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gegen 14 Uhr. Über zwei Stunden hatte das Gespräch mit seinem Amtskollegen Schmiedinger gedauert. Gegenstand der Unterredung war ein Personalproblem. Das Amtsgericht Gemünden hatte massiven Personalbedarf im Rechtspflegerbereich, während das Amtsgericht in Aschaffenburg nach der Personalstatistik hier einen leichten Überhang verzeichnete. Die Personalabteilung beim Oberlandesgericht Bamberg hatte den beiden Direktoren freigestellt, sich über einen möglichen Personaltransfer zu einigen. Nach Abwägung aller Möglichkeiten hatte man schließlich einen gangbaren Kompromiss gefunden. Kerner war darüber sehr erleichtert. Sein Defender parkte in der Tiefgarage der Stadthalle am Schlossplatz, zu Fuß nur wenige Gehminuten vom Justizgebäude entfernt. Kerner überlegte einen Augenblick, ob er in der Fußgängerzone noch eine Kleinigkeit essen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Über die Einfahrt Treibgasse betrat er das Parkhaus und zahlte am nächsten Parkautomaten die Gebühr. Kerner näherte sich seinem Auto von der Rückseite, da er nach vorne eingeparkt hatte, öffnete die hintere Fahrzeugtür und warf seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz. Diesem folgte die Krawatte, die er sich aufatmend mit einer zügigen Bewegung vom Hals zog. Heute würde er nicht mehr ins Büro fahren. Gerade als er die Fahrertür öffnen wollte, nahm er an der Windschutzscheibe eine dunkle Silhouette wahr. Mit wenigen Schritten war Kerner an der Frontseite. Über seinen Rücken fuhr ein Schauer. Mitten auf der Windschutz scheibe hing, mit ausgebreiteten Schwingen und mit breitem, durchsichtigen Klebeband dort befestigt, eine Rabenkrähe!

      Kerner stieß einen Fluch aus. Was hatte das, verdammt noch mal, zu bedeuten? Hastig ließ er seinen Blick durch den einsehbaren Bereich der Tiefgarage gleiten. Wurde er beobachtet? Es musste ihm ja jemand gefolgt sein, woher sonst hätte der Täter wissen sollen, dass er hier parkte. Das Parkdeck um ihn herum war aber im Augenblick menschenleer. Wütend hastete er die Parkreihe entlang und starrte durch die Windschutzscheiben der abgestellten Fahrzeuge. Alle Wagen waren verlassen.

      Kerner lief zu seinem Defender zurück. Mit zusammengebissenen Zähnen beugte er sich über den Motorraum und kratzte mit den Fingernägeln das gut haftende Klebeband los. Einige Minuten später hielt er die tote Krähe in den Händen. Im Zwielicht der Garagenbeleuchtung musterte er den Vogel. Wie bei der ersten Krähe waren auch diesem Tier die Augen ausgestochen worden, und es hatte ein kleines Einschussloch. Das Blut war völlig eingetrocknet, am Gefieder haftete Erde, und der Vogel roch ziemlich streng nach Verwesung. Kerner befiel ein schwerer Verdacht. Das sah ja ganz so aus, als wäre das dieselbe Krähe, die er vor ein paar Tagen an der Jagdhütte eingegraben hatte. Das bedeutete aber doch … Wieder sah er sich in der Tiefgarage um. Es gab offenbar jemanden, der ihn im Wald beobachtet und, nachdem er gegangen war, die Krähe wieder ausgegraben hatte. Außerdem musste ihm derjenige hierher nach Aschaffenburg gefolgt sein, um ihm in einem geeigneten Moment das Tier an die Windschutzscheibe zu kleben. Wie pervers war das denn? Bei der Leere dieses Parkhauses war das Risiko der Entdeckung für den Unbekannten allerdings recht gering. Kerner packte den Vogel, öffnete seinen Kofferraum und warf den Kadaver hinein. Dann setzte er sich hinter das Steuer. Nachdem sein Zorn wieder einer gewissen Ernüchterung gewichen war, zwang er sich zu rationalem Denken. Mit Spessarter Bauernvoodoo hatte das nichts zu tun. Hinter der Sache steckte mehr! Kein verärgerter Spessartbewohner würde sich die Mühe machen, diesen Aufwand zu betreiben. Es sei denn … Ob ihm ein Stalker auf der Fährte saß? Mit einem äußerst unguten Gefühl startete Kerner den Motor des Geländefahrzeugs und lenkte es aus der Tiefgarage. Auf dem Weg zur Ausfahrt sah er ständig in den Rückspiegel, ob ihm jemand folgte. Für die Heimfahrt nach Partenstein wählte er bewusst die Landstraße. Auf dieser relativ wenig befahrenen Strecke wäre ihm ein Verfolgerfahrzeug sicher aufgefallen. Kerner hatte keine Ahnung, was er von diesen beiden Aktionen halten sollte. Wer auch immer dahintersteckte, hatte jedenfalls erreicht, dass er ein unterschwelliges Gefühl der Bedrohung empfand.

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      Es war später Nachmittag. Der Reiter war vor zehn Minuten am Stall des Würzburger Reitvereins losgeritten und hatte nun, aus Richtung Sebastian-Kneipp-Steg kommend, die Fußgängerampel an der Mergentheimer Straße erreicht. Der Mann stieg vom Pferd, hielt es fest am Zügel und drückte den Ampelknopf. Mit leiser Stimme beruhigte er die braune Stute, die sichtlich nervös neben ihm auf der Stelle tänzelte. Die Ohren angelegt, beobachtete sie misstrauisch den vorbeisausenden Strom der Fahrzeuge. Der ungewohnte Motorenlärm weckte ihren Fluchtinstinkt. Nur das Vertrauen in den Reiter hinderte sie daran, auszubrechen. Es war erst der fünfte Ausritt dieser Art, den er allein mit der unerfahrenen Stute unternahm. Zuvor war er nur in der Gruppe ausgeritten. Leila hatte einen gehörigen Schuss Araberblut in den Adern, was eine gewisse Sensibilität zur Folge hatte. Auf der anderen Seite schätzte der Reiter ihre Ausdauer, Schnelligkeit und Wendigkeit. Sie würde sich schon an den Verkehr gewöhnen.

      Die Ampel schaltete von Rot auf Grün. Mit beruhigender Stimme führte er Leila über die Straße. Wenige Meter weiter erreichten sie den Reitweg, der parallel zur Straße ins Steinbachtal durch das Grün des Guttenberger Forstes führte. Der Mann tätschelte kurz den Hals der Stute, dann schwang er sich in den Sattel. Geschickt glich er einen kleinen, übermütigen Bocksprung des jungen Pferdes aus. Man konnte sehen, dass er ein erfahrener Reiter war. Mit sanftem Schenkeldruck und mit relativ langen Zügeln veranlasste er die Stute, im Schritt anzutreten. Gekonnt passte er seine Bewegungen dem schwingenden Pferderücken an.

      »Brave Leila«, sagte er leise, beugte sich nach vorne und tätschelte ihr lobend den Hals. Ohne sein Zutun fiel das Pferd plötzlich in einen munteren Trab. Als die Stute kurz darauf vom Trab in den Galopp sprang, ließ er sie gewähren.

      Am Wendeplatz der Buslinie 8 im hinteren Steinbachtal angekommen, lenkte er Leila auf einen Waldweg, der in der Verlängerung nach etwa drei Kilometern auf das Forsthaus Guttenberg traf.

      Nach etwa einem Drittel der Strecke verließ der ausgeschilderte Reitpfad den breiten Weg und mündete in einen schmaleren Waldpfad. Der Reiter zügelte sein Pferd in den Schritt. Der niedere Unterwuchs, der beidseitig des Pfads wuchs streifte an den Flanken der Stute entlang und berührte die Stiefelschäfte des Reiters. Hier war das Blätterdach sehr dicht, und das Licht, das durch den Schirm der majestätischen Altbuchen drang, hatte nur noch die Intensität einer beginnenden Dämmerung.

      Bruno Müller stellte seinen kleinen japanischen Geländewagen mit der Vorderfront in einen Weg am Hang der Forstabteilung Hohenkamm und stieg aus. Der Forstbeamte beabsichtigte, sich ein paar ruhige Stunden auf der Jagd zu gönnen. Dabei kam es ihm gar nicht so sehr darauf an, Beute zu machen. Nach einem stressigen Tag stand für ihn die Erholung im Vordergrund. Selbstverständlich hatte er trotzdem seine Jagdwaffe dabei. Im Wald wusste man nie, ob man nicht auf Wild traf, das zu erlegen war.

      Müller warf von seinem erhöhten Standort einen Blick hinunter auf die viel begangene Forststraße, die parallel zum Weg verlief, an dem er parkte. Als er von der Bundesstraße in den Wald abgebogen war, hatte er einen Augenblick lang gedacht, es sei ihm ein Fahrzeug gefolgt. In Stadtnähe war es kein ungewöhnlicher Vorgang, wenn Menschen Forstwege als Abkürzung benutzten. Das war natürlich verboten, aber Müller hatte im Augenblick absolut keine Lust, den Waldsheriff zu spielen und sich mit irgendwelchen Leuten anzulegen. Daher ging er der Sache nicht weiter nach.

      Er schnappte sich seinen Rucksack und sein Gewehr, schloss den Wagen ab und marschierte in Richtung Hochsitz. Er war nur gute hundertfünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo er sein Fahrzeug abgestellt hatte.

      Die Stille des Waldes wurde nur durch das gelegentliche Rufen vereinzelter Ringeltauben und dem Zwitschern von Vögel unterbrochen. Müller merkte, wie er langsam ruhiger wurde und der Stress des Tages von ihm abfiel.

      Plötzlich fühlte er einen recht schmerzhaften Stich am Oberarm. Er zuckte zusammen und griff instinktiv an die Stelle. Seine Hand traf auf einen länglichen Gegenstand. Der Forstbeamte blieb stehen. Verstört betrachtete er eine Art Pfeil, der tief in der Muskulatur seines Arms steckte. Ehe er diesen jedoch entfernen konnte, überfiel ihn schlagartig eine lähmende Müdigkeit, die jegliche Entschlusskraft zum Erliegen brachte. Fast übergangslos schwanden ihm die Sinne, und er brach auf dem Trampelpfad zusammen.

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