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angemessene Annäherungsziele angestrebt und erreicht werden. Denn nicht erst, wenn alles der Medizin Mögliche getan und alles Wichtige gesagt ist, wird die mitmenschliche Präsenz des begleitenden Arztes oder Therapeuten zu einer bedeutsamen Ressource für Gesundung und Heilung (Rousseau 2010; vgl. S. 171 ff.).

       4.4Therapeutisch wirksame Kommunikation fördert den Perspektivenwechsel von Vermeidungszielen zu Annäherungszielen

      Zentraler Bestandteil therapeutisch wirksamer Kommunikation ist ein Perspektivenwechsel. Wir verstehen darunter die Umorientierung des Patienten von Vermeidungszielen hin zu Annäherungszielen, eine Lenkung seiner Aufmerksamkeit von dem, was er nicht will, zu dem, was er anstrebt und ihm guttut. Die konkrete Umsetzung dieses Perspektivenwechsels durchzieht alle Anwendungen des Pyramidenmodells, er wird auf dessen zweiter Stufe näher erläutert (Abschn. 5.6).

      Zur Umorientierung des Patienten müssen auch die Behandler den Fokus ihrer Aufmerksamkeit entsprechend verändern. Dazu bedarf es entsprechender handlungsleitender Konzepte. Die vier für uns dabei hilfreichsten Modelle sind:

      •die mit der Salutogenese verknüpfte Vorstellung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums

      •das »beidäugige Sehen«, das neben den Problemen auch Ressourcen in den Fokus nimmt

      •Resilienz

      •das Konzept des Aufblühens und des posttraumatischen Wachstums.

       Perspektive der Salutogenese: Gesundheits-Krankheits-Kontinuum und Kohärenzsinn

      Krebserkrankungen stellen eine dichotome Kategorisierung in gesund oder krank radikal infrage. Das Erleben der Betroffenen schwankt zwischen gesund und krank, und oft fühlen sie sich gleichzeitig irgendwie krank und gesund. Oder das subjektive Gefühl, gesund bzw. krank zu sein, und die »objektiven« Befunde der Krankheit klaffen in die eine oder andere Richtung weit auseinander.

      Diesem Erleben kommt am ehesten die Beschreibung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums nahe (Antonovsky 1997). Gemäß diesem Modell bewegen wir uns zeitlebens zwischen den Extrempolen gesund und krank hin und her. Die Medizin versucht, Patienten vom Krankheitspol zu entfernen, indem sie die Krankheit und ihre Symptome bekämpft. Dies kann aber ebenso geschehen, wenn sich Patienten auf ihr Gesundsein konzentrieren. Der in unserem Modell angestrebte Perspektivenwechsel sucht nach allem, was dazu beitragen kann, sich dem Gesundheitspol anzunähern – und seien es »nur einige Millimeter«.

      Als zentralen gesundheitsförderlichen Faktor fand Antonovsky (1997) eine überdauernde innere Haltung, die er als Kohärenzsinn (»sense of coherence«) bezeichnete, der sich aus drei Komponenten zusammensetzt: Verstehbarkeit (»comprehensibility«), Handhabbarkeit (»manageability«), und Sinnhaftigkeit (»meaningfulness«) – aus dem Gefühl zu verstehen, was vorgeht, dem Gefühl, die sich stellenden Herausforderungen handhaben zu können, und dem basalen Gefühl, dass sich ein Engagement lohnt und sinnvoll ist. In diesem Bereich gibt es Überschneidungen mit den Bedürfnissen von Kompetenz und Orientierung (S. 61 f.).

       Beidäugiges Sehen: Ressourcen und Probleme in den Blick nehmen

      »Gesundheitsziele« erfüllen subjektiv bedeutsame Bedürfnisse. Um sich ihnen anzunähern, gilt es, zieldienliche Ressourcen zu finden, zu aktivieren oder zu schaffen. Wir beschreiben den sich an Ressourcen orientierenden Perspektivenwechsel als beidäugiges diagnostisch-therapeutisches Sehen (Fürstenau 2002; siehe S. 68 f.). Dieses ermöglicht es auf flexible Weise, mit dem einen Auge die Probleme und gleichzeitig mit dem anderen Auge die Bewältigungsmöglichkeiten und Ressourcen zu sehen. Zwinkernd kann man das eine oder das andere Auge verschließen, um sich jeweils dem Blick mit dem anderen zu widmen. Man kann pendelnd zwischen beiden Perspektiven wechseln. Der gleichzeitige Blick mit beiden Augen aus unterschiedlichen Positionen macht Stereosehen und damit räumliches Wahrnehmen möglich. In einer biopsychosoziospirituellen Praxis können Probleme, vor allem aber auch Ressourcen, auf vier Ebenen gesucht und gefunden werden: der körperlichen, der psychischen, der sozialen (und kulturellen) sowie der spirituell-religiösen Ebene (Abschn. 5.4).

       Resilienz

      Zur Bewältigung unvermeidlicher Leidenszustände kann man die Resilienz stärken, spätestens, wenn man mit der Bekämpfung von Krankheit und Symptomen an seine Grenzen stößt. Insofern zielt die Psychoonkologie auch immer auf eine Stärkung von Widerstands- und Abwehrkräften, auf ein »Gedeihen trotz widriger Umstände« (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2016).

      Aus einer bindungsorientierten neurowissenschaftlichen Sicht (»affiliative neuroscience«) beruht Resilienz auf drei Prinzipien (Feldman 2020): Der Plastizität (»plasticity«) im Sinne der Regulations- und Anpassungsfähigkeit, der Einbettung von Menschen in soziale Systeme (»sociality«) und der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Bedeutungsgebung (»meaning«), also der Fähigkeit, auch Widrigkeiten, Leiden und traumatischen Erfahrungen Sinn zu geben. Hierbei kommen Spiritualität und Religion eine bedeutende Rolle zu. Auf der neurobiologischen Ebene werden drei resilienzfördernde Komponenten beschrieben: die Synchronisierung biologischer und verhaltensbezogener Rhythmen (»biobehavioral synchrony«), das Oxytocinsystem und das »soziale Gehirn« (»affiliative brain«).

      Synchronisierungsprozesse stehen im Mittelpunkt eines resonanzbasierten Vorgehens. Entspannung in einer Sicherheit gebenden therapeutischen Beziehung ist ein weiterer Eckpfeiler. Dabei werden über eine Aktivierung des Parasympathikus (Abschn. 7.3.1) und die Ausschüttung von Oxytocin Erholung und Heilungsprozesse möglich (Abschn. 8.4.3, S. 293). Von den vielen als resilienzfördernd erkannten Einflüssen stellen wir die Beziehungsfaktoren in den Vordergrund: Menschen, die verlässlich und wertschätzend für einen da sind, die Ressourcen und Potenziale erkennen, an einen glauben und zuversichtlich in die Zukunft blicken.

       Posttraumatisches Wachstum und »Aufblühen«

      Neben der Bekämpfung von Krankheit und der Förderung von Gesund-sein trotz der Krankheit beschreibt die positive Psychologie noch ein Phänomen jenseits von Krankheit und Gesundheit, das sie als Aufblühen (»flourishing«) bezeichnet. Es erscheint paradox, dass sich durch das Auftreten einer lebensbedrohlichen Krankheit neben allen Einschränkungen auch Freiheitsspielräume und Möglichkeiten eröffnen, die vor der Erkrankung undenkbar gewesen wären. Die Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens setzt oft Kräfte frei, Dinge zu beenden oder neu zu beginnen. Seitens der Betroffenen kann sich entfalten und aufblühen, was bis dahin zurückstehen oder im Verborgenen bleiben musste.

      Den Blick von den Verlusten hin zu den durch die Krankheit möglichen positiven Aspekten, ja Gewinnen, zu lenken, ist die vierte Form des Perspektivenwechsels, den wir anregen. Das Konzept eines posttraumatischen Wachstums weist in diese Richtung (Abschn. 9.3.4). Betätigungen, die zum Aufblühen führen, sind häufig dadurch charakterisiert, dass sie in einem gewissen Maße zur Erfüllung aller vier Grundbedürfnisse (Abschn. 5.3.1) beitragen und als sinnvoll erlebt werden.

      Ein Aufblühen kann durch eine Erweiterung der Aufmerksamkeit und den damit verbundenen Aufbau von Ressourcen erklärt werden. Durch positive Emotionen angetrieben, kommen Prozesse in Gang, die sich als eine spiralförmige Aufwärtsbewegung beschreiben lassen. In Zuständen positiver Gefühlslagen erweitern sich die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung. Diese Öffnung ermöglicht es, wohltuende Aspekte der Realität, Ressourcen und neue Handlungsspielräume wahrzunehmen

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