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schlängeln sich gekonnt in die Beurteilungen, die aus luftigen Satzmodulen bestehen, die man mal so, mal so aneinanderreihen kann. Glauben muss das keiner. Leider wird nach einiger Zeit das Unbehagen schwer, würgt dich, ja schneidet dir die Luft ab. Spuck es endlich aus. Dass du genauso oberflächlich und uninteressiert geworden bist wie deine Schüler. Von Jahrgang zu Jahrgang schlimmer, ewiges Lamento der Kollegen. Oder dass nichts mehr in deinem Kopf ist, keine Meinung zu den Dingen, selbst nicht, ob du Meinungslosigkeit gut oder katastrophal findest. Altersweisheit ist es bestimmt nicht. Es gab nur eins – weg. Auszeit. Eine unbe­kannte Umge­bung verdampft zumindest für eine gewisse Zeit die breiige Langeweile, denn täglich sind unzählige banale Entscheidungen zu treffen, wenn alles neu ist, zum Beispiel, welche Straße er jetzt nehmen soll.

      Endlich das Meer sehen. Wo liegt das Meer? Die blendende Helligkeit am Atlantik überrascht ihn auch diesmal wieder, grenzenloses Licht, es gibt keine hohen Ge­bäu­de, die Straßen offen, die Häuser weiß, über dem flachen Land der unbegrenzte Himmel. Keine Bergschranken. Als Schweizer ist man halt anfällig für die Weite. JP überquert zügig den breiten Boulevard.

      Der erste Kurstag heute Vormittag hat sich ganz gut angelassen. In der Pause gab es Gelegenheit für den unvermeidlichen Smalltalk, eine kleine Kursgruppe mit acht Teilnehmern, drei männlichen, außer ihm noch ein Schweizer, Marco aus dem Tessin, und der Deutsche Sven, und fünf weiblichen, die Spanierin Gracia, eine etwas arrogant wirkende Mailänderin namens Chiara, zwei unkomplizierte Kanadierinnen aus Ottawa, Maureen und Pam, und die geschwätzige Monika aus Linz. Sie alle unterrichten Französisch an einem Gymnasium in ihrem Land, sie alle haben das Bedürfnis, ihr Französisch wieder à jour zu bringen, Fehler auszumerzen, die sich einschleifen, wenn man ständig nur mit Nichtfrankofonen spricht. Eine ganz angenehme Truppe, obwohl JP dieser Aspekt reichlich egal ist, ihm geht es nicht um neue Freundschaften, zudem ist er vermutlich einiges älter. Der Kurs dient bloß als offizielle Rechtfertigung für das Sabbatical, und wenn er dabei ein paar nützliche Sachen für den Unterricht lernt, tant mieux. Bis jetzt ist es allerdings mäßig spannend.

      In der zweiten Hälfte des Vormittags hat jeder sein Projekt kurz vorgestellt, als Leistungsnachweis für das Kursdiplom wird eine selbständige Recherche zu einem lokalen Thema mit Präsentation in der Klasse verlangt. Einige haben sich bereits bei der Vorstellung ihres Vorhabens in Details verloren, das lässt Schlimmes für die Schlusspräsentation ahnen. Er selber hat auch ein bisschen ausholen müssen. Seit er vor Jahren in der Bre­tag­ne die ersten Bunkerruinen des ehemaligen Atlan­tik­walls entdeckte, habe er den Wunsch, mehr über das gigantische Küstenbefestigungsprojekt der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg zu erfahren. Überall in den Dünen hier gebe es die Überreste der Bunker, die nun ma­lerisch im Sand versinken. Der Bau der Befestigungsanlagen sei auch der Grund für die katastrophalen Zerstörungen der französischen Küstenstädte durch die alliierten Bomber gewesen. Er wolle deshalb mehr über die Jahre der deutschen Besatzung und die Befreiungskämpfe hier in der Region wissen.

      Mit Genugtuung bemerkte er, wie die Kursleiterin hellhörig wurde. Kein Wort selbstverständlich, dass der Atlantikwall nur als Vorwand dient. So kann er die Recherche gleich mit seiner Familiensuche verbinden. Sein Blick in die Runde ist am Schluss bei der Kursleiterin Françoise hängengeblieben, sie würde er gerne beeindrucken. Ein anspruchsvolles Thema, sie hat ihm aner­kennend zugenickt, gerne gebe sie ihm Tipps für Quellenmaterial, sie habe selber ausführlich dazu recherchiert. Sie lächelt. Nur für ihn. Seine Hände sind augenblicklich kaltfeucht, ein Wunder, dass er nicht stottert, und ein Glück, dass die zu langen Haare die glühenden Ohren verdecken.

      JP konnte die Augen kaum von ihr lassen, die Frau ist einfach umwerfend. Ein nonchalanter Kleidungsstil, diese natürliche Eleganz der Französinnen sieht aus wie nicht beabsichtigt. Schmale Hose, kann sie mit ihrer Figur tragen, anschmiegende Bluse, man ahnt, was man sich vorstellen will. Für den Inhalt ihrer Ausführungen, es ging um Internetterminologie oder ähnliches, war er weniger empfänglich.

      Ist sie eine schöne Frau? Nach gängigem Schönheitsideal eher nicht, aber ihr Gesicht ist lebhaft, dunkle volle Haare, trägt sie schlicht nackenlang, mit zufälligen (oder raffiniert platzierten?) grauen Mêches durchzogen. Welch erregender Kontrast zu ihren hellen Augen. Farbe unde­finierbar, vielleicht meerfarben, ja, alle Farbtöne des Wassers. Am meisten beeindruckt ihn ihre Sprechweise, ­geschliffene Formulierungen, druckreif, natürlich zu erwarten bei einer Französischlehrerin, trotzdem, er ist hingerissen. Ihr Alter fünfzig, fünfundfünfzig allerhöchs­tens, er ist schlecht im Schätzen

      Aber er hat weder Lust auf Abenteuer noch auf Komplikationen. Vergiss nicht, warum du hier in Royan bist. Du hast nur wenige Wochen, die Zeit ist zu kostbar für Frauengeschichten.

      Ungeheuer mutig ist es doch, nach bald zwanzigjähriger Ehe erstmals für fast drei Monate, elf Wochen, um es ganz genau zu nehmen, wieder allein zu leben, in ei­ner fremden Stadt und ohne vertrauten Arbeitsrhythmus. Immer mulmiger wurde ihm zumute in den letzten Monaten, als der Wunschtraum des Wegfahrens, das Wort Flucht war auch in Gedanken tabu, Schritt für Schritt Wirklichkeit wurde.

      Und nun liegt der erste bedrohlich leere Nachmittag allein in einer fremden Stadt vor ihm. Vorsorglich hat er eine lückenlose Beschäftigung programmiert. Mit Listen, nach Prioritäten geordnet, bewältigt er zu Hause seinen Alltag, sie entfalten bestimmt auch hier ihre Wirkung:

      Meer

      nächstgelegene Bäckerei

      Markthalle Öffnungszeiten

      Maison de la Presse, deutsche Zeitungen?

      Internetcafé

      Das Internetcafé braucht er, weil es in der Ferienwohnung wie erwartet keinen Internetanschluss gibt und Internet für seine Recherchen unerlässlich ist. JP weiß seit dem Osterbesuch bei der Mutter, dass seine Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit hier in der Gegend liegt, seither ist er hochgradig beunruhigt. Hat er Royan wirklich nichts ahnend für seinen Weiterbildungsurlaub gewählt – alles war längst organisiert, als er an Ostern davon erfuhr –, oder lenkte eine Vorsehung perfide die Entscheidung? Wer zieht die Fäden, Schicksal oder Zufall?

      JP ist sehr wohl bewusst, wie wahnwitzig die Idee ist, seine Familie zu suchen, ohne Fakten, ohne Geburtsdatum, ohne Namen. Er hat magere vier Anhaltspunkte: erstens ein Monogramm GQ, zweitens Herkunft Dépar­tement Charente, drittens vermutlich Bombardierungsopfer und viertens ein willkürliches Geburtsdatum, 31. März 1945. Mehr nicht. Aber die Hoffnung, dass es möglich wäre, sitzt als bohrender Stachel in seinem Kopf. Es gibt eine Nanowahrscheinlichkeit, er muss die bloß ­finden. Selbstverständlich hat er niemandem davon erzählt, die pragmatische Annet hätte es ohnehin nicht verstanden, seinen Plan bestimmt als hirnrissig und ihn als Fantasten bezeichnet. Sie hat nicht ganz unrecht. Wie immer. Seit er hier vor Ort ist, mehren sich die Zweifel, seine Familiensuche ist tatsächlich spinnert, zu Hause aus der Ferne schien alles machbar.

      JP sucht immer noch das Meer. Er dreht den Stadtplan in Blickrichtung, das Meer muss sich links gleich hinter dem Pinienpark befinden. Er durchquert ihn, ein Rummelplatz mit einigen Schatten spendenden Bäumen, alle Schaubuden noch gnädig geschlossen. Eine luftig leichte Frühsommerstimmung liegt in den Gesichtern der Spaziergänger, keiner hat es eilig. Der Schweizer kontrolliert kurz die Uhr, von seiner Wohnung bis ans Meer braucht er knappe zehn Minuten, perfekt.

      Hinter dem kleinen Pinienpark entdeckt er aber erst eine gigantische Sandfläche. Noch nie hat er dergleichen in einer Stadt gesehen, sie wird von einer bestimmt fünfhundert Meter langen Steinarena begrenzt, die von der Promenade auf der ganzen Länge in drei einladend breiten Stufen, auf die man sich gemütlich hinsetzen kann, zum Sand hinunter führt. Die Sonne scheint durch diffusen Dunst, das ist es, was das Licht so unerträglich macht, ohne Sonnenbrille. Auf den Stufen, im Sand, überall sitzen oder stehen Leute, Kinder tollen herum, Hunde bringen wedelnd Holzstücke zurück, die keiner will. Er setzt sich auf die mittlere Stufe, lehnt zurück, schließt die Augen. Da ist es wieder. Das aufregend Freie. Neuanfang ohne jegliche Last. Warm. Weit. Alle Poren öffnen sich. Alles auf Empfang. Endlich leben.

      Keine Sorge, er sonnt sich einfach ein bisschen, alles unter Kontrolle. Vergängliche Sekunden von Leichtigkeit, ein Versprechen von Sorglosigkeit und Ruhe, niemand hat Ansprüche an ihn. Aber es ist nicht zu verhindern, dass Annet sich

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