt zieht er sein Porte­monnaie aus der Hosentasche, der Kaffee inzwischen kalt, auch die Zeitung heute unglaublich langweilig.

      Er legt die Münzen ins Tellerchen mit der Quittung, steht auf und tritt auf den Platz hinaus, schon beinahe elf, wieder das grelle Grau, die Wolken werden sich bald auflösen, er spaziert mit der Menge Richtung Markthalle. Dort herrscht reges Treiben, vorwiegend älteres Pub­likum. Zahlreiche Zweitwohnungsbesitzer sind übers Wochenende angereist, man trifft sich, bleibt stehen, ­be­­­­vorzugt dort, wo der Durchgang eh schon eng ist. JP drückt sich unwillig an den plaudernden Hindernissen vorbei. Nerv dich nicht, du hast Zeit, er schlendert zu den farbenfrohen Gemüsen und Früchten, duftenden Erdbeeren, Spargeln, ersten Artischocken aus der Bre­tagne, frischen sandigen Karotten, Frühlingszwiebeln, Bergen von Salaten, das meiste aus der Region. Annet wird begeistert sein.

      JP tritt durch einen der Bögen in die Markthalle und ist auf Anhieb fasziniert, tatsächlich eine Muschel, über ihm wölbt sich ein gigantisches rundes Betondach mit gewellten Rändern, die an dreizehn Punkten auf dem Bo­den aufsetzen und das Ganze tragen, ohne jegliche Innenstütze. Am höchsten Punkt im Dach sind Glasziegel in den Beton eingelassen, von denen sternförmig Licht in die Halle strömt und ihr etwas Magisches verleiht.

      Eindrücklich, nicht wahr? Die Frau lacht hell, sie ist unbemerkt neben JP getreten, während er in die Höhe staunt. Françoise. Sie schaut ebenfalls hoch, erklärt ihm, die Markthalle sei das einzige Gebäude aus der Reconstruction in den Fünfzigern, das von allen Leuten mit Begeisterung aufgenommen wurde, im Gegensatz zu den andern Bauten, insbesondere der Kirche, da bekämpften sich über Jahre die Lager der enthusiastischen Befürwor­ter und der vehementen Gegner.

      JP überfällt augenblicklich ein unangenehmer Zustand, zwischen Aufregung und Schüchternheit, eines Schuljungen. Aus Verlegenheit, ihm fällt partout nichts Gescheiteres ein, und er möchte um alles in der Welt verhindern, dass sie gleich weitergeht, bittet er Françoi­se um Tipps einer Einheimischen, wer der beste Metzger sei. Warum bist du bloß so trottelig, es gibt keinen Grund.

      Sie führt ihn zu Maître Boucher Gérard, alles Tiere aus der Region, hier geschlachtet und von Maître Gérard selbst verarbeitet, sie empfiehlt ihren Kursteilnehmer aus der Schweiz dem Metzgermeister, nur das Beste vom Besten bitte. Das bringt ihn vollends aus der Fassung, hastig kauft er ein gewichtiges Stück Rinderfilet, eine ganze Kalbshaxe und eine riesige Côte de ­bœuf, ausreichend für drei Personen. Unmöglich, sich nach dieser zuvorkommenden Einführung durch Françoise einfach mit einem Schnitzelchen zu begnügen, er übersieht ihren verwunderten Blick, hofft inständig, dass es im Kühlschrank ein Gefrierfach gibt.

      Françoise hat bereits den Großteil ihrer Einkäufe er­ledigt, er will noch ein paar Austern kaufen, schließlich sei hier die Hochburg der Austernproduktion. Beide Hände hat er schwer behangen mit Plastiktüten in allen Farben, als Françoise vorschlägt, gemeinsam den Aperitif zu nehmen. JP ist mehr als einverstanden, unbedingt den köstlichen Augenblick in die Länge ziehen. Er hat sie nicht einzuladen gewagt, will auf keinen Fall aufdringlich sein.

      Sie finden im Café an der Ecke des Boulevard Briand mit Glück ein freies Tischchen, draußen, nun scheint tatsächlich die Sonne, langsam weiß er die Entwicklung des Wetters einzuschätzen. JP hat allerdings in der halben Stunde, in der sie dort sitzen und an ihrem Pastis respektive Kir nippen, nicht sehr viel von der Dame an seiner Seite. Ständig gehen Leute vorbei, die sie kennt, manchmal nur ein flüchtiger Gruß mit der Hand, bei andern steht sie auf, mal zwei Küsschen links rechts, mal vier, er kann beim besten Willen keine Regel ableiten, meist plaudert sie kurz, setzt sich wieder und entschuldigt sich. Kein Problem, wehrt er ab. Was geht dich ihr Privatleben an. Aber sie kennt entschieden eine Menge Leute hier, ein bisschen zu viele, und die meisten Männer in den sogenannt besten Jahren, wie er festzustellen gezwungen ist.

      Sie fragt nach seinen Plänen für den Nachmittag, er lacht gegen die hartnäckige Verlegenheit, natürlich für den Kurs arbeiten, das höre sie als Lehrerin sicher gern. Sie rät ihm, angesichts des herrlichen Wetters lieber der Küste entlang nach Pontaillac zu spazieren, knapp zwei Kilometer und sehr abwechslungsreich.

      Er seufzt, eigentlich sollte er dringend seine Mails lesen, ob es in Royan noch weitere Cybercafés gebe.

      Leider nicht, wir sind hier nicht in Paris. Auch sie lacht und bietet ihm an, er könne von Zeit zu Zeit bei ihr zu Hause vorbeikommen und ihren Internetanschluss nutzen. Hat er richtig gehört, ist das nur Höflichkeit oder meint sie es ernst? Er ist vorsichtig, aber sie schreibt ihm gerade die Adresse auf die Rückseite der Quittung, Boulevard de Cordouan, und kreuzt auf dem Stadtplan, den der Schweizer immer bei sich hat, ihr Haus an.

      Schon Viertel nach eins, sie ist noch mit Bekannten zum Mittagessen verabredet. Zudem, Françoise steht auf, müssten sie sich unbedingt mal über die Besatzungszeit unterhalten, sie habe wie gesagt ein ganzes Regal voller Material dazu, da dürfe er sich gerne bedienen. Sie könne ihm, wenn er Lust habe, auch ein paar Orte an der Küste mit gut erhaltenen Überresten des Atlantikwalls zeigen.

      Und ob er Lust hat. Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts, die Luft zwischen ihnen vibriert, wenn du nur die Regel kennen würdest. Weg ist sie.

      JP bleibt noch eine lange Weile sitzen. Er hat keine Eile, ihn erwartet niemand. Die Verlorenheit schleicht von hinten heran, wie üblich. Sonntagnachmittage allein sind am allerschlimmsten. Die Tische haben sich geleert, alle Leute sitzen mit jemandem beim Mittagessen, du harrst als einziger der Dinge, die nicht kommen, trotzig bestellt er ein Bier, verspürt keinen Hunger. Auf dem Platz vor der Markthalle verstauen die letzten Markt­fah­rer die letzten Kleiderständer, knallen die Türen ihrer Lieferwagen zu, verabschieden sich mit kumpelhaften und für ihn unverständlichen Zurufen, man kennt sich, und die Geschäfte sind gut gelaufen. Auf der andern Seite beginnt der Reinigungswagen der städtischen Werke den Platz abzuspritzen.

      Seine Finger spielen mit der Quittung, zerknüllen sie, Recherche steht auf dem Programm. Diese Suche ist doch einfach hirnrissig. Aber es gibt kein Zurück, Wissen lässt sich nicht mehr in Nichtwissen verharmlosen, schlimmer noch, wenn es nur Halbwissen ist. Vier windige Anhaltspunkte, von denen keiner faktisch verbürgt ist. Nichtsdestotrotz wuchert es in seinem Kopf als wildes Geschwür, seine Familie finden, endlich wissen, woher er stammt, vielleicht gibt es Brüder, Schwestern,

      ein Haus. Heimat. Hirngespinste, Möglichkeiten, Wahr­schein­lichkeiten oder Gewissheit.

      JP lehnt sich zurück, es ist erstickend schwül. So oder so,

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