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bildeten die Schweizerinnen dann ihre nationale Interessenorganisation für das «integrale» Stimm- und Wahlrecht, also für dieselben politischen Rechte wie die Männer.

      Auch dieser Weg war lang, wie im Folgenden zu zeigen ist. Nicht zuletzt, weil die Ungleichheit der Geschlechter durch die Arbeit der Behörden und Parlamente, Parteien und Gewerkschaften immer wieder neu hergestellt und konsolidiert wurde.10 Dargestellt wird zuerst das politische Handeln der Stimmrechtsaktivistinnen und -aktivisten sowie ihrer Gegnerschaft in Kantonen und Bund. Danach richtet sich der Fokus auf die Akteurinnen und Akteure. Schliesslich wird nach den argumentativen Strategien in dieser langjährigen und virulenten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzung gefragt.

Die politische Aktion

      Die Geschichte des Frauenstimmrechts in der Schweiz ist dicht und vielschichtig. Zwischen der Einführung des allgemeinen Männerstimm- und -wahlrechts 1848 und der gesamtschweizerischen Realisierung des Frauenstimmrechts 1990 durch einen Bundesgerichtsentscheid (Fall Rohner), der den Kanton Appenzell Innerrhoden zwang, seinen Widerstand gegen die politische Gleichberechtigung der Frauen aufzugeben, vergingen rund 150 Jahre. Dazwischen fanden über neunzig Abstimmungen auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene statt.

      Im Folgenden geht es darum, erstens eine Periodisierung vorzunehmen und die Momente des Wandels auf nationaler Ebene oder mit nationaler Bedeutung (Verfassungsrevisionen, nationale Abstimmungen und Petitionen, kantonale Abstimmungen mit nationaler Relevanz, parlamentarische Interventionen, Bundesgerichtsentscheide) zu analysieren. Inwiefern stellten sie Möglichkeitsfenster dar und welches waren die daran geknüpften Erwartungen der Befürworterinnen und Befürworter des Frauenstimmrechts? Und folgten darauf jeweils Phasen der politischen Stagnation oder des gesellschaftlichen Rückschritts? Zu fragen ist ferner, welche Taktiken die Befürworterinnen und Befürworter, aber auch die Gegnerinnen und Gegner verfolgten oder welches Aktionsrepertoire ihnen zur Verfügung stand, welche Allianzen welcher Art sie schliessen konnten und wie funktionstüchtig diese waren. Zweitens gilt es, den Blick auf die inter- und transnationale Ebene zu richten und zu fragen, welchen Einfluss die transnationalen Verflechtungen der Schweizer Feministinnen und Momente des Beitritts der Schweiz zu internationalen Organisationen oder Konventionen auf die Debatten rund um das Frauenstimmrecht hatten.

      1848 bis 1872/74: die konzeptuelle Emergenzphase

      1848 gilt gemeinhin als das Jahr, in dem der neue Bundesstaat das allgemeine oder universelle (Männer-)Stimmrecht einführte. Das stimmt so nicht. Es handelte sich nicht nur im Hinblick auf die Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts um einen falschen Universalismus. Die Eidgenossenschaft liess zahlreiche Ausnahmen zu. Art. 74 der Bundesverfassung (BV) bestimmte lediglich, dass jeder Kantonsbürger auch Schweizer Bürger sei, denn die kantonale Niederlassungsberechtigung war Grundlage des Schweizer Bürgerrechts. Doch Frauen, Kinder, Entmündigte, Armengenössige, Konkursiten, Verbrecher oder Fremde blieben von den politischen Rechten ausgeklammert.11 Die Tagsatzungskommission nennt 437 103 Stimmberechtigte, die 1848 über die BV entscheiden konnten, was bloss zwanzig Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung der Schweiz entsprach.12 Eine Schätzung beziffert den Anteil der effektiv Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung bis 1910 auf höchstens einen Viertel.13 Im internationalen Vergleich war das zwar ein relativ hoher Wert, die «älteste Demokratie der Welt» war aber weit von «universellen» politischen Rechten entfernt.

      Zu berichtigen ist ferner die Vorstellung, dass die verfassungsgebende Tagsatzungskommission 1848 eine direkte Demokratie verabschiedet hätte. Sie wählte im Gegenteil eine liberal-repräsentative Demokratie für die Bundesebene und liess den Kantonen weitgehende Freiheit in der Organisation ihres Wahlsystems. Die Tagsatzungskommission diskutierte zwar die Ungleichbehandlung der Juden im Bereich der Niederlassungsfreiheit, verlor aber kein Wort über die mindere Rechtsstellung der Frauen und ihren Ausschluss von den politischen Rechten.14 Die Schweizer Verfassungsgeber übernahmen die Ideen der Freiheit und Gleichheit des Naturrechts, interpretierten es aber wie die Gesetzgeber in anderen Ländern auch als Gleichheit für die Gleichen, Ungleichheit für die Ungleichen.15 Nur dem männlichen Geschlecht wurden im liberal-radikalen Weltbild die für die öffentliche Sphäre notwendigen Fähigkeiten zugeschrieben, Frauen hingegen wurden diese prinzipiell abgestritten. Doch während die Ausschlussgründe für die Männer zunehmend abgebaut und gleichzeitig die demokratischen Rechte erweitert wurden, blieben die Frauen von der politischen Teilhabe rund 120 Jahre (und kantonal sogar rund 150 Jahre) ausgeschlossen – freilich nicht ganz widerspruchsfrei.

      Wiederholt vereinzelte Stimmen

      Die rechtliche Gleichstellung der Frauen und das Frauenstimm- und -wahlrecht waren Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs unbekannte Forderungen. In Wirklichkeit entstand die feministische Kritik des weiblichen Ausschlusses von den bürgerlichen Rechten parallel zu diesem Ausschluss.16 Den modernen Auftakt während der Französischen Revolution machte Olympe de Gouges mit ihrer Forderung «la femme a le droit de monter sur l’échafaud; elle doit avoir également celui de monter à la Tribune», was sich aber nur für den ersten Teil des Satzes bewahrheiten sollte. Als weniger folgenreich (persönlich und auch politisch) erwies sich eine Reihe späterer Interventionen, die ebenfalls den falschen Universalismus der politischen Repräsentation, wie ihn Demokratien reklamierten, anprangerten. Bekannt geworden ist die Forderung des Berner Gelehrten Beat von Lerber (1788–1849) in seiner Eingabe von 1830 an die Berner Regierung: «Das weibliche Geschlecht soll in allen Menschenrechten dem männlichen ganz gleich gestellt werden.»17 Während in der Schweiz die Verfassungsgründer stillschweigend über die Diskriminierung von Frauen hinweggingen, hatte sich in Deutschland und in Frankreich zur Zeit der 1848er-Revolutionen eine breitgefächerte Frauenbewegung formiert; in Grossbritannien ertönte die Forderung des Frauenstimmrechts im Chartismus und jeweils im Zuge der Wahlrechtsreformen (1832/1860er-Jahre).18 John Stuart Mill scheiterte allerdings 1867 im britischen Parlament mit seinem Antrag für politische Rechte für Frauen. In Wien forderten anonyme «Bittstellerinnen» 1848 in einer Flugschrift die «Gleichstellung aller Rechte der Männer mit den Frauen: oder: die Frauen als Wähler, Deputirte [sic!] und Volksvertreter».19 Im gleichen Jahr verlangten die in Seneca Falls im Bundesstaat New York versammelten Amerikanerinnen das Wahlrecht.

      Im jungen Bundesstaat der Schweizerischen Eidgenossenschaft beanstandete ungefähr zur selben Zeit eine Gruppe Freiburgerinnen indirekt ihre fehlenden politischen Rechte. In ihrer am 5. Januar 1849 den Schweizer Bundesbehörden eingereichten Petition empörten sie sich, dass sie von der Freiburger radikalen Regierung als «auteurs et fauteurs du Sonderbund et de la résistance armée» zur Zahlung einer Strafsteuer verurteilt worden waren. Es sei unglaublich, dass Frauen für den Ausgang von Kämpfen und politischen Maximen verantwortlich gemacht würden, wenn das Gesetz sie gleichzeitig zu Minderjährigen erkläre und einer dauernden Vormundschaft unterwerfe. Ausserdem konnten sie nicht verstehen, dass man damit drohte, ihnen die politischen Rechte zu entziehen, über die sie gar nie verfügt hätten.20

      Mit den Demokratisierungsbewegungen der 1860er-Jahre meldeten sich auch in der Schweiz vereinzelte Stimmen, die das Frauenstimmrecht forderten. Sie blieben ungehört. Bekannt ist die Petition der Sissacherinnen von 1862 aus dem Kanton Basel-Landschaft.21 Im Lauf der Arbeiten an einer neuen Zürcher Verfassung 1868 richteten «mehrere Frauen aus dem Volke» eine Eingabe an den Verfassungsrat mit folgendem Inhalt: «Soll die Losung des Züricher Volkes ‹Freiheit, Bildung, Wohlstand› zur That und Wahrheit werden, so müsste Jungfrauen und Frauen vom 20ten Lebensjahre an ein voller Antheil an allen bürgerlichen Rechten gewährt sein. Was wir nur aus diesem Grunde erbitten, was wir verlangen, das heisst: Wahlberechtigung u. Wahlfähigkeit für das weibliche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten und Beziehungen.»22

      Die Eingabe ging als Nr. 99 in die systematische Übersicht der Revisionswünsche ein. Es war nicht die einzige: Auch Theodor Zuppinger aus Männedorf setzte sich für das «Stimmrecht der Bürgerinnen» ein, während Diakon Heinrich H. Hirzel aus Zürich eine «Stimmberechtigung des Frauengeschlechtes in Kirchen- und Schulgemeindeversammlungen» verlangte. Die Neue Zürcher Zeitung

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