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mit den Soldaten die Pferde hüten. Ich war inzwischen zehn Jahre alt und fühlte mich groß und fast schon erwachsen.

      Im Herbst wurde es richtig spannend. Ich durfte mit den Soldaten auf den Koischwitzer See hinausfahren zum Fischen. Mit einem Schlauchboot ging es auf das ungefähr siebzig Hektar große Gewässer. Eine Handgranate ersparte Angel, Netz und viel Zeit. Nach der Detonation mussten die toten Fische nur noch aus dem Wasser gesammelt werden. Wichtig war dabei, dass man die Handgranate weit genug vom Boot aus ins Wasser warf. Einmal geriet mir der Wurf zu kurz. Die Detonation schleuderte mich aus dem Boot, und ich fand mich im See wieder. Zunächst hielt ich mich mit Hundepaddeln über Wasser. Schließlich gelang es mir, ins Boot zurückzuklettern. Ich habe leider nie richtig schwimmen gelernt.

      Klitschnass und frierend kam ich in der Kommandantur unter der Obhut des Soldaten Stjopa an. Stjopa war mein Freund. Er diente mit zwei Kaltblutpferden und einem Kastenwagen als Kurierfahrer zwischen unserem Dorf und dem Güterbahnhof Liegnitz. Oft haben wir gemeinsam Nahrungsmittel und Material für das Personal der Kommandantur vom Bahnhof geholt.

      Mein älterer Bruder Waldemar hatte sich mit zwei Soldaten aufs Schnapsbrennen verlegt. Mit Kartoffeln von leerstehenden Grundstücken leistete auch ich einen Beitrag dazu. Dass das Schnapsbrennen illegal war, brauche ich wahrscheinlich nicht zu erwähnen. Die russischen Soldaten wussten, wie man feststellen konnte, ob es sich bei der entstandenen Flüssigkeit um trinkbaren Alkohol handelt: Ein Offizier gab eine kleine Menge davon auf eine Untertasse, zündete diese an und erkannte an der Farbe der Flamme, ob die Sache auf dem richtigen Weg war.

      Vertilgt wurde der Schnaps bei lustigen Trinkgelagen. Sie waren oft begleitet von dem Akkordeonspiel eines mongolischen Soldaten. Es wurde auch gesungen und zuweilen sogar getanzt. Die Soldaten zeigten mir die Tanzschritte und forderten mich auf, diese nachzumachen. Ab und zu kam es vor, dass auch ich ein Glas vom Selbstgebrannten trank. Und weil niemand den Namen »Siegfried« richtig aussprechen konnte – schon gar nicht unter dem Einfluss von Alkohol –, hieß ich von da an »Sülfried«.

      Im Zusammenhang mit dem mongolischen Akkordeonspieler gab es ein Ereignis, das mich erschütterte: Auf dem Gutshof wurden eines Tages circa zehn bis fünfzehn Reitpferde eingepfercht, um eine rossige Stute aus der Herde zu entnehmen, für die sich ein stattlicher Apfelschimmelhengst interessierte. Als besagter Soldat an die Stute herantrat, um ihr ein Halfter anzulegen, schlug unvermittelt der schöne Hengst aus und traf mit einem Huf voll in das Gesicht des Mongolen, der blutüberströmt zu Boden stürzte und die Besinnung verlor. Blitzschnell wurde ein sowjetischer Militär-Lkw zum Einsatz gebracht, mit welchem man den Verunglückten ins russische Hospital nach Liegnitz transportierte.

      Die sprichwörtliche Zähigkeit von Mongolen traf auch voll und ganz auf den Akkordeonspieler zu. Denn gerade einmal vier Wochen waren vergangen, als der stets freundliche und lustige Mann wieder unter uns war. Allerdings waren in seinem Gesicht, vor allem im Bereich der Nase, aber auch an anderen Stellen, zum Teil noch nicht ganz verheilte Wunden sichtbar, die Narben hinterlassen würden.

      Während mein väterlicher Freund Stjopa sicherlich der älteste im Personalbestand der Soldaten war, machte ich auch die Bekanntschaft mit einem nur siebzehn Jahre alten Scharfschützen. An seinem mit Zielfernrohr ausgestatteten Gewehr befanden sich links und rechts am hölzernen Schaft, bis zum Gewehrkolben reichend, circa ein Zentimeter lange Kerben. Als ich im Sommer 1945 in unserer nicht mehr bewohnbaren Wohnung im Kleiderschrank eine kurze, schwarze Cordhose fand und auch gleich anzog, brach das Unheil über mich herein. Ich wusste nicht, ob dieses Kleidungsstück zu einer Jungvolkuniform gehörte oder eine Hose meines älteren Bruders Waldemar war, welcher im Kreisverband Liegnitz der Hitlerjugend (HJ) Funktionsträger gewesen war.

      Als ich dem Scharfschützen, die besagte Hose tragend, begegnete, schaute er mich mit großen Augen an und fasste mit einer Hand an eines der kurzen Hosenbeine. Er sagte, mich dabei zornig anschauend: »Faschist!« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand zielte er auf mich und drückte diesen Finger. Die gleiche Bewegung machte er, als er mir die am Gewehr eingekerbten Stellen zeigte. Auf einer Reihe von Kerben mit dem Zeigefinger streichend, wiederholte er mehrfach zornig: »Faschist!« Er zeigte mir also die durch ihn erfolgten tödlichen Schüsse auf die Deutschen.

      Von umstehenden Soldaten, es kann auch Stjopa gewesen sein, wurde mir verständlich gemacht, dass der Siebzehnjährige im Krieg seine gesamte Familie verloren hatte. Einige Zeit nach diesem Vorfall war der junge Soldat nicht mehr bei der Truppe. Es hieß, er sei nach Hause entlassen worden.

      Ich begleitete Stjopa bei allen möglichen Fahrten, Feiern und Gelagen. Stjopa war ein älterer Russe mit dickem Kaiser-Wilhelm-Bart auf der Oberlippe und grauem Haar. Er war für mich zum Vaterersatz geworden. Meine Liebe zu Stjopa ging so weit, dass ich mich im Juni 1946 meiner Aussiedlung widersetzte. »Ich gehe mit Stjopa nach Russland«, erklärte ich meiner Mutter und meinen Brüdern rundheraus.

      Durch das Potsdamer Abkommen lag unser Dorf nunmehr auf polnischem Verwaltungsgebiet. Wir Deutsche mussten aussiedeln. Die polnische Verwaltung forderte uns auf, uns auf dem Güterbahnhof Liegnitz einzufinden. Für mich war das keine Zukunft. Ich wollte bei Stjopa bleiben und mit ihm nach Russland gehen. Zweimal riss ich aus. Jedes Mal holte mich mein älterer Bruder zum Teil mit körperlicher Gewalt zurück. Erst nach ausführlichen Gesprächen und guten Worten gab ich mein Vorhaben zumindest vorerst auf.

      Der Sammelpunkt »Ziegenteich« lag in Liegnitz, unserer Kreisstadt. Wir verbrachten dort unsere erste Nacht im Freien. Am nächsten Morgen schwamm im Teich die Leiche eines Mannes. Möglicherweise war der Verlust des bisherigen Lebens für ihn Grund gewesen, sich der Aussiedlung durch Freitod zu widersetzen.

      Einen Tag später fuhren die Güterwaggons mit uns nach Görlitz, und von dort wurden wir nach Königsbrück gebracht. Unsere Unterkunft war ein mit Mauern umschlossenes Objekt, eine Art Kaserne. Nachdem ich mit Stjopa meinen Vaterersatz zurückgelassen hatte, wurde ich nun auch noch von meiner Mutter und Oma Emma getrennt. Kinder und Erwachsene wohnten in verschiedenen Arealen. Das war zu viel für mich. Der Verlust aller meiner Bezugspersonen machte mich zum Bettnässer. Ich war elf Jahre alt. Das war mir, seit ich zurückdenken konnte, nicht mehr passiert. Ich schämte mich furchtbar. Niemand sollte davon erfahren. Deshalb blieb ich oft so lange im Bett, bis Decke und Laken durch meine Körperwärme halbwegs wieder trocken waren.

      In Königsbrück blieben wir nicht lange. Ein Aufteilungsschlüssel teilte uns Mittweida in Sachsen zu. Oma Emma wurde zu einem ihrer Söhne nach Dresden in die Ortschaft Cossebaude geschickt. Meine Mutter, meine beiden Brüder und ich fanden eine Bleibe in einer Baracke, in der bis Kriegsende Fremdarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht worden waren. Unsere Tante, die Schwester meiner Mutter, lebte mit ihren drei Kindern ebenfalls in dieser Baracke.

      Es war schwer für die beiden Frauen, sechs halbwüchsige Kinder täglich zu ernähren. Daher war meine Mutter erleichtert, als Waldemar, mein älterer Bruder, bei einem Bauern in Mutzscheroda, Kreis Rochlitz, in Lohn und Brot kam. So hatten wir einen Esser weniger. Trotzdem war es schwierig, an Lebensmittel zu kommen. In der Folge habe ich mehrfach bei dieser Großbauernfamilie deren Kühe gehütet und als Lohn Naturalien mit nach Mittweida nehmen können. Oft suchten wir noch nach dem ersten Frosteinbruch nach halbangefrorenen Steckrüben und Kartoffeln auf den bereits abgeernteten Feldern. Wir fanden bei unserer Suche auch erfrorene Kohlrabi, welche natürlich in unseren Säcken und später in Mutters Topf landeten. Die Mahlzeiten wurden in einer Gemeinschaftsküche zubereitet und fielen allzu oft sehr karg aus.

      Ende Dezember 1946 bekamen wir zwei Zimmer in einem Dachboden in einem Hinterhaus zugewiesen. Nun wohnten wir im Zentrum von Mittweida, genau genommen am Markt 5.

      Die erste Besichtigung unserer neuen Heimstatt war ernüchternd: Es gab keine Öfen und keine Heizung. Eine Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer, hatte jedoch keine Spülung. Die beiden Zimmer gingen rechts und links von einem kleinen Flur ab, der wenigstens mit Wasser versehen war. Die Wasserversorgung bestand aus einem Wasserhahn über einem trichterförmigen, gusseisernen Becken. Im linken Raum hatte ein vorheriger Bewohner einen Bügeltisch nebst einem Stuhl hinterlassen. Dahinter verliefen Heizungsrohre an der Wand, an die sicherlich auch einmal ein Heizkörper angeschlossen gewesen war. Den hatte jemand offensichtlich gebraucht und mitgenommen. Wenigstens elektrisches Licht war vorhanden.

      In

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