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Blindgänger. Ursula Hasler
Читать онлайн.Название Blindgänger
Год выпуска 0
isbn 9783038550600
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Lärm des Reinigungswagens entfernt sich, schon erobert das erste Auto die freigegebenen Parkfelder. Das Bier inzwischen lau, die Quittungskugel rollt unaufhörlich zwischen den Fingern, steinhart. Flirrende Mittagsstille legt sich über den gefegten Platz, er bleibt als einziger Gast zurück.
Als er am Nachmittag nach Pontaillac spaziert, er hat beschlossen, den Rat von Françoise zu befolgen, kommt er am Museum von Royan vorbei, das zur Zeit noch in einem Nebengebäude des Rathauses untergebracht ist, und entscheidet sich kurzerhand für einen Besuch als beste Ablenkung. Am Eingang liest er, dass die Fotos und Objektsammlungen zur Geschichte von Royan Ende Jahr in die ehemalige Markthalle von Pontaillac, die gerade umgebaut wird, verlegt werden.
«Die Apokalypse vom 5. Januar 1945
Angeführt von leichteren Mosquito-Bombern, die mittels Leuchtraketen das zu treffende Stadtgebiet markierten, griff die erste Welle von 217 viermotorigen Lancasterbombern der RAF von 4 bis 4.15 Uhr an. Die Bewohner erlebten unter dem Bombenhagel einen apokalyptischen Albtraum, in dem ihre Welt unterging, aber es gab wenig Opfer. Sobald die Bombardierung aufhörte, rannten die Überlebenden hinaus, in die Nacht, in den Schnee, in die eisige Kälte, an die zehn Grad unter Null in jener Nacht, zu den Sanitätsposten. Da griff eine weitere Welle von 124 Bombern von 5.28 bis 5.43 Uhr an, diesmal absichtlich tödlich mit 2-Tonnen-Bomben. Nach dieser zweiten Welle war die Stadt, bisher noch einigermaßen intakt, dem Erdboden gleichgemacht. Royan gab es nicht mehr. Ein Fünftel der 2223 noch in Royan ausharrenden Bewohner, 442 Personen, wurden getötet, dazu kamen 300 bis 400 Verwundete. Die Deutschen hingegen hatten weniger als 40 Mann verloren.»
Royan, der elegante Badeort der Belle Époque, war nach der absurden Bombardierung ein desolates Ruinenfeld. Man kennt solche Bilder aus Deutschland. JP war nicht bewusst, dass Frankreich nach Deutschland das am stärksten zerstörte Land Europas war, wohlverstanden von den Alliierten bombardiert. Insgesamt über 140 000 Opfer der Bombardierungen, gemäß eigenen Schätzungen der Alliierten, genau 67 178 tote und 75 660 verwundete Franzosen, alles Zivilbevölkerung. Städte wie Caen, Vire, Saint-Malo, Brest, Le Havre, Lorient, Saint-Nazaire wurden dem Erdboden gleichgemacht, Nantes, Rennes, Rouen teilweise zerbombt. Massive zerstörerische und wiederholte Bombenangriffe mit Tausenden von Zivilopfern auf Paris und Region (Boulogne-Billancourt, Noisy-le-Sec, Le Bourget, Courbevoie und Asnières, Juvisy, Versailles und mehrfach wahllos die Banlieue), ebenso auf Städte wie Bordeaux, Nîmes, Toulon, Marseille, Nizza, Avignon, Saint-Étienne, Lyon, Grenoble, Chambéry, Poitiers, Angers, Tours, Orléans, Strasbourg, Amiens, Lille, um nur die größten aufzuzählen. Hier in der näheren Umgebung im Juni 1944 Angoulême und Saintes.
Alles muss er wissen über die Bombardierungen, welche Orte wurden nach der Landung der Alliierten im Mai 1944 noch zerstört, die Bombardierungen der französischen Städte hörten keineswegs auf, im Gegenteil. Diejenigen, die als Befreier in die Nachkriegsgeschichte eingingen, haben Frankreich als Land der Achsenmächte betrachtet. Zivile Kollateralschäden sind anfänglich als Zielungenauigkeiten, weil sehr hohe Flughöhe, entschuldigt worden, nachher wurde die gezielte Bombardierung der Zivilbevölkerung aber offen zugegeben, alle Franzosen waren in ihren Augen Kollaborateure. Er liest jede der ausführlichen Legenden.
Die deutsche Wehrmacht hat sich am Schluss des Krieges in den Befestigungen des Atlantikwalls verschanzt, dabei war das Hinterland größtenteils schon befreit, so entstanden die sogenannten poches, von denen auch Royan eine war. Die Bevölkerung der Stadt, damals noch etwas mehr als zweitausend Personen, war seit September 1944 mit den über sechstausend Mann der deutschen Besatzung in ihrer eigenen Stadt eingeschlossen, belagert von den französischen Befreiungstruppen.
Die Bombardierung der Stadt im Januar 1945, militärisch völlig unsinnig, wurde später mit einem Missverständnis in der Kommunikation zwischen dem französischen Generalstab und der alliierten Luftwaffe RAF entschuldigt, es waren britische und kanadische Bomber. Beide Seiten verteidigten später eine andere Version, die entsprechenden Dokumente wurden bis in die Neunzigerjahre unter Verschluss gehalten. Der französische Generalstab hatte massive Bombardierungen von Royan gefordert, man sicherte den Alliierten zu, dass die französische Zivilbevölkerung bis zum 15. Dezember evakuiert sei, was völlig unrealistisch war und auch nicht geschah. Warum dies die Alliierten nicht wussten und warum die französische Militärführung nicht rechtzeitig über den genauen Zeitpunkt der Bombardierung informiert worden war, ist bis heute offiziell nicht geklärt und wird es auch nie sein.
Eine Museumsangestellte, auf den intensiven Leser aufmerksam geworden, raunt JP zu, obwohl er der einzige Besucher ist, sie verfügten auch über eine kleine Bibliothek mit Fachbüchern zum Zweiten Weltkrieg in Royan, er dürfe sie gerne konsultieren. Er bedankt sich höflich. Eigentlich möchte er nur wissen, wo Ende März 1945 in der Gegend noch Bomben fielen. Nämlich nach seiner Geburt, sagt er ihr nicht. Sie flüstert weiter, ihres Wissens nur noch in Royan, aber zu dem Zeitpunkt sei kein Mensch mehr hier gewesen, alle evakuiert, sie zeigt ihm die Fotos.
Royan war Mitte April 1945 während der mehrtätigen Befreiungskämpfe erneut und wiederholt bombardiert worden, 2500 Bomber warfen in der Gegend 7000 Tonnen Bomben ab, über Royan mit 72 5000 Liter Napalm, das die Amerikaner in Europa erstmals testen wollten. Das Resultat war enttäuschend, aber spektakulär. Napalm entfachte ein sinnloses danteskes Inferno, völlig nutzlos gegen die Bunker, aber die Ruinen von Royan standen in höllischen Flammen. Am Schluss blieb von der Perle des Ozeans eine verkohlte bizarre Landschaft verkrümmter Eisen, schwarzer Steinhaufen, verbrannter Erde.
Eine Woche vergeht, wieder Samstag. Er sollte dringend in Erfahrung bringen, unter welchen Umständen ein Säugling im März 1945 hier ohne Geburtspapiere zur Welt kommen und offiziell als Kriegswaise deklariert werden konnte. Wahrscheinlich ist, dass totales Chaos geherrscht und keine Zivilbehörde mehr funktioniert hat. Das würde seine Hypothese des Findelkindes nach der Bombardierung bestätigen. Erster Schritt also herausfinden, wie die Lage in der Region im Frühjahr 1945 genau war. Präzise Grenzen der poches, der besetzten Gebiete sowie der befreiten Gebiete, genaue Daten der Bombardierungen. Er braucht Bücher zur Besatzungszeit, gibt es bestimmt in der Gemeindebibliothek. Er kennt die Öffnungszeiten, seit einer halben Stunde ist die Ausleihe geöffnet, nichts wie hin.
Datei «Bombardierungen nach März 1945», 22. Mai 2003, unverändert übernommen
Die Bibliothek hat spezielle Regale voller Bücher zur Kriegsgeschichte der Region! Sehr viel Material, die Qual der Wahl. Konzentriere mich auf die Besatzungszeit, Zeugenberichte, Militärische Details zu den poches. Konnte nur fünf Bücher mitnehmen, und gegen Kaution, da kein fester Wohnsitz in Royan …
Internetrecherche mit Suchbegriff «Bombardements Charente-Maritime 1945» bringt nichts Brauchbares, außer zu Royan.
2. Bombardierung von Royan 14.–16.4.1945 (Details ville-royan.fr) ist keine brauchbare Spur. Vermutlich unsinnig, Stadt war zerstört. Keine Zivilisten mehr, sicher keine Frauen mit Säuglingen. Napalmbomben brannten den Rest der Stadt völlig aus. Bleibt einzig die andere poche, wo Deutsche die Festung hielten: La Rochelle. War die letzte befreite Stadt in Frankreich, einen Tag nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Aber kaum mehr Bombardierungen, La Rochelle wurde den Siegermächten ohne weitere Zerstörungen übergeben.
(Interessante These: Die Wehrmacht habe sich in den poches nicht aus Widerstand bis zum Äußersten verschanzt, sondern in relativer Sicherheit die Kapitulation im fernen Deutschland abgewartet …)
Nur die völlig unerwartete erste Bombardierung Royans am 5. Januar würde Sinn machen (so was Absurdes!), aber ausgeschlossen wegen Geburtsdatum 31. März. Die Frage ist, um wie viel sich ein Arzt im Alter bei einem schwächlichen kranken Säugling verschätzen kann. Ein bis zwei Monate höchstens. Gäbe frühestens zwischen Mitte und Ende Januar als Geburtstermin, also nach der Bombardierung. Bin ich womöglich noch älter??
Zivilgesellschaft: tatsächlich