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      Dann beredeten sie Familiäres. Was Hermann Kappes Bruder Albert in Wendisch Rietz und sein ältester Sohn Hartmut in Ost-Berlin wohl machten? Sie zu besuchen war ja ein Ding der Unmöglichkeit.

      «Im Osten nichts Neues.» Hertha Börnicke, die früher beim RIAS gewesen war und aus der Zone berichtet hatte, wusste noch immer bestens Bescheid über das, was in der DDR so geschah. «In Ost-Berlin soll es eine Ruhrepidemie gegeben haben, und die Nationale Front hat ein ‹Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschland und ihrer Veränderungen› gegründet.»

      «Das haut ja den stärksten Eskimo vom Schlitten!», rief Otto Kappe. «Mehr ist da nicht los?»

      «Da musst du schon Hartmut fragen. Was bei der Kripo so an großen Fällen anliegt, muss der ja am besten wissen.»

      «Nie was vom Kontaktverbot gehört?»

      «Doch. Das ist ja der Witz daran.»

      Auf dieses Stichwort hin erzählten sie sich nun die gängigen DDR-Witze.

      Hertha Börnicke machte den Beginn. «‹Du, Schatz, ich lese hier gerade: Die DDR gehört zu den zehn führenden Industrienationen der Welt. Ich glaube, das schreibe ich mal unserem Onkel Herbert in Düsseldorf.› – ‹Klar, mach das … Dann kannst du ihn auch gleich bitten, zu Ostern ein paar Rollen Klopapier mitzuschicken.›»

      Hermann Kappe war der Nächste. «Ein treues SED-Parteimitglied kehrt von einer Dienstreise aus der Bundesrepublik zurück. Sein Vorsitzender fragt ihn: ‹Na Genosse, haben Sie den faulenden und sterbenden Kapitalismus gesehen?› – ‹Ja.› – ‹Und was halten Sie davon?› – Die Antwort kommt mit verklärtem Gesichtsausdruck: ‹Es ist ein sehr schöner Tod …›»

      Auch Otto Kappe wollte sich nicht lumpen lassen. «Ein DDR-Bürger geht spät in der Nacht durch Ost-Berlin und ruft lauthals immer wieder: ‹Scheißstaat, Scheißregierung!› Sofort taucht ein Stasi-Offizier auf und verhaftet ihn. Der Verhaftete verteidigt sich: ‹Ich habe ja gar nicht gesagt, welchen Scheißstaat und welche Scheißregierung ich meine.› Der Stasi-Offizier denkt kurz nach und lässt den Mann wieder laufen. Der verschwindet, wird aber zwei Minuten später von dem Stasi-Offizier wieder eingeholt und erneut verhaftet. Darauf der Mann: ‹Warum denn das?› Entgegnet der Stasi-Mensch: ‹Es gibt ja nur einen Scheißstaat und eine Scheißregierung.›»

      Peter Kappe wollte sich nicht an der Diskriminierung der DDR und ihrer Bürger beteiligen, hatte aber bei Freud etwas über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten gelesen. «Freud spricht von der Euphorie des spontanen Lachens und erkennt darin einen Widerschein unseres vergangenen Kinderglücks, denn der Witz erlaubt es uns, uns für Augenblicke vom Verdrängungsdruck der Kultur zu befreien.»

      Alle nickten schwer beeindruckt von seinen frischerworbenen Erkenntnissen.

      «Wer liegt auf dem Friedhof neben Freud?», fragte Hermann Kappe seinen gebildeten Großneffen.

      «Keine Ahnung.»

      «Na, Leid. Denn Freud und Leid liegen doch dicht beieinander.»

      Klara fiel kein DDR-Witz ein, worauf Hertha Börnicke alles glasklar analysierte. «Der eingemauerte West-Berliner gewinnt seine Identität und seinen Überlebenswillen nicht zuletzt dadurch, dass er über alles, was in der Ostzone passiert, spöttisch herzieht.»

      Otto Kappe klatschte ihr Beifall. «Mensch, Hertha, was wären wir ohne dich!»

      Hermann Kappe setzte noch einen drauf. «Lieber Hertha Börnicke als Hertha BSC.» Den Verein sah er schon absteigen, wenn es diesen Sommer mit der Bundesliga losging. «Ich hätte lieber Tasmania 1900 in der Bundesliga gesehen.»

      «Deine Tasmanen spielen ja nächste Woche gegen den 1. FC Nürnberg in der Vorrunde um die Deutsche Meisterschaft», sagte Klara. Karl-Heinz, ihr jüngerer Sohn, wolle auch hingehen.

      Karl-Heinz Kappe, nun auch schon 35 Jahre alt, war ein windiger Bursche geblieben, obwohl er es bei der SBN, der Südost Bau Neukölln, bis zum Prokuristen gebracht hatte. Dass er es mit den Gesetzen mitunter nicht ganz so genau nahm, hatte ihn in seiner Branche schnell aufsteigen lassen.

      Heute nun, am Ostersonnabend, ließ er Arbeit Arbeit sein und fuhr mit seinen Freunden Manne und Rudi in der überfüllten U-Bahn ins Olympiastadion raus, um das Spiel von Tasmania 1900 gegen den 1. FC Nürnberg mitzuerleben. Die Karten hatte ihnen sein Chef spendiert. Rudolf Orkusch selbst war in sein Ferienhaus nach Vietze im Wendland gefahren. Solch ein Haus auf dem Land wurde bei den Neureichen in West-Berlin langsam Mode.

      Aufgrund der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft in Chile wurde die Vorrunde nur in vereinfachter Form ausgetragen. Jede Mannschaft hatte ein Heimspiel, ein Auswärtsspiel und ein drittes Spiel an einem neutralen Ort.

      «Nürnberch, det is schon wat», stellte Manne fest.

      «Ja, aba nur, weil die den Morlock ham. Wenn de den kaltstellst, haste schon jewonn’n.»

      «Der Strehl is aba ooch nich schlecht.»

      Karl-Heinz Kappe gefiel es am besten, dass die Nürnberger einen Verteidiger mit Namen Derbfuß hatten. Viel Spaß aber hatten sie als Berliner nicht, denn Tasmania 1900 sollte am Ende mit 1 : 2 verlieren. Auf dem Nachhauseweg stieß Karl-Heinz Kappe auf dem Olympischen Platz mit einem Mann zusammen, den er dort nicht vermutet hätte: dem Bausenator Arnulf Klaffenbach.

      «Sie hier?», staunte er.

      «Ich bin nur hier, um die Bausubstanz des Olympiastadions zu kontrollieren.»

      Karl-Heinz Kappe fand Klaffenbach einen komischen Vogel. Er wusste so einiges über ihn. Klaffenbach war geborener Berliner und 47 Jahre alt. Der Vater Arthur Klaffenbach war Philosophieprofessor, die Mutter Isolde Oberstudienrätin für Deutsch und Latein. Nach dem Abitur hatte der Sohn Kunstgeschichte und Architektur studiert. Verheiratet war er auch, Hannelore hieß die Glückliche mit Vornamen, drei Kinder hatten sie: Bernhard, geboren 1944, Beate, Jahrgang 1946, und Friedhelm, der 1950 das Licht der Welt erblickt hatte. Arnulf Klaffenbach war hochgewachsen und sehr sensibel, spielte Cello und schrieb Gedichte. Eines davon hatte sogar im Berliner Tagesspiegel gestanden, Karl-Heinz Kappe hatte es ausgeschnitten.

       Heutungen

       Morgen ist Heute

       Gestern ist Heute

       Es gibt kein Morgen mehr

       Es gibt kein Gestern mehr

       Darum lebe Du

       Heute heute heute

       und

       Häute Dich

      Warum interessierte Karl-Heinz Kappe das alles? Er ging davon aus, dass alle Menschen käuflich waren, und wenn er jemanden kaufen wollte, dann war es immer gut, alles über ihn zu wissen.

      Rund vierzehn Tage später sah er Arnulf Klaffenbach wieder. Das war am 4. Mai 1962, als sich ganz West-Berlin auf dem Falkenhagener Feld zur Grundsteinlegung traf. Das Falkenhagener Feld, das westlich der Spandauer Altstadt gelegen war, wurde noch für die innerstädtische Landwirtschaft genutzt und war außerdem reich mit Schrebergärten und den dazugehörigen Lauben bestückt. Hier sollte nun aufgrund der Wohnungsnot in West-Berlin links und rechts der Falkenseer Chaussee eine der drei geplanten Großsiedlungen entstehen. Man hatte sogar vor, sie mit einer U-Bahn-Linie an die Innenstadt anzubinden. Das betonte Klaffenbach jedenfalls in seiner Rede.

      Karl-Heinz Kappe war aber nicht in den äußersten Zipfel Spandaus gekommen, um den Senator zu hören, sondern um mit Baustadtrat Ralf-Werner Wolla zu reden. Die SBN brauchte dringend ein paar neue Aufträge.

      «Ihr Haus in Hermsdorf, Herr Wolla, könnte durchaus einen preiswerten Anbau vertragen …»

      Wer gut schmiert, der gut fährt. Karl-Heinz Kappe wusste, wie die Welt funktionierte.

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