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Die Bargada / Dorf an der Grenze. Aline Valangin
Читать онлайн.Название Die Bargada / Dorf an der Grenze
Год выпуска 0
isbn 9783038551478
Автор произведения Aline Valangin
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Da hörte er Lärm und Geschrei, Menschen kamen auf der Straße gerannt. Sie trugen eine Laterne und riefen laut seinen Namen. Er erkannte die Eltern und hintendrein, wie Schatten, die Tante und die heulende Orsanna. Als sie ihn erreicht hatten, begann die Schelte. Der Vater drohte mit strenger Strafe, mit Schlägen, doch wußte Bernardo so beredt von der schönen Mutter zu erzählen, die ihn aufforderte, mit ihr zu gehen, daß alle still wurden. Der Vater nahm ihn auf den Arm und trug ihn in sein Bett zurück. Die Mutter brachte ein heißes Getränk und streichelte seinen Kopf, bis er einschlief.
Auch Detta gedachte in diesem Augenblick der nächtlichen Flucht des Knaben. Sie erschrak damals sehr, das Bett des Kindes leer, die Türen offen zu finden; sie suchte den Sohn im ganzen Haus, im Garten, in den angrenzenden Feldern, betend, es möge ihm nichts Schlimmes widerfahren sein. Sie sorgte sich so um den Verlorenen, daß die Freude, den Ausreißer im langen Hemd endlich auf der Straße zu finden, den eben durchlebten Gram nicht aufzuwiegen vermochte. Auch heute noch, jetzt eben, stieg das Entsetzen über das Verschwinden des Sohnes wieder in ihr auf, so frisch, als stünde das längst Vergangene erst vor ihr.
«Also, du willst uns Alte allein lassen», sagte sie schließlich. Bernardo war verwirrt. Während er so stumm vor seiner Mutter Bett stand, stieg um ihn der süßliche Moosgeruch auf, der ihn in jener fernen Kindernacht umweht und den er vergessen hatte. Er prüfte ihn mit kurzem, schnellem Atem, wie ein Hund eine Fährte schnuppernd aufnimmt. Unsinn, ich bin wohl närrisch, dachte er. Zur Mutter sagte er gemessen im Tone eines jungen Mannes, der schon etliches hinter sich hat: «Ja, ich gehe, und diesmal holt ihr mich nicht mit der Laterne heim!» Er versuchte zu spaßen, doch die Mutter weinte.
III. Die Bärin
Die Alten lebten weiter wie zuvor. In die Arbeit, die Bernardo verrichtet hätte, teilten sich Orsanna und der Vater. Über die Heuzeit und im Herbst, zur Ernte, stellten sie Taglöhner ein, die von unten durchs Tal hinaufzogen und ihre Dienste anboten. Das paßte Orsanna nicht. Sie fand die Leute faul und immer hungrig und durstig. Lieber hätte sie die ganze Arbeit allein übernommen. Sie werkte wie ein Mann, im Stall, auf dem Felde, im Wald. Es gefiel ihr, so zu wirtschaften und ihre Unentbehrlichkeit Tag für Tag bestätigt zu sehen. Bald nahm sie den Platz ein, der dem Bruder zugekommen wäre. Der Vater gewöhnte sich, seine Geschäfte mit ihr zu besprechen. Er hörte auf sie. Sie verstand von allem so viel wie er selbst, doch hatte sie ihm eine rasche Entschlußkraft voraus. Sie mußte nicht lange überlegen, gleich wußte sie eine Sache, ohne unvorsichtig zu sein, richtig anzupacken, daß sie vorwärts ging. Tomaso dachte, wie unglücklich es sich schicke, daß nicht diese tüchtige Frauensperson ein Mann und Bernardo das Mädchen war.
Auch die Mutter zog Orsanna zu Rate, tat oft nach ihrem Willen und überließ ihr zu selbständiger Führung, was sie seinerzeit ihrer Schwägerin zäh abgekämpft hatte. Sie war gleichgültig geworden, denn ihre Gedanken weilten nicht auf der Bargada. Sie folgten dem Sohn. In der ersten Zeit nach seiner Abreise verteidigte sie ihn gegen Vorwürfe, die Tomaso gegen den Ausreißer aufbrachte. Sie fand Entschuldigungen und Erklärungen, den Mann zu besänftigen. Ob er nicht mehr daran denke, wie er selbst als junger Bursch ausgezogen war, das Gipserhandwerk zu erlernen und sich in Genua fast als Schiffsjunge hätte anheuern lassen? Ja, wäre sie nicht gewesen, ihn zurückzuhalten! Auch dem Sohn sei Freiheit zu gönnen. Er werde sie nicht mißbrauchen, er schlage nicht aus der Art, und was dergleichen Betrachtungen mehr waren, des Mannes Verdruß zu beschwichtigen. Als aber Tomaso seine Enttäuschung überwand, sich in die Lage schickte, den Sohn selten nur erwähnte, hielt sie die Trauer um sein Fernsein nicht mehr zurück. Sie klagte. Wo sich Gelegenheit bot, kam sie darauf zu sprechen, Bernardo sei zu erwarten. Es gab feste Redewendungen, die sie nie versäumte anzubringen: «Wartet damit, bis er da ist. Wenn er wieder da ist. Er ist ja bald da!» Orsanna ärgerte sich darüber. Sie gab mit scharfer Zunge zurück, da könne man warten bis zum Jüngsten Tag, er habe Eltern und Heimat längst vergessen, oder ob die paar Grüße, die er an Festtagen schicke – sie wies nach dem Küchenschrank, wo in einer Reihe ein paar bunte Ansichtskarten aus Mailand angeheftet waren – als Gegenbeweis gälten? Bernardo sei nicht dumm, das lustige Leben in der Stadt, das die Mutter ja oft genug beschrieben habe, gefalle ihm zu gut, er bleibe, wo er sei. Und überhaupt: als ob Bernardo nötig wäre auf dem Hof! Sie ersetze ihn schon. So trieb sie es, bis Detta weinte und Tomaso sie zur Ordnung wies. Was sie sich eigentlich einbilde! Und wenn man auch bis zum Jüngsten Tage auf ihn warten müsse, seinen Platz würde sie nie einnehmen, das solle sie sich gesagt sein lassen.
Es traf Orsanna, daß die Stellung, die sie sich erarbeitet zu haben wähnte, ihr nur geliehen sein sollte. Empört fragte sie sich, ob sie nicht gescheiter täte, dem Beispiel Bernardos folgend, in die Fremde zu ziehen, wo man ihre Kraft besser zu würdigen wüßte. Mochten die Eltern schauen, wie sie allein fertig würden. Doch das waren zornige Faseleien. Nie könnte sie die Bargada verlassen. Für sie gab es nichts auf der Welt, als hier in schwerer Arbeit sich mühen und mit allen Mitteln versuchen, gegen Brauch und Umstände, gegen den Willen der Eltern sich den ersten Rang auf dem Hof, auf den der Bruder verzichtete und den sie schon so gut wie inne hatte, zu sichern. Es mußte gelingen.
Wenn sich ein Mann für sie fände, bereit, auf den Hof einzuheiraten? Fast lächerte sie der Gedanke. Sie war schon über die Dreißig und hatte nie Zeit gehabt, sich um junge Burschen zu kümmern. Zudem, welcher hätte es ernst mit ihr gemeint? Eine Armini heiratete keiner vom Dorf. Nun war da aber der neue junge Wegknecht Giovanni. Er wohnte weit unten im ersten Ort des Tales und half seiner Mutter, die mit vielen kleinen Kindern Witfrau geblieben war, die Geschwister aufziehen. Man rühmte ihn deswegen. Jede Woche führte ihn sein Arbeitsgang über die Bargada. Orsanna sah ihn gerne kommen und beobachtete ihn etwa vom Garten aus. Er arbeitete mit Schaufel und Harke, fleißig und doch ohne Hast, daß es ihr recht gefiel. Auch sein kantiges Gesicht gefiel ihr. Sie durfte es sich offen gestehen, er war so viel jünger als sie, fast ein Bub noch, kam ihr vor. Oft gab es sich, daß sie ihn auf dem Wege traf, wenn er nach Feierabend die Werkzeuge auf der Schulter den langen Gang in sein Dorf hinunter antrat. Sie plauderten, machten einen Scherz. So hatte es begonnen. Doch wollte ihr bald scheinen, Giovanni wisse es geschickt einzurichten, um sie zu treffen, und was er ihr sage, habe alles einen zweiten Sinn: es wolle anderes und mehr sagen, als was die Worte bedeuteten. Sie ertappte sich dabei, nach diesem Sinn zu suchen und zu prüfen, was darauf zu antworten wäre. Dann schalt sie sich närrisch, hielt sich Launen alter Mädchen vor und schämte sich, Zeit mit Unsinn zu vergeuden. Und doch wurden ihr die Tage der Woche lieb oder unlieb, je nachdem sie näher oder ferner jenem Tag lagen, der den Burschen auf die Bargada brachte.
An einem Abend, ganz außer der Wochenordnung, stand Giovanni neben ihr, als sie die Kühe am Brunnen tränkte. Sie war so verblüfft, daß sie vergaß zu grüßen.
«Guten Abend», sagte er nach einer stummen Weile. «Du staunst mich an, als wäre ich ein Gespenst.»
Orsanna nahm sich zusammen. «Was treibt dich her?»
«Du meinst wohl, es sei ein Mädchen?» gab er zurück.
Orsanna schlug mit der Hand gegen den Wasserstrahl, daß er Giovanni traf. «Das dürfte wohl die Alda sein?»
«Wer weiß!» Es freute ihn, sie zu plagen. «Jedenfalls muß ich ins Dorf.»
«Und gehst heute nacht noch nach Hause?» frug sie weiter.
«Warum nicht?» warf er hin. «Es ist angenehm, nachts zu wandern, allein, und an das zu denken, was man wünscht.»
Orsannas Herz klopfte: «Und was wünschest du dir denn, wenn man es wissen darf?»
Giovanni sagte scherzend: «Vielleicht weißt du es!» Er schaute sie mit harten, klaren Augen an, deren eindringlicher Ernst in Widerspruch stand zu seinem lachenden Mund.
Betroffen wich Orsanna dem Ernst wie dem Scherz aus und fügte gleichgültig bei: «Wenn du auf dem Rückweg bist, tritt bei uns ein; die Alten freuen sich, jemanden zu sehen.»
Er antwortete nichts darauf, grüßte nur mit der Hand und eilte davon, dem Dorf zu.
Orsanna