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mit Herz und Hand!»

      «Unsere Hymne, Mensch!»

      «Das ist doch unsere …»

      Daraufhin wanderte er in eine besondere Zelle für den verschärften Arrest, die nicht beheizbar war. An der Decke baumelte eine nackte Vierzig-Watt-Glühlampe, die aber nur alle halbe Stunde kurz eingeschaltet wurde – wenn die Aufseher durch den Spion in die Zelle sahen. Einen Monat lang blieb er dort.

      Obwohl die schreckliche Zeit in Bautzen bereits Jahre zurücklag und er längst im Westen lebte, wurde Lothar Laukisch 1961 in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eingeliefert, in «Bonnies Ranch», wie sie im Berliner Volksmund hieß. Er war ein gebrochener und schwer traumatisierter Mann.

      «Sie waren bei der Wehrmacht, Herr Schultz?», fragte er einen Mitinsassen.

      «Ja, als General.»

      «Gestern erzählten Sie, Sie seien nur Gefreiter gewesen.»

      Sein Zimmernachbar war mit der ungewissen Diagnose Schizophrenie eingeliefert worden und hörte, obwohl im Raum absolute Stille herrschte, ein pausenloses Flüstern, Sprechen, Wehen, Rasseln und Läuten, schließlich auch ein Donnern und Schießen. «Das kommt alles aus der Hölle», versicherte er den Ärzten.

      Im Nebenzimmer litt ein Mann unter der Krankheit, die von den Psychiatern Katalepsie genannt wurde. Eine Stunde lang stand er jeden Tag auf den Zehenspitzen des rechten Fußes am Fenster und hielt das andere Bein wie ein Hürdenläufer mit der Hand waagerecht in die Höhe.

      «Ich will raus hier!», schrie Lothar Laukisch nach einiger Zeit. «Sonst werde ich noch völlig verrückt!»

      Aber man ließ ihn noch lange nicht gehen.

      Hermsdorf war ein Ortsteil des West-Berliner Bezirks Reinickendorf und zählte im Jahre nach dem Mauerbau über 15 000 Einwohner. Seine wichtigsten Straßen waren im Westen der Hermsdorfer Damm, der es mit Tegel verband, der Falkentaler Steig, über den man ins Dominikus-Krankenhaus gelangte, die Burgfrauenstraße und die Heinsestraße mit Einkaufszentrum und S-Bahnhof. Ebenso wie durch die S-Bahn-Trasse wurde Hermsdorf vom Tegeler Fließ durchschnitten, das sich hier zu einem kleinen See ausweitete. Hermsdorf hatte eine weit zurückreichende Geschichte. Ende des elften Jahrhunderts war es als slawische Siedlung entstanden, später von den Deutschen übernommen und erstmals 1349 als Hermanstorp urkundlich erwähnt worden. Max Beckmann und Erich Kästner hatten in Hermsdorf gelebt.

      Und nun, 1962, wohnte hier offenbar auch der Bauunternehmer Konrad Habedank, wie Lothar Laukisch einem Artikel des Tagesspiegel entnommen hatte. Das war der Anstoß für Laukisch gewesen. Seitdem streifte er durch Hermsdorf, um die Adresse Habedanks herauszufinden. Er wollte ihn niederschießen, aus Rache für das, was der ihm in Bautzen angetan hatte. Die Rache ist mein; ich will vergelten.

      Irgendwo hier musste das Schwein doch wohnen, verdammt noch mal! Laukisch war nicht mit der S-Bahn gekommen, denn die war nach dem Boykottaufruf vom August 1961 noch immer ziemlich leer. Deshalb hatte er Angst gehabt aufzufallen und war mit dem 25er Bus aus Tegel gefahren. An der Kreuzung Falkentaler Steig, Hermsdorfer Damm und Heinsestraße war er ausgestiegen, und nun durchkämmte er vom Bahnhofsvorplatz aus systematisch das Schachbrettmuster der in Richtung Südwest abgehenden Straßen: der Fellbacher Straße, bis vor Kurzem noch Kaiserstraße genannt, der Heidenheimer, der Schramberger, der Backnanger Straße und wie sie alle hießen. Meist gaben ihm die Namensschilder Auskunft, die neben den Klingelknöpfen angebracht waren, manchmal erfuhr er auch nur die Initialen der Mieter und Hausbesitzer. Nach Konrad Habedank zu fragen, wagte er nicht. Nur keine Spuren hinterlassen! Dass Habedank in dieser Gegend von Hermsdorf wohnte, wusste er, seit er einmal in einer Taxe einem von Habedanks Firmenwagen gefolgt war. Leider hatte er den wegen einer roten Ampel aus den Augen verloren. Heute aber musste es klappen!

      «HIER KAPPE.»

      «Hermann Kappe! Ich dachte, man habe Sie längst in Pension geschickt.»

      «Nein, ich bin Otto Kappe, sein Neffe.»

      Anrufe wie diesen gab es noch immer, obwohl Hermann Kappe schon vor acht Jahren pensioniert worden war, und Otto Kappe hatte sie langsam satt. Bei aller Wertschätzung für seinen Onkel – dass der im Nachhinein zu einem zweiten Ernst Gennat hochstilisiert wurde, ging ihm gewaltig gegen den Strich. Nun lasst mal bitte die Kirche im Dorf!

      Manche hielten ihn auch für Hermann Kappes Sohn. So entspann sich kürzlich folgender Dialog: «Ah, der Hartmut Kappe!»–«Nein, Otto Kappe, sein Cousin.»–«Ich dachte schon, Sie sind auch aus der DDR getürmt.»–«Nein, der Hartmut ist weiterhin bei der Kripo Ost.»

      Nicht genug damit, dass er andauernd gegen den Schatten seines Onkels ankämpfen musste, sie hatten ihm auch noch den Enkel des ebenso legendären Gustav Galgenberg als Assistenten zugeordnet, Hans-Gert Galgenberg. Da kam er gerade zur Tür herein, so stattlich von Gestalt, dass er im American Football eine Chance gehabt hätte, wenn es den Amerikanern denn gelungen wäre, diese Sportart in West-Berlin zu etablieren. Gegen den Fußball hatte jedoch keine andere Ballsportart eine Chance, selbst im amerikanischen Sektor nicht. Freilich war West-Berlin nicht gerade mit Spitzenvereinen gesegnet. Als Charlottenburger schwärmte Otto Kappe für Tennis Borussia, während es Galgenberg eher mit Tasmania 1900 hielt. Die Meisterschaft in der eingemauerten Frontstadt wurde in einer Liga aus zehn Vereinen ermittelt, die in drei Runden jeweils neun Spiele austrugen. Die Vereine waren Tasmania 1900, Hertha BSC, Tennis Borussia, der Spandauer SV, der BSV 92, Südring, Hertha Zehlendorf, Wacker 04, Viktoria 89 und Union 06. Galgenberg konnte die Namen der wichtigsten Tas-Spieler im Schlaf aufsagen: Posinski im Tor, in der Verteidigung Bäsler und Talaszus, die Läufer Becker und Peschke, im Sturm Neumann, Engler, Rosenfeldt und Fiebach. Otto Kappe kannte nur die herausragenden Spieler von Tennis Borussia und Hertha BSC: bei den «Charlottenburger Veilchen» Hans Eder und Wolfgang Seeger und bei den Blau-Weißen vom Gesundbrunnen, der «Plumpe», Hans-Günter Schimöller und Helmut Faeder. Im Augenblick lief alles auf einen Zweikampf zwischen Hertha und Tas hinaus.

      Die nächste Viertelstunde verbrachten beide damit, in unterschiedlichen Teilen ihrer Berliner Morgenpost zu blättern. Otto Kappe stand der CDU nahe, und so kam für ihn der sozialdemokratische Telegraf, den sein Onkel früher so geliebt hatte, nicht in Frage.

      Viel Weltbewegendes gab es nicht zu lesen. Im Gaswerk Mariendorf hatte es einen Feueralarm gegeben. Ein sogenannter Ausgleichstank war in Brand geraten, das Feuer konnte aber bald wieder gelöscht werden, obwohl sich die Feuerwehrleute wie auf einem Pulverfass gefühlt hatten.

      Etwas anderes interessierte Otto Kappe mehr, und laut las er vor: «Die Polizei warnt alle Berliner Leute vor einem Trickbetrüger. Der gibt sich als Nachbar aus und borgt sich Geld.»

      «Berliner Leute», wiederholte Galgenberg. «Was ist denn das für ’n Deutsch! Bin ich also kein Mensch, bin ich ein Leut?»

      «Im Jiddischen sind’s die Leit, also …»

      «Hier», rief Galgenberg, «das ist doch was für uns! Machtkämpfe der Mafia forderten 200 Todesopfer. Italien sagt diesen Verbrechern den Kampf an. Also auf nach Italien, mithelfen!»

      «Nicht nötig, wir haben doch schon die Baumafia bei uns – und die wird bald so richtig loslegen.» Otto Kappe war schon an einem anderen Artikel hängengeblieben. «Mit Schierling vergiftet.»

      «Klar, der Sokrates.»

      «Nein, ein achtjähriger Junge aus Altglienicke.»

      Das war tragisch, und sie schwiegen eine Weile.

      Auf der Seite dreizehn wurde über die große Politik berichtet. Der Aufmacher galt der Verhaftung des ehemaligen Vizepräsidenten Jugoslawiens. Milovan Djilas: Ich mußte die Wahrheit sagen. Grund waren die Veröffentlichung seines Buches Gespräche mit Stalin und seine Enthüllungen im Zusammenhang mit dem Albanien-Problem. Daneben zeigte ein Foto, wie die persische Kaiserin Farah und Jackie Kennedy vom New Yorker Flughafen zum Weißen Haus fuhren. Wichtiger fand Otto Kappe einen kleinen Artikel links unten mit

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