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«Erste deutsche Rakete 1965 – Im Juni 1965 wird die erste deutsche Raumforschungsrakete auf einem australischen Versuchsplatz abgeliefert. Das teilte gestern Bundesatomminister Balke in Bad Godesberg mit.»

      «Da haben sie sicherlich eine alte V2 gefunden», murmelte Otto Kappe.

      «Bundestag billigt Rekordhaushalt!», tönte Hans-Gert Galgenberg weiter. «Parteien: Ausgabenflut muss eingedämmt werden. 53,4 Milliarden D-Mark!»

      Otto Kappe kommentierte das mit einer Überschrift aus der Lebensmittelreklame: «Mit dem Pfennig rechnen! Bei Bolle kostet die Tafel Schweizer Schokolade nur eine Mark und Marzipan-Eier pro 200 Gramm 95 Pfennige. Ja, es ostert sehr.»

      Was gab es sonst noch Neues? Vier Männer hatten in Schöneberg ein Auto gestohlen und waren nach einer wilden Verfolgungsjagd, an der sich mehrere West-Berliner Funkwagen beteiligt hatten, am Kontrollpunkt Heerstraße gegen einen Schlagbaum geprallt. Ein sowjetischer Hubschrauberpilot hatte die Orientierung verloren und war im westlichen Staaken gelandet. Und genau vor der Gedächtniskirche hatte ein Pony, das vor einen Lumpenwagen gespannt war, ein gesundes Fohlen zur Welt gebracht. Bis zur Fußballweltmeisterschaft in Chile waren es noch 47 Tage, und die deutsche Mannschaft hatte in einem Vorbereitungsspiel Uruguay mit 3 : 0 geschlagen. Das Wetter: sonnig, plus sechzehn Grad. Der Fernsehabend versprach einigen Spaß, denn es gab Die Familie Hesselbach.

      Das Telefon riss sie ins Berufsleben zurück. Otto Kappe nahm regelrecht Haltung an, denn es war ihr Vorgesetzter.

      «Kappe, in Hermsdorf draußen, in der Fellbacher Straße, der früheren Kaiserstraße, gleich am Bahnhof, ist auf einen Mann geschossen worden. Der Kollege Mannhardt sollte das übernehmen, aber der ist krank geworden, nun machen Sie und der Galgenberg das mal!»

      «Selbstverständlich.»

      Otto Kappe besorgte sich das vorliegende Material, dann machten sie sich in seinem VW Käfer auf den Weg. Bald kamen sie auf die Entlastungsstraße, die man in West-Berlin mit einer Länge von 1,2 Kilometern in nur 44 Tagen angelegt hatte, da man nach dem Mauerbau ja nicht mehr durch Ost-Berlin fahren konnte. Der Bezirk Mitte, der zum sowjetischen Sektor gehörte, ragte wie ein Keil weit nach West-Berlin hinein und zwang einen zu erheblichen Umwegen, wollte man zum Beispiel von Neukölln nach Tegel.

      Obwohl die Notwendigkeit der Entlastungsstraße unumstritten war, meckerten viele West-Berliner, so auch Galgenberg. «Ich kann mich immer noch nicht damit abfinden, dass diese blöde Straße unseren schönen Tiergarten in zwei Teile zerschneidet!»

      «Beschwer dich bei Walter Ulbricht!», erwiderte Otto Kappe und fügte mit der Fistelstimme des Sachsen hinzu: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.»

      Sie kamen in den Wedding und damit vom britischen in den französischen Sektor. Es ging die ewig lange Müllerstraße hinunter. Endlich hatten sie den Kurt-Schumacher-Platz erreicht. Nun waren die Scharnweber- und die Seidelstraße zu bewältigen.

      «Wer war Scharnweber?», fragte Otto Kappe, der manchmal etwas von einem Oberlehrer an sich hatte.

      Galgenberg lachte auf. «Keine Ahnung. Und dass ich das nicht weiß, hat mich auch nie sonderlich gestört.»

      Otto Kappe ließ sich nicht beirren. «Scharnweber war Jurist und Geheimer Regierungsrat, der sich insbesondere für den Straßenbau im Niederbarnim eingesetzt hat.»

      «Ich hätte eher gedacht, dass der den Knast hier in Tegel gebaut hat», sagte Galgenberg, als der rote Backsteinkomplex des Strafgefängnisses links vor ihnen auftauchte.

      Otto Kappe lachte. «Nee, das war der nicht. Außerdem sind wir hier schon auf der Seidelstraße. Ich weiß nur, dass der Hauptmann von Köpenick und Carl von Ossietzky hier einmal eingesessen haben.»

      «Und wie vielen Mördern und Totschlägern haben die Kappes, also du und dein Onkel, schon einen Aufenthalt in Tegel verschafft?»

      «Keine Ahnung. Aber ein paar Dutzend waren es allemal.»

      Bald erreichten sie das Dominikus-Krankenhaus, wo sie sich zu Hans-Peter Habedank durchfragten, zu dem Mann, auf den in der Fellbacher Straße geschossen worden war. Eine Kugel war in dessen rechtem Oberschenkel stecken geblieben, eine andere hatte seine Brust auf Höhe des Herzens gestreift.

      «Ich hätte auch tot sein können», stellte Habedank fest.

      Galgenberg lachte. «Genügend Trefferfläche haben Sie dem Täter ja geboten.»

      Das bezog sich darauf, dass Habedank ein kugelrundes Männchen war, Lehrer für Chemie und Physik an einem Tegeler Gymnasium.

      «Ihr Beruf legt folgende Arbeitshypothese nahe», begann Otto Kappe das Gespräch in einer betont gehobenen Ausdrucksweise. «Haben Sie vielleicht einmal einen Ihrer Schüler mit einer Fünf bedacht, der sich dadurch ungerecht behandelt fühlte?»

      «Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach», bekannte Habedank. «Aber mir ist niemand eingefallen.»

      «Haben Sie vielleicht irgendwelche Neider?», wollte Galgenberg wissen.

      Der Oberstudienrat überlegte nicht lange. «Nun, wenn ich jemanden beim Schach besiege, wird er nicht gleich auf mich schießen.»

      Nach zehn Minuten hatte Otto Kappe eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, weiterhin mit der Stange im Nebel zu stochern. Immer mehr ging er davon aus, dass es sich hier um keinen gezielten Anschlag handelte, sondern Habedank das zufällige Opfer eines Geisteskranken geworden war. Von denen gab es schließlich etliche. Damit war das Programm der nächsten Stunden umrissen.

      «Wir werden uns in der Fellbacher Straße einmal umhören, ob ein Verdächtiger beobachtet worden ist, und dann bei allen psychiatrischen Kliniken anrufen.»

      Hermann Kappe verfluchte Gottes Schöpfung. Was blieb ihm mit seinen 74 Jahren noch anderes, als auf die nächste Krankheit, das Altersheim und den Tod zu warten? Noch immer kam er mit dem Ruhestand überhaupt nicht klar. Und seine Frau nicht mit ihm.

      «Leg dir doch endlich ein Hobby zu, das deine Zeit ausfüllt!», mahnte sie ihn immer wieder.

      «Was denn? Mein einziges Hobby war die Verbrecherjagd!» Jetzt konnte er nur noch die Mehlmotten in der Küche jagen.

      Klara hatte eine Reihe von Vorschlägen. «Tu das, was andere Männer nach der Pensionierung auch tun! Die sammeln Briefmarken oder basteln den ganzen Tag an ihrer Modellbahn herum und freuen sich darüber, dass ihre Züge immer im Kreis fahren.»

      «Soll ich also auch einen fahren lassen?»

      «Wehe! Du weißt, wie geruchsempfindlich ich bin.»

      «Eben.»

      «Oder sieh zu, dass wir irgendwo in einer Kleingartenkolonie ein Stück Land pachten – dann kannst du den ganzen Tag Rasen mähen und Hecken beschneiden.»

      «Ja, wie hat Gustav Galgenberg immer gesagt? Wer Gott vertraut und Bretter klaut, der hat ’ne schöne Laube.» Der alte Weggenosse fehlte ihm mächtig. «Nun ist er leider schon eine Weile tot.»

      «So hat er wenigstens den Mauerbau nicht miterleben müssen», sagte Klara.

      Hermann Kappe wandte sich wieder der Zeitung zu, die er jeden Morgen zu lesen pflegte. Auf der Seite sechzehn erfreute ihn eine junge Dame im Turnanzug. Turne dich schlank mit Debbie Drake. Das erinnerte ihn an John Drake. Geheimauftrag für John Drake hieß die TV-Serie, die er gerne sah. So wie Patrick McGoohan, der Held der Serie, hätte er früher auch gern einmal ausgesehen. Fast eine ganze Seite hatten sie dem Eislaufen gewidmet. Sonja Henies Triumph in Hollywood lautete die Überschrift. Er blätterte weiter, denn er hatte die Norwegerin nie gemocht, auch wenn sie dreimal bei den Olympischen Winterspielen eine Goldmedaille gewonnen hatte.

      «Was gibt’s denn Neues?», wollte Klara wissen.

      «Jetzt nach Spanien – Ferien an der Costa Brava

      «Das sollten wir auch mal machen.»

      «Mir wäre Wendisch Rietz lieber», brummte Hermann Kappe.

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