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war der Mann draußen, richtete sich Thannenberger wieder auf, griff zum Mund und brachte die beiden Kapseln zum Vorschein. Er hatte sie bei der Kontrolle mit einer geschickten Bewegung seiner Zunge in die Wangentasche geschoben. Er wusste, dass der Beamte nicht sonderlich genau kontrollierte. Eine steckte er wieder in den Mund und schluckte sie. Das Morphin, das er seit drei Wochen verordnet bekommen hatte, würde seine Schmerzen zumindest so dämpfen, dass er es einigermaßen ertragen konnte. Mit der anderen ging er zum Spind und öffnete ihn. Er entnahm ihm ein Paar frisch gewaschene Socken, die ineinander zusammengerollt waren. Vorsichtig schob er die Kapsel zwischen die Baumwolle. Dabei fühlte er die anderen Kapseln, die er schon angespart hatte. Noch eine Woche, dann hatte er genug zusammen, um es riskieren zu können. In der Gefängnisbibliothek hatte er nachgelesen. Wenn die Überdosis groß genug war, würde eine Atemlähmung eintreten und damit der von ihm gewünschte Tod. Er hatte nicht vor, hier elend zu krepieren.

      Der Gefangene legte sich nieder und wartete, bis die Wirkung des Medikaments einsetzte. Nach einer Weile erhob er sich. Aus seinem Spind holte er einen Stapel Briefe, einen Schreibblock und einen Einwegkugelschreiber, damit ließ er sich am Tisch nieder. Er fächerte die Briefe wie Spielkarten vor sich auf. Die Adresse auf jedem Umschlag war mit der zierlichen Handschrift einer Frau geschrieben. Schließlich nahm er den letzten Brief in die Hand, den er etwa vor einer Woche bekommen hatte. Obwohl er den Inhalt fast auswendig kannte, las er jeden Satz und genoss erneut die liebevolle Botschaft, die die Zeilen enthielten. Dann legte er die beiden auf der Vorder- und Rückseite beschriebenen Blätter zur Seite und griff sich den Schreibblock. Einige Zeit starrte er auf das leere, linierte Blatt, dann beugte er sich vor und begann zu schreiben. Schweren Herzens hatte er sich entschieden, endlich die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.

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       Fünf Monate später

      Die Nachmittagssonne schien leicht schräg durch das Blätterdach der hohen Buchen und malte bizarre Muster auf den Asphalt des Weges. Es war brütend heiß, es ging kaum ein Luftzug.

      Nur eine einzige Person folgte in kurzem Abstand dem dunkel gekleideten Mann, der würdevoll, gemessenen Schrittes über den Weg des Friedwalds im Waldfriedhof von Würzburg ging. Der Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens Ewiger Frieden trug die schlichte Urne mit beiden Händen umfasst. Den Blick hielt er gesenkt.

      Für den Bestatter war dies eine Urnenbeisetzung wie jede andere. Dass es Verstorbene gab, die keine Angehörigen mehr besaßen, war in der heutigen Zeit gar nicht so selten, wie man dachte.

      Für die Leiche dieses Verstorbenen hatte die Person hinter ihm eine Feuerbestattung bestellt und auch den entsprechenden Baum für die Urnenbeisetzung ausgewählt. Bis zu dem kleinen Loch im Waldboden, das einer seiner Mitarbeiter gestern Nachmittag am Fuße der alten Buche ausgehoben hatte, waren es nur noch wenige Schritte.

      Der Bestatter blieb, nachdem sie die Öffnung erreicht hatten, in Respekt bekundender, leicht gebeugter Haltung stehen, ehe er die Urne an zwei Bändern in das Grab senkte. Er verneigte sich kurz, dann drehte er sich um und gab der Person hinter ihm die Hand. Wortlos wandte er sich ab und verließ langsam den Ort der Beisetzung. In einer Stunde würde die kleine Grube durch einen Mitarbeiter des Unternehmens wieder geschlossen werden. Eine unscheinbare Tafel an der Buche würde darauf hinweisen, dass hier die sterblichen Überreste eines gewissen Alexander Thannenberger bestattet waren. Die Tatsache, dass man den Toten in einer Justizvollzugsanstalt abgeholt hatte, war allerdings etwas von der üblichen Routine bei derartigen Bestattungen abgewichen.

      Die Person trat vor und starrte eine ganze Weile mit brennenden Augen in das Erdloch. Ihr fiel es schwer, die aufkommenden Emotionen einigermaßen in den Griff zu bekommen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, drehte sich um und verließ den Friedhof. In ihrem Herzen herrschte abgrundtiefe Trauer, die als Nährboden für den abgrundtiefen Hass diente, den die Person empfand. Ein paar Tage der Trauer würde sie sich erlauben, dann hatte sie ein Vermächtnis zu erfüllen.

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      Seit Simon Kerner zum Direktor des Amtsgerichts Gemünden am Main ernannt worden war, nahm er sich an einem Tag in der Woche nachmittags Akten mit nach Hause, um dort zu arbeiten. Dabei wählte er Tage, an denen er keine Strafsitzungen leiten musste und seine Abwesenheit vom Büro vertretbar war. An diesen Tagen zog er es vor, im angenehmen Ambiente seiner Jagdhütte zu arbeiten. Hier in der freien Natur war das Studium der Unterlagen fast schon erholsam. Zuvor fuhr er jedoch nach Lohr in ein Studio für Kampfsport, um sich körperlich fit zu halten. Danach erst setzte er sich vor die Jagdhütte und arbeitete. Kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, vertauschte er dann das Diktiergerät mit dem Jagdgewehr und ging auf die Pirsch.

      Heute war Donnerstag, und er hatte sitzungsfrei. Es war ein heißer Sommertag mit Temperaturen, bei denen in der Stadt der Asphalt schmolz. Das Training war heute besonders anstrengend gewesen. Zum Glück wehte hier auf der Spessarthöhe eine leichte Brise, so dass die Hitze zu ertragen war. Steffi, seine Lebensgefährtin, beneidete ihn dafür, dass es ihm die Unabhängigkeit des Richteramtes ermöglichte, einen Teil seiner Arbeit auch zu Hause zu erledigen. Sie musste es hingegen in der Hitze der Physiopraxis aushalten.

      Seit Kerner in seiner vorherigen beruflichen Position als Oberstaatsanwalt gegen den Emolino-Klan ermittelt hatte, waren mittlerweile mehr als drei Jahre vergangen. Nach dem Tod Don Emolinos hatten die Ermittler des Landeskriminalamtes den Fall übernommen und dem Nachfolger des Mafiapaten systematisch das Handwerk gelegt. Don Trospanini war in die Netze der Steuerfahndung geraten und zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nachdem die Strukturen des Emolino-Klans zerschlagen waren, verschwand er sang- und klanglos aus Gemünden.

      Kerner gab sich natürlich nicht der irrigen Illusion hin, damit das organisierte Verbrechen aus Main-Spessart verbannt zu haben. Sicher nicht. Die Mafia hatte allerdings einen harten Schlag erhalten, von dem sie sich so schnell nicht wieder erholen würde.

      Er warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne war dem Horizont ein ganzes Stück näher gekommen. Seine Armbanduhr ermahnte ihn, sich für die Jagd fertig zu machen. Kerner klappte die Akte zu, die er gerade bearbeitete, schaltete das Diktiergerät aus und erhob sich. In einem Zug trank er das Glas Wasser leer, das auf der Platte des grob behauenen Tisches stand, dann packte er seine Arbeitsutensilien in einen geräumigen Aktenkoffer und stellte diesen im Inneren neben der Tür unter die Garderobe. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich, die Shorts gegen eine lange Jagdhose zu tauschen. Selbst wenn die Tage sehr warm waren, konnten die Abende hier im Wald recht frisch werden. Außerdem schützte sie vor den allgegenwärtigen Zecken.

      Bevor er sich auf den Weg zum Hochsitz machte, wollte er noch kurz die Toilette aufsuchen. Das Häuschen mit dem Herzen in der Tür befand sich etwa vierzig Meter von der Hütte entfernt. Es war über einen schmalen Trampelpfad, der vom Haus aus nicht eingesehen werden konnte, zu erreichen.

      Simon Kerner war in Gedanken noch bei dem Urteilstext, den er gerade diktiert hatte, und achtete nicht sonderlich auf seine Umgebung. Als er das Toilettenhäuschen erreichte und die Hand nach der Tür ausstreckte, wurde er heftig aus seinen Überlegungen gerissen. Abrupt blieb er stehen und gab einen Laut der Verwunderung von sich. Das Holz der Tür war im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt. Daher hob sich der tote, schwarze Vogel auf den ersten Blick kaum davon ab. Das Makabre an der Situation war aber die Tatsache, dass jemand das Tier mit Reißzwecken an die Bretter geheftet hatte.

      »Verdammt«, stieß Kerner hervor, »was ist denn das für eine Schweinerei?« Er betrachtete den Vogel genauer. Es handelte sich eindeutig um eine Rabenkrähe.

      Mit ausgebreiteten Schwingen hing sie mit dem Rücken zum Holz. Ihr Kopf baumelte haltlos nach vorne auf die Brust. Schockierend war, dass man der Krähe beide Augen ausgestochen hatte.

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