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schien aufgrund erster Un­tersuchungen unter ei­nem kompletten Verlust per­sön­licher Erinnerungen zu leiden, jedoch ohne Beeinträchtigung der andern Gedächtnissysteme, ich vermutete ein mnestisches Blocka­desyndrom des episodischen Lang­zeit­gedächt­nis­ses.

      Er nickte erneut. Die nette Frau, die behaupte, seine Frau zu sein, habe ihm gestern Vormittag das Laptop ihres Mannes mitgebracht.

      Martys demonstrative Abwehr machte mich hellhörig, er akzeptiere doch, dass keine Zweifel über seine faktische Identität bestünden? Dass er Jean-Pierre Marty sei. Es sei leider nicht zu überhören, wie angestrengt er die Ichform zu vermeiden trachte, wenn er über die Zeit vor dem Gedächtnisverlust spreche. Es höre sich für einen Außenstehenden an, als handle es sich bei Jean-Pierre Marty vor dem 15. August um eine andere Person.

      Richtig. Unerwartet erhob sich Marty, beugte sich erregt über den Schreibtisch, ich hätte den Finger treffsicher in die Wunde gelegt. Täglich erwache er in einem ihm komplett fremden Körper. Jeden Morgen putze er sich die Zähne mit dessen Zahnbürste, benutze dessen Rasierer und Rasierwasser, unsicher, ob er den Duft überhaupt möge. Jeden Morgen ziehe er sich die Hüllen des Besitzers dieser ­Kleider über, selbstverständlich alles frisch gewaschen, schlüpfe täglich in dessen Haut, und manchmal ekle es ihn. Sein Ich sei, er rechnete kurz, genau neunzehn Tage alt, davor steckte ein Jean-Pierre Marty im gleichen Körper, ja, diese Tatsache sei ihm bes­tens bekannt. Er sei ein Schauspieler, der zwar den Namen seiner Figur kenne, bloß leider das Stück nicht, das gespielt werde.

      Ich bat ihn, sich wieder zu setzen. Und weiterzuerzählen.

      Ja. Das Laptop liege seither auf seinem Tisch, genau in der Mitte, eine zugeklappte Auster. Er habe Kreise um den Tisch gedreht, wollte es erst öffnen, wenn er sichergehen konnte, nicht mehr gestört zu werden. Nach dem Essen lasse man ihn gewöhnlich in Ruhe. Aber dann habe er nicht gewagt, das Ding zu berühren. Er habe die Balkontür aufgerissen, kühle Luft mit heiteren Geräuschen sei von außen in den Raum geflossen und er habe sich draußen in den Korbstuhl gesetzt, als ihn plötzlich eine unbändige Lust zu rauchen anfiel. Keiner habe ihn vorgewarnt, offensichtlich sei Marty kein starker Raucher gewesen, der süchtige Körper hätte dem unwissenden Kopf sonst längst gezeigt, was er braucht. Hastig habe er einen Schluck Wasser getrunken, überall und jederzeit stünden in der Klinik ja Mine­ral­was­serflaschen und Gläser herum, Wassertrinken als Grundlage und Vor­aussetzung jeglicher Behandlung, wenn nicht der Existenz überhaupt. Trinken Sie, Herr Marty, Sie haben ja heute noch gar nichts getrunken! Wie oft er das zu hören bekomme, der Wasserstand in der Flasche markiere seine Folgsamkeit oder Rebellion. Die sei schwach, gegen die Überzeugungskraft des Wassers komme er nicht an, also trinke er, soll sich dieses Gehirn, das ihn so schmählich im Stich lasse, doch vollsaugen wie ein Schwamm, besser noch ersaufen im lauwarmen Mineralwasser. Er habe mit der Faust auf das Eisentischchen geschlagen, das Glas sei weggerutscht, auf dem Steinboden zersprungen. Solche Wutanfälle überfielen ihn häufig, unvorbereitet und kurz, vermutlich Hinweis auf eine cholerische Persönlichkeit, nicht wahr.

      Ich schüttelte den Kopf, es sei unwichtig, ob er aus der Erinnerung beschreiben könne, was er von seinem Balkon aus sehe.

      Marty verzog den Mund, belustigt, ihm sei schon klar, dass ich ihn testen wolle, nur zu. Also, er habe sich ans Geländer gelehnt, es laufe das ganze Stockwerk entlang, bestimmt hundert Meter, auch über die zwei Stockwerke darun­ter und noch eines über ihm. Eine uniforme Balkonfassade auf der Südseite des Gebäudes, halb trans­parente, in Eisenrahmen gefasste Glaswände begrenzten die jedem Zimmer zugeteilten Balkonmeter. Vermutlich ehemals ein Kurhotel, nicht wahr, Jahrhundertwende, wie er angesichts der hohen Räume und verzierten Eisengeländer schätze.

      Ich nickte.

      Im Klinikpark rauschende Eschen oder Ulmen, so gut kenne er die Bäume nicht, aber die Namen tauchten ohne Nachdenken im Kopf auf, wie er mit Erleichterung festgestellt habe. Unten schlängelten sich Wege zwischen mächtigen, in die Jahre gekommenen Büschen. Rhododendren, Azaleen, Hortensien, auch die Sträuchernamen fielen ihm problemlos ein, sein Gedächtnis könne also Schulwissen abrufen, welch lächerlicher Trost.

      Ich nickte erneut und notierte: semantisches Gedächtnissystem funktionsfähig.

      Er möge den Blick von oben, Personal in weißen Schürzen querte den Park, immer beschäftigt, oder sie taten so, andere Personen spazierten oder ruhten auf Bänken, in der bequemen, das heißt unverkennbar schlabbrigen Bekleidung, mit der sich niemand ins Freie trauen würde, außer im Schutz einer Klinik.

      Ich schmunzelte und schrieb: perzeptuelles Gedächt­nissystem ebenfalls nicht betroffen.

      Die jetzt überall draußen sitzenden Insassen seien Patienten, man werde aber mit professionellem Lächeln, das mit keinem Widerspruch rechne, als Gäste bezeichnet. So viel habe er gelernt. Auch er ein Gast, Aufenthalts­dauer unbestimmt, Ende ungewiss.

      Selbstredend enthielt ich mich einer Antwort, schrieb: ausschließlich retrograde Amnesie.

      Er wisse, warum er hier sei, und wisse doch nichts. Täglich falle sein Blick beim Aufstehen als erstes auf die Uhr und das leuchtende Datum, beides zu wissen gehöre wohl zur Therapie, Uhrzeit, Datum, unbestechliche Mess­größen für Realität und die stumme Aufforderung an ihn, sie sich zu merken. Das dürfte doch die wirkliche Bestimmung des Digitalweckers sein, nicht wahr. Nicht ihn zu wecken. Jeden Morgen hole ihn eine weiß gekleidete Person mit weißen, leise knirschenden Gesundheits­schuhen aus dem Schlaf. Aus einem schweren, traumlosen, vermutlich medikamentösen Schlaf, man nötige ihn zur Einnahme einer beachtlichen Men­ge von pharmazeu­tischen Mitteln. Noch schicke er sich drein, eines nach dem andern, aber zu gegebener Zeit würde er sich genau­er mit dem Pharmacocktail beschäftigen.

      Ich beruhigte ihn, Wahl und Dosierung der me­di­ka­men­tösen Behandlung seien Teil der Therapie und würden gemeinsam mit ihm beschlossen. Dazu brauche es jedoch genauere Kenntnis meinerseits über seinen eher ungewöhnlichen Fall. Ich bat ihn, nun an den Anfang zurückzugehen, zum Zeitpunkt des Aufwachens aus dem Koma.

      Ja, der Anfang seines jetzigen absurden Zustands las­se sich genau festlegen, es begann an jenem Sonntag, dem 24. August, als er im Kantonsspital erwachte, in einem älteren Männerkörper, da gab es nichts zu deuteln. Und kein Ende in Sicht. Der Kopf fühle sich merkwürdiger­wei­se nicht leer an, obwohl da nichts Brauchbares mehr drin war. Marty fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, diese Geste, sehen Sie, scheint eine typische Hand­be­wegung von mir zu sein. Unverständliche Gesten, unwillkürliche kleine Ticks, er beobachte sich gnadenlos. Ein neugeborener Geist im erfahrungsmüden Körper ei­nes bald Sechzigjährigen. Es sei nicht auszuhalten.

      Das Aufwachen aus dem Koma, in dem er nach Aussagen der Ärzte des Kantonsspitals über eine Woche gelegen hatte, war schubweise verlaufen. Nach einigen Anläufen habe er es geschafft, wach zu bleiben, fühlte sich gesund und wusste nicht, weshalb er an Schläuchen angeschlossen in einem Spitalbett lag, an dem ein Schild mit Jean-Pierre Marty hing. Die Pflegerin, deren freundliche Stimme unermüdlich versucht hatte, ihn bei seinen Auftauchern festzuhalten, begrüßte ihn fröhlich, so Herr Marty, diesmal haben wir es geschafft, möchten Sie was trinken? Ja, sein Mund fühlte sich pelzig an. Aber in welchem Irrenhaus war er da gelandet? Warum sie ihn ständig Marty nenne, das Sprechen fiel ihm schwer, die Zunge so dick, er heiße doch … Bleierne Leere im Kopf und keine Vorstellung, wer er war. Ein Panzer lag ihm auf der Brust, er rang nach Luft, bloß weg hier, gleich würde er aus dem Albtraum aufwachen, er sank wieder weg. Die Pflegerin schüttelte ihn unsanft, nicht mehr einschlafen, Herr Marty, bleiben Sie hier. Gut, dann blieb er halt, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wer dieser Marty war und wo er bleiben sollte. Keine Erinnerung. Nichts.

      Das wortlose Entsetzen nach dem Aufwachen vermöge er auch jetzt, zwei Wochen später, noch beliebig auszulösen, sobald er den inneren Film wieder ablaufen lasse. Die Leere liege nicht im Kopf, nein, im Herzen, in der Seele, falls es denn so was geben sollte, flaumig weich und nicht zu fassen. Der Geist erwachte in einem unbekannten Leib. Wieder und wie­der habe er seine Hände betrachtet, eher schmal, schlanke Finger, die sich Tausende Male gedehnt und die zugepackt hatten, Haut mit Falten und ohne Schwielen, welche Tätigkeit gehörte zu diesem Mann? Jede Minute habe sich im Gedächtnis eingebrannt, das nach dem Neustart, so nenne

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