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Verfahren zur Sichtbarmachung der Stoffwechselprozesse in den verschiedenen Hirnarealen vor zwei Jahren weltweit erstmals klinisch eingesetzt worden. Ein hervorragendes diagnostisches Verfahren, um die Aktivität von Hirnzellen über Stoffwechselvorgänge sichtbar zu machen.

      Marty nickte, gut, einverstanden.

      Jetzt Hausaufgaben auf die nächste Sitzung, das sei ihm als Lehrer bestimmt vertraut. Ich bat ihn alles aufzuschreiben, was er über sein früheres Leben in Erfahrung bringen könne, Fakten, aber ebenso eine Charakterisierung seiner Persönlichkeit durch seine Familie.

      Sie meinen wohl über diesen Unbekannten namens Jean-Pierre Marty; er zweifle, dass das etwas bringe, aber er tue sein Bestes.

      Noch am selben Nachmittag suchte ich Marty in seinem Zimmer auf, seine Frau hatte am Mittag beim Empfang eine Plastiktüte für ihn abgegeben. Ich öffnete auf sein Herein wohl etwas schnell die Tür, Marty schloss ertappt den Kleiderschrank.

      Ach, warum sollen Sie es nicht wissen, und er zog mit einem kräftigen Ruck die leicht klemmende Schranktür wieder auf, an deren Innenseite der Spiegel hing. Er vermöge an keinem Spiegel vorbeizugehen, ohne kurz das Gesicht zu prüfen. Was, wenn ihn unerwartet wieder ein anderer, neuer Unbekannter anstarrte? Er beruhige sich jeweils erst, wenn er den gleichen vertrauten Fremden erblicke.

      Keine Sorge, ich stellte die prall gefüllte Tüte auf den Stuhl, es gebe wahrlich schlimmere Zwangshandlungen, und die seinige sei durchaus nachvollziehbar. Ich wies auf die Tüte, die habe er laut Aussage seiner Frau so aus Royan zurückgebracht nach seinem dreimonatigen Weiterbildungsurlaub und seither offensichtlich nicht mehr angerührt. Ich überreichte ihm auch einen Brief, der in seinem Postfach lag. Postbote zu spielen zählte zwar nicht zu meinen Kernaufgaben, diente diesmal aber als praktischer Vorwand, ich wollte mit Marty besprechen, wie er mit den Inhalten seines Laptops umgehen solle, meines Erachtens eine heikle Angelegenheit.

      Er riss den an Jean-Pierre Marty adressierten Brief auf. Das Gefühl, unrechtmäßig fremde Post zu lesen, verlasse ihn nicht. Briefpapier des Rektorats der Kantonsschule, unterschrieben von der Rektorin, die Jean-Pierre Marty duzte, eine offizielle Mitteilung, aber in herzlichem Tonfall, die beiden schienen sich seit Langem und bestens zu kennen. Seine Beurlaubung aus Krankheitsgründen sei vom Personalamt des Kantons bis nach den Herbstferien am 20. Oktober bestätigt worden, danach würde man weitersehen. Sie schicke ihm die Besserungswünsche aller Kolleginnen und Kollegen, man respektiere seinen Wunsch, keine Besuche zu erhalten. Marty rechnete, ihm blieben sechs Wochen. Entweder er würde die Gedächtnisblockade lösen oder genug über diesen Jean-Pierre Marty in Erfahrung bringen, um zu entscheiden, ob er dessen Leben weiterführen wolle. Was, wenn nicht? Gab es eine dritte Option, ein neues Leben ab achtundfünfzig ohne Erinnerung? Kann man die Zukunft gestalten, ohne eine Vergangenheit zu haben?

      Er ließ sich in den Lehnstuhl fallen, die Finger strichen über den dunkelgrünen, an einigen Stellen abgewetzten Samt, immer gegen den Strich. Er sitze oft hier und betrachte sein Zimmer, ein helles Eckzimmer, auf der Südseite der große, gedeckte Balkon, auf der Westseite ein weiteres Fenster, durch das jetzt bereits die blasse Nachmittagssonne schien. Er traue seinem neuen Gedächtnis keine Sekunde und präge sich zum wiederholten Mal alle Details ein. Sein Kopf arbeite jetzt ohne Ballast der Erinnerungen logisch und effizient. Welch eine Ironie, nicht wahr.

      Mein Blick fiel auf den Tisch, das Laptop lag in der Mitte, nach wie vor geschlossen. Wie er das Material sichten wolle? Gemäß Aussagen seiner Frau habe er auf dem Laptop immer schon eine Art Tagebuch geführt. Er müsse darauf gefasst sein, dass seine eigenen Texte, ganz besonders die Mails der vergangenen Monate, un­ter Umständen unerwartete Reaktionen provozieren könnten. Weiter wies ich ihn darauf hin, dass im Haus weder Mobiltelefone noch Laptops erlaubt, die Zimmer ohne Internetzugang seien. Sein Laptop habe er dank einer Ausnahmebewilligung erhalten, als Teil der Therapie. Und dass ich den Prozess des Auswertens eng zu begleiten wünsche.

      Ich klang wohl etwas autoritär, Marty erhob sich, ergriff die Plastiktüte und leerte sie kurzerhand über dem Bett aus, wild flatterten Zettel und Prospekte heraus, landeten auf dem Boden.

      Marty hatte während seines Sabbaticals in Royan alles gesammelt, Restaurantrechnungen, Busfahrscheine, Mietvertrag der Wohnung und Quittungen für bezahlte Mieten, unzählige Prospekte über Royan und sehenswer­te Orte der Umgebung, Programme von Aktivitäten, meh­rere gleiche Stadtpläne mit markierten Stel­len, Michelinkarten der Gegend und Region in allen Maßstäben, Ausleihscheine der städtischen Bibliothek. Zahlreiche Ausdrucke von Webseiten und Onlinetexten, alle zu The­men aus dem Zweiten Weltkrieg. Marty blätterte sie flüchtig durch, Leben unter deutscher Besatzung, Bau des Atlantikwalls, Wehrmachtsbordelle, obligatorischer Arbeitsdienst in Deutschland, Befreiung und Epuration, Kollaboration. Sogar ein dickes Bündel gehefteter Fotokopien, es sah aus wie ein komplettes Buch, mit vielen Fotos von Bombardierungen und zerstörten Städten.

      Was soll ich damit? Er schob alles achtlos zusammen und legte den Haufen auf die Kommode.

      Vielleicht ergebe alles Sinn, wenn er den Inhalt des Laptops kenne.

      Er nickte und strich mit der Hand über die grauschimmernde Oberfläche, wie wusste er, wie es zu bedienen war? Gestern habe ihm das Mädchen einen CD-Player und Musik mitgebracht, die der Vater gerne hörte. Musik könne ebenfalls durch Blockaden dringen. Nichts, er habe ihr nicht zu sagen gewagt, dass er mit dieser Art von Musik – Funky-Jazz, hatte sie ihn belehrt – beim besten Willen nichts anfangen konnte. Aber er habe den CD-Player problemlos zum Funktionieren gebracht, vielleicht klappe es auch mit dem Computer. Er öffnete den Laptopdeckel, entnahm der Tasche Netzkabel und Maus, die Frau hatte an alles gedacht. Es sei ihr nicht gelungen, sich einzuloggen, das Passwort stimme nicht mehr, mit diesen Worten habe sie ihm das Laptop übergeben. Die vorwurfsvolle Verärgerung in ihrer Stimme sei unüberhörbar gewesen, der Inhalt des Laptops war also nicht für die Augen der Frau bestimmt, der Besitzer hatte vorgesorgt. Er zögerte, auf den Startknopf zu drücken, etwas Lauerndes gehe vom Laptop aus.

      Und wenn ihm nun das Passwort nicht einfalle, wo speichert das Gehirn ein Passwort?

      Nicht nachdenken, einfach tun, schärfte ich ihm ein, Routinebewegungen seien direkt mit dem prozeduralen Gedächtnissystem verbunden.

      Also steckte er geschäftig, Spiel der Muskeln gegen Leere im Gedächtnis, das Netzkabel ins Laptop und in die Steckdose, hängte die Maus an, drückte auf den Startknopf, starrte auf die herunterlaufenden Programmierzeilen, die Einlogmaske, tippte Namen und Passwort ein, ohne Nachdenken, es glückte, er war erleichtert.

      Bloß verunmögliche der Trick, dass er das Passwort jetzt kenne.

      Ich schob ihm einen Zettel zu, hatte ihm beim Einloggen über die Schultern gesehen, außergewöhnliche Situationen legitimierten leicht unkorrekte Methoden. Er könne es ja jetzt erneut ändern. Marty grinste dankbar.

      Das Desktopbild zeigte eine lang gezogene Meeresbucht mit kargem Strand und mächtiger Düne dahinter. Im Sand lagen verschiedene Ordner verstreut, er entschied sich für ROYAN und klickte den Ordner an. Er bemerkte nicht mehr, wie ich das Zimmer verließ.

      Auch das prozedurale Gedächtnissystem konnte ich somit abhaken, funktionierte alles. Obwohl es laut seiner Frau in den letzten Monaten vor dem Sturz keinerlei außergewöhnliche Vorkommnisse gegeben hatte, abgesehen von seinem Weiterbildungsaufenthalt in Frank­reich, war auch ich je länger je mehr von einer psychogenen Ursache von Martys Amnesie überzeugt.

      Ich kann mittlerweile auf über zwanzig Jahre ärztliche Tätigkeit in der renommierten Privatklinik Rychen­egg zurückblicken, davon die letzten zehn Jahre als Chefarzt der psychiatrischen Abteilung, eine Position, die ich, daran ist kaum zu zweifeln, meiner Expertise für alle Formen von Störungen des Erinnerungsvermögens verdanke. Seit meiner ersten Begegnung noch als Oberassistent mit einer Amnesiepatientin faszinieren mich die Kapriolen des Gehirns. Als Psychiater und Psychotherapeut begegne ich dem menschlichen Gehirn mit größtem Respekt, und als Amnesiespezialist unterschätze ich in keiner Weise dessen Fähigkeiten, bei Bedarf passende Realitäten zu erschaffen oder störende Wirklichkeiten auszuschalten. Auch mein Psychiatergehirn verdrängt erfolgreich, wie anmaßend es doch ist, mit dem eigenen Denkwerkzeug das Funktionieren dieses Werkzeugs bei andern beurteilen zu wollen.

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