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      Am Sonntagnachmittag war nach dem Erwachen nur wenig Zeit geblieben, das Ungeheure zu erfassen. Die Ärzte beruhigten ihn, solch temporäre Amnesien könnten nach einem mittelschweren Schädel-Hirn-Trauma wie in seinem Fall auftreten, die Erinnerungen seien in der Regel nach Stunden, manchmal auch Tagen langsam wieder abrufbar. Er solle sich keine unnötigen Sorgen machen, Aufregung sei ganz schlecht, jetzt werde erst mal abgewartet. Kaum hatten die Ärzte die ersten Untersuchungen beendet, öffnete sich die Tür, und eine nicht mehr ganz junge, gutaussehende Frau und ein etwa gleich großes Mädchen stürzten freudig ins Zimmer. Mit knapper Not habe er der Umarmung der beiden fremden Frauen ausweichen können.

      Das Drama begann. Stunden, Tage, Nächte vergingen, er marterte sein Gehirn, sprach die Namen Annet und Nadine laut aus, vielleicht gab es über die Ohren einen Zugang zum Gedächtnis, er suchte fiebrig, kein noch so winziges Bildfetzchen blitzte auf, nur graue Flusen, wo einst seine Erinnerungen lagen. Hartnäckig besuchten ihn die Frau und das Mädchen, versuchten alles Mögliche, gemeinsame Erlebnisse, Familienausflüge, Kindergeschichten von Nadine, Vertrautes aus dem Alltag. Sie kamen mit Fotoalben, lieb gewonnenen Gegenständen, Souvenirs. Hilflos und gerührt ließ er alles über sich ergehen, kam gar in Versuchung, Erkennen zu simulieren, die Kleine tat ihm leid.

      Er musste unbedingt wissen, weshalb er ins Koma ge­fallen war. Die Frau hatte ihn in seinem Studierzimmer am Boden liegend gefunden, als sie von der Arbeit kam, an jenem Freitagabend des Jahrhundertunwetters, am 15. August. Beim offenen Fenster in einer Wasser­lache. Vermutlich war er ausgerutscht und mit dem Kopf seitlich so unglücklich an der Möbelkante oder am Boden aufgeschlagen, dass er bewusstlos wurde. Ein Rätsel, weshalb er bei dem heftigen Regen das Fenster nicht geschlossen hatte.

      Ein Unfall also. Sie fügte an, dass das Laptop lief, als sie ins Zimmer kam, sich jedoch später ausgeschaltet hatte, Akku leer. Die Frau zögerte, nervös, wollte seine Hand ergreifen und brach rechtzeitig ab, er ertrug keine Berührung. Seine Sinne reagierten überscharf, unterfordert, wie sie waren, sie vermochten keinen Eindruck mit Erlebtem zu vergleichen, besonders Geruchssinn und Tastsinn. Die ganze Haut schien ihm in ständiger Alarmbereitschaft.

      Der wahre Schock stand ihm noch bevor. Zwei Ta­ge nach dem Aufwachen hatten sie all die hinderlichen Schläuche entfernt und ihn von der Intensivstation auf die Medizin verlegt. Er fühlte sich fit, hatte bloß seitlich eine kleine Platzwunde am Kopf, er konnte aufstehen. So erlebte er beim Betreten der Toilette den zweiten Schlag. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickte ihn ein Mann an, dem das blanke Entsetzen im Gesicht stand.

      Langsam hob er seine Hände, der Unbekannte im Spie­gel fixierte ihn. Er sah, wie beide Hände über die stoppeligen Wangen strichen, die Haut noch mit einer Sommerferienrestbräune, die Mundwinkel zuckten, die Finger pressten auf jeder Seite die Schläfen, die Augenlider flatterten kaum merklich, der Mann im Spiegel hatte auffäl­lig blaugrüne Augen. Die Finger spreizten sich und strichen die dunklen, bereits stark angegrauten Strähnen zurück, die ins Gesicht fielen. Ein Haarschnitt war überfällig.

      Er schloss die Augen, gab dem Mann im Spiegel drei Sekunden, um zu verschwinden, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Der Mann hatte sich nicht geregt, blickte ihn unverwandt an, nun eher neugierig. Ich. Nein.

      Er begriff zum ersten Mal die volle Bedeutung des Wortes Gesichtsverlust. Genau genommen hatte er nicht sein Gesicht verloren, sondern ein unbekanntes gefunden. Was auf dasselbe hinauslief. Die Physiognomie ­ei­­nes Mannes in den sogenannt besten Jahren. Der Spiegelmann sah recht gut aus, feingeschnittene Ge­sichts­züge, er gefiel ihm. Glücklicherweise. Aber ich bin es nicht.

      In den folgenden Tagen hatte er beim Rasieren stun­den­lang auf das Spiegelbild gestarrt, prägte sich Haut­poren, Bartstoppeln, Hautfalten ein. Jeden Qua­drat­­zen­timeter musste er sich aneignen, die Falten füllen mit Erfahrungen, das Erlebnis erfinden, das mit der kaum sichtbaren Narbe an der Unterlippe geendet hatte. Man brachte ihm mit fragendem Blick den zweiten Spiegel, um den er gebeten hatte. Mit der Verdoppelung des Spiegelbildes würde er den Mann so sehen, wie die andern ihn sahen. Das Bild des Bildes schafft erst die Wirklichkeit. Doch es half nicht, der andere blieb ein Anderer, täglich wusch er unvertraute Haut, rasierte einen Fremd­ling und fuhr mit dem Kamm durch den Haarschopf eines völlig Unbekannten.

      Frau und Tochter schwankten zwischen Verzweiflung und Zweifel, Unglauben, Zuversicht und Ratlosigkeit. Nichts konnte er tun, er begriff, dass der Albtraum jeden Morgen erneut beginnen würde. Selbst der uner­schütterliche Optimismus der Ärzte zeigte Risse, immer öfter besprachen sie sich bei der Visite so, dass er kein Wort verstehen konnte. Sie ordneten neue oder ergänzende Untersuchungen an, Elektroenzephalogramm, Com­putertomografie, prüften seine Verarbeitung von Reizen, während er Bilder eines unbekannten Hauses und von fremden Leuten betrachten musste. Natürlich löste das keine emotionalen Reize in seinem Gehirn aus, wie sollte es auch.

      Man meinte etwas hilflos, dass die Wissenschaft seinen Zustand sehr wohl einzuordnen und zu benennen wisse, nämlich retrograder, das heiße rückwirkender ­Gedächtnisverlust, ausschließliche Störung des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses, normale Funktion der Gedächtnissysteme für Motorik, Priming, Per­zep­­­tion, Semantik. Kurz, mit Ausnahme der persönlichen Erinnerungen funktionierte sein Gedächtnis einwandfrei, er wusste, wie Geräte zu bedienen waren, kannte be­lang­lose Jahreszahlen, die Namen von unwichtigen Politikern und konnte auf Bildern Schädlinge korrekt bezeichnen. Man könne sich medizinisch jedoch nicht plausibel erklä­ren, weshalb seine nur mittelschwere und mittlerweile wieder ausgeheilte Gehirnerschütterung die anhaltende Amnesie induziere. Eine allfällige psychogene Ursache werde nicht mehr ausgeschlossen.

      Als er das gehört habe, sei ihm nur noch Sarkasmus geblieben.

      Ich sah in Martys Blick bodenlose Verzweiflung. Wieder seine Geste mit beiden Händen im Haar, nach vorn gebückt.

      Der ganz persönliche Erinnerungsschatz, die unwiederbringlichen Erlebnisse aus einem achtundfünfzigjährigen Leben, sein Alter hatten sie ihm sagen müssen, alles weg. Verschwunden. Und mit ihnen auch die Gefüh­le. Alles auf einen Schlag unzugänglich, was er in seinem Lebensarchiv abgelegt und vermeintlich mittels Erin­nerungen gesichert hatte. Zugriff verweigert. Was bloß habe der «Andere» getan, dass das Gehirn zu einem solchen Radikalschnitt gezwungen wurde. Und ihn als Ahnungslosen schutzlos ins Leben zurückgeworfen ha­be.

      Jetzt wollte ich die Sache ansprechen. Ob er es auch so ausdrücken könne: Ich, was bloß habe ich getan, dass mein Gehirn jegliche Erinnerung daran blockiert?

      Er schüttelte den Kopf, er habe kein Bild eines Ichs. Und schuld an seiner Misere jetzt sei doch eindeutig der frühere Andere, nicht sein frisch geborenes Ich, oder?

      Ich schwieg, beunruhigt, eine merkwürdige Abspaltung, vermutlich notwendig, um nicht auch noch die Schuld am Gedächtnisverlust tragen zu müssen, die Verantwortung dafür lag beim «Anderen». Im Auge behalten.

      Es sei ihm schlicht unmöglich gewesen, nach dem Krankenhaus, aus dem sie ihn nach drei Wochen entlassen hatten – organisch sei alles in Ordnung –, an den Ort zurückzukehren, den die Frau und das Mädchen als Zu­hause bezeichneten, wo er ihren beharrlichen Bemühun­gen, mit allen Mitteln sein Gedächtnis zu wecken, hilflos ausgeliefert gewesen wäre. Deshalb habe er sich für eine nachbehandelnde Therapie hier in die Klinik Rychenegg einweisen lassen, bekannt für Behandlungen von posttraumatischen Störungen, auf Empfehlung einer jüngeren Oberärztin im Kantonsspital. Er brauche einen neutralen Ort, ohne den Druck von scheinbar vertrauten Gegenständen, sowie Zeit. Zeit herauszufinden, wer der «Andere» war, dieser Kerl mit Namen Jean-Pierre Marty. Warum er ihm diese Amnesie eingebrockt habe.

      Meine Worte wog ich mit wissenschaftlicher Vorsicht ab. Es bestehe durchaus Hoffnung, dass sich durch Gedächtnistraining und spezifische Therapien die Er­in­nerungen wieder schrittweise öffnen lassen. Das epi­so­dische Langzeitgedächtnis sei ja nicht organisch gestört, nur der Zugang blockiert.

      Marty zweifelte, er habe Angst vor weiteren Streichen seines Gehirns. Die Panik, eines Morgens wieder in einem unbekannten Zimmer zu erwachen und erneut mit einem fremden Namen begrüßt zu werden, begleite ihn hartnäckig.

      Ich schlug vor, ihn für eine PET/CT-Untersuchung

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