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(Sackett et al. 1996, S. 71; Übers. d. Verf.):

      »Die Praxis der evidenzbasierten Medizin bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der besten verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung. Mit individueller klinischer Expertise meinen wir das Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben. Ein Zuwachs an Expertise spiegelt sich auf vielerlei Weise wider […] und in einem umsichtigen und mitfühlenden Erkennen und Berücksichtigen der Problematik des individuellen Patienten, seiner Rechte und Präferenzen bei der klinischen Entscheidungsfindung für seine Behandlung.«

      Krebserkrankungen und ihre Therapien stellen Belastungen dar, die nicht selten die unmittelbar Betroffenen und die mitbetroffenen Angehörigen an ihre Grenzen bringen. Auch dafür gilt es im Rahmen der onkologischen Behandlung Unterstützung anzubieten.

      Die alltägliche Kommunikation mit den Patienten stellt eine große Herausforderung für alle Beteiligten dar: Dazu gehören die Gestaltung auch kurzer Patientenkontakte, die Art und Weise der Vermittlung bzw. des Austauschs von Information oder die Entscheidungsfindung bei der Erstellung eines Gesamtbehandlungsplans und dessen prozessorientierte Modifikation. Diese Herausforderungen werden im Klinikalltag keineswegs immer optimal bewältigt. Dabei entsteht viel unnötiges Leiden, oft aus Zeitmangel. Aber auch viele zeitsparende Möglichkeiten therapeutisch wirksamer Kommunikation verstreichen ungenutzt.

      Allein schon die Kommunikation der beteiligten Behandler untereinander ist eine anspruchsvolle Herausforderung. Ist höchste medizinische Qualität gefragt, können nur mehr sogenannte Tumorboards die Zusammenschau der Befunde und das Abwägen der zunehmend komplexer werdenden Therapieoptionen wie Operationen, Chemotherapie und anderer Formen medikamentöser Therapie sowie Strahlentherapien und deren Timing leisten. Das sind regelmäßige Fallbesprechungen von Teams aus Vertretern diverser medizinischer Spezialfächer. Der Therapievorschlag wird im Idealfall aufgrund der aktuellen Studienlage evidenzbasiert auf die Krankheit hin optimiert. Wer in einer Zusammenschau aller relevanten Fakten mit dem Patienten spricht, ihn bei seinen Entscheidungsprozessen berät und unterstützt, das Vorgehen mit ihm abstimmt und danach auch über den weiteren Verlauf den Überblick behält, ist dann oft nicht mehr so klar und eindeutig festgelegt.

      Die moderne Onkologie handelt arbeitsteilig und multiprofessionell. Am erfolgreichsten ist die Behandlung, wenn es gelingt, die Vielfalt des Wissens der beteiligten Berufsgruppen und Personen und deren Austausch als Bereicherung zu erfahren. Vom Spezialisten bis zum Hausarzt, vom Strahlentherapeuten bis zum Psychiater, von Pflegepersonen, Sozialarbeitern, Seelsorgern bis hin zum Psychoonkologen. Es bedarf gelingender Kommunikation, die Beiträge aller zu integrieren und gemeinsam mit dem Patienten einen Gesamtbehandlungsplan zu dessen Wohl auszuhandeln.

      Die Sehnsucht vieler Patienten nach einem »Halbgott in Weiß«, der alles kann und weiß, ist gerade in Zeiten der Not gut nachvollziehbar. Im Idealfall laufen alle Fäden bei einer möglichst kontinuierlich und verlässlich zur Verfügung stehenden Person zusammen. Im optimalen Fall wäre das ein Onkologe mit medizinischer, psychosozialer und kommunikativer Kompetenz. Das Beiziehen von Spezialisten aus den sogenannten Psychofächern, sei es ein Psychoonkologe oder Psychiater, wird von Patienten oft als zusätzliche Stigmatisierung und auf der Beziehungsebene als Abweisung erlebt. Manchmal berät der Hausarzt den Patienten; an einigen Tumorzentren gibt es Case-Manager. Nach positiven Erfahrungen schreibt der Patient auch nicht selten dem Psychoonkologen die Rolle zu, ihm bei Entscheidungen beizustehen und ihn zu beraten.

      Bei jeglicher Behandlung ist die Bildung einer therapeutischen Allianz Voraussetzung für deren Erfolg. Dazu bedarf es dreier Säulen: einer Vertrauensbeziehung, einer Übereinkunft über die Ziele und einer Einigung über die Mittel der Behandlung (Bordin 1979). Auf die Einbettung der Behandlung und Kommunikation in Beziehungskontexte werden wir im Rahmen unseres Konzepts in den Abschnitten 4.3 und 6.5.2 ausführlich eingehen. Für die unterschiedlichen Ziele in der Onkologie und die zu deren Erreichung eingesetzten Mittel gibt es eine Vielzahl von Spezialisten. Die Delegation der Aufgaben an verschiedene Personen und Berufsgruppen führt dazu, dass Patienten die Behandlung oft als fragmentiert erleben, weil häufig einer nicht vom anderen weiß, Informationen fehlen und sich deren Zielsetzungen nicht selten widersprechen oder gar nicht explizit zum Thema gemacht werden. Das Aushandeln einer Übereinkunft über die im Gesamtbehandlungsplan einzusetzenden Mittel ist jener Bestandteil einer therapeutischen Allianz, der in der Onkologie wohl am häufigsten zu kurz kommt.

      Von den Behandlern wird viel erhofft und erwartet. Die Vielfalt der Bedürfnisse von Patienten kann nur aus einer entsprechenden Vielzahl von Rollen heraus erfüllt werden. Die Annahme, es könne eine Person geben, die all diese aus Patientensicht wünschenswerten Rollen erfüllt, erscheint unrealistisch.

      Da ist die Rolle des medizinischen Spezialisten, der die Diagnostik beherrscht und über Therapieoptionen Bescheid weiß und diesbezüglich berät oder auf Wunsch des Patienten sogar entscheidet. Diese Rolle sollte sich mit der eines Kommunikationsspezialisten verbinden, der die Informationen individuell angepasst verständlich und in »verdaulichen« Portionen vermittelt. Er sollte dialogfähig sein, sich empathisch in den Patienten einfühlen können und ihn aus dieser Einfühlung heraus individualisiert beraten können. Er sollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, Hoffnung und Zuversicht vermitteln und zugleich realistisch sein. Es sollte immer jemanden geben, der Lösungen für die ständig auftauchenden Probleme kennt oder der zumindest weiß, wer Ideen dazu haben könnte. Jemand sollte bei der Krankheitsbewältigung unterstützen und dem Patienten Erfahrungen von Selbstwirksamkeit ermöglichen, indem er ihn auch darin berät, wie dieser selbst zu seinem Wohlergehen beitragen kann. Wenn alles Mögliche getan, alles Lösbare gelöst und alles, was gesagt werden muss, gesagt ist, bedarf es einer professionellen, mitmenschlichen Präsenz (S. 171 ff.).

      Diese vielen Rollen überfordern einen einzelnen Arzt. Zudem entsprechen sie kaum den Rollenbildern, die sich aus dem Selbstbild vieler Ärzte ergeben. Dieses ist in der Onkologie von den oben beschriebenen Mythen geprägt, vom Arzt als Kämpfer gegen den Krebs oder gar den Tod. Für manche Ärzte fühlt es sich an, als hätten sie selbst den Kampf verloren, wenn ihr Patient stirbt. In der klassischen Kampfmetapher gibt es nur zwei mögliche Ausgänge: Man wird zum Sieger oder Verlierer. In der modernen Krebsmedizin ist jedoch bei vielen Patienten, um in der Kriegsmetapher zu bleiben, ein länger dauernder Waffenstillstand ein angemessenes Ziel. Je ohnmächtiger sich Menschen fühlen, umso überlebensnotwendiger ist ein Erleben von Kontrolle. So wird in der Medizin viel getan, um Kontrollillusionen zu schaffen oder aufrechtzuerhalten. Dazu dienen auch Vorstellungen, Krebserkrankungen oder deren Therapie mit einfachen linear-kausalen Modellen erklären und beherrschen zu können.

      Michael Balint (2019) benannte es schon vor über fünfzig Jahren als »apostolische Funktion des Arztes«, wenn dieser glaubt, er besäße die Offenbarung darüber, was das Richtige für den Patienten sei, und es sei seine heilige Pflicht, die Unwissenden und Ungläubigen unter den Patienten zu diesem, seinem Glauben zu bekehren. Es besteht die Gefahr, dass unter dem Mantel einer evidenzbasierten Medizin, die sich ausschließlich auf die Ergebnisse kontrollierter Studien bezieht, diese apostolische Funktion im Selbstverständnis von Ärzten wieder bestärkt wird. Balint hat seine Warnung bezüglich der apostolischen Funktion des Arztes noch durch das Bild der »Droge Arzt« bzw. des »Arztes als Arznei« ergänzt. Seine Ehefrau – die Psychoanalytikerin Enid Balint (1969) – hat den Begriff der patientenzentrierten Medizin geprägt und sich um deren Integration in ein ansonsten krankheitszentriertes Vorgehen bemüht.

      Psychoonkologen stellt sich die Frage, wie sie den Patienten dabei unterstützen können, Menschen zu finden, die die für ihn notwendigen Rollen ausfüllen, und welche der geforderten Rollen sie selbst einnehmen können. Das hängt selbstverständlich auch vom Quellenberuf der psychoonkologisch Tätigen ab. Eine Rolle, die sich für uns Autoren bewährt hat, ist die eines Reisebegleiters (Ebell 2008b).

      Die gemeinsame Reise führt in ein unbekanntes Gebiet, in die einzigartige individuelle Wirklichkeit des Patienten. Auch wenn der Verlauf

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