Скачать книгу

zur Strecke gebracht, Herr Kommissar?»

      Otto Kappe lachte. «Nein. Wo kein Ermordeter ist, kann es auch keinen Mörder geben.»

      «Gestern hätte ich fast gedacht, wir haben was für dich», sagte Eddie, der zurzeit mithalf, die Stadtautobahn Richtung Norden zu verlängern. «Bei der Ausfahrt Spandauer Damm meinten wir, wir hätten einen Toten gefunden, doch es war nur eine alte Schaufensterpuppe, die jemand auf die Baustelle geworfen hatte. Aber ich habe neulich einen amerikanischen Krimi gelesen, darin lässt der Boss einen Arbeiter, der seine krummen Machenschaften anzeigen will, erschießen und im Fundament eines Hauses einbetonieren. Derlei könnte hier auch mal passieren, so mafiös, wie es in der Baubranche zugeht.»

      «Danke für die Warnung!»

      Im Jahre eins n. M., das heißt nach dem Mauerbau, hatten es viele West-Berliner noch schwer, sich mit der neuen Situation abzufinden. Wohin man auch fuhr oder ging, früher oder später stieß man auf die «Schandmauer» oder zumindest auf einen schwerbewachten Grenzzaun mit Todesstreifen und Beobachtungsturm.

      Froh über den Mauerbau waren aber etliche «Republikflüchtlinge», denn nun war klar, dass der Ostblock es aufgegeben hatte, West-Berlin zu schlucken oder, wie das Chruschtschow-Ultimatum von 1958 hatte befürchten lassen, zur «politisch selbständigen Einheit WB» zu machen. Hatten die Ex-DDR-Bürger vordem noch die Einnahme West-Berlins durch die Nationale Volksarmee gewärtigen müssen und sich selbst schon in Bautzen gesehen, so durften sie nun aufatmen. So auch Lothar Laukisch.

      Ein Journalist des Telegraf hatte jetzt schon zwei Stunden lang mit Laukisch geredet und seinen Notizblock vollgeschrieben. «Ich fasse noch einmal zusammen … Sie sind am 27. April 1929 in Berlin-Lichtenberg als Lothar Tandler auf die Welt gekommen und haben in der Sowjetischen Besatzungszone und später der DDR als Journalist für verschiedene Blätter und das Fernsehen gearbeitet. Sie betätigten sich aber nicht nur offiziell für die Wochenpost und die Adlershofer, sondern auch im Geheimen für den UFJ, den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen, und den Rundfunk im amerikanischen Sektor, kurz RIAS. Die Stasi ist dahintergekommen, und Sie haben eine schreckliche Zeit in Bautzen verbracht. Nachdem Sie entlassen wurden, gingen Sie nach West-Berlin, dort heirateten Sie 1956 die Blumenhändlerin Uta Laukisch und nahmen deren Nachnamen an, um Bautzen und die DDR zu vergessen. Dann hat sich Ihre Frau von Ihnen getrennt, und Sie erkrankten …»

      Laukisch nickte. «Das stimmt alles.» Als Uta sich von ihm getrennt hatte, weil es mit ihm nicht mehr auszuhalten war und er immer neue psychotische Schübe bekam, wurde er im September 1961 in die Karl-Bonhoeffer-Heilstätten eingeliefert. Er hörte Stimmen, die ihm sagten, er solle alle Menschen umbringen, denn alle Menschen sind schlecht, alle Menschen sind Verbrecher und müssen ausgerottet werden – durch dich!

      «Im Februar 1962 wurden Sie entlassen, inzwischen leben sie als Sportjournalist in der Boppstraße nahe dem Kottbusser Damm.»

      «Genau so ist es, am sogenannten Zickenplatz.» Er kam aber nicht von seiner geschiedenen Frau los. Die wohnte jetzt bei ihrem neuen Lebensgefährten in Hermsdorf, in der Frohnauer Straße. Oft strich er dort herum.

      «Sie sollen im Jahre 1956 auf einen Mann geschossen haben, den Sie für einen Stasi-Mitarbeiter hielten», fuhr der Mann vom Telegraf fort. «Das Verfahren ist aber eingestellt worden.»

      «In der Tat.» Das war lange her, und Lothar Laukisch sprach nicht gern darüber, auch musste er dem Zeitungsmann nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er ständig eine alte Wehrmachtspistole bei sich trug, eine Mauser C96, denn auf seiner Abschussliste standen etliche Namen. Konrad Habedank hatte er ganz besonders auf dem Kieker. Immer wieder gingen seine Gedanken in die Jahre 1954 und 1961 zurück …

      Wer 1954 durch die Fruchtstraße, die spätere Straße der Pariser Kommune, ging, sah, dass der Krieg von deren Häusern nicht viel übrig gelassen hatte. Die Fruchtstraße nahm ihren Anfang am Ufer der Spree, unterquerte am Ostbahnhof die Gleise der Stadtbahn und lief über die Stalinallee hinweg zum Friedhof der Parochial- und St.-Petri-Gemeinde hinauf, wo sie in die Friedenstraße überging. Die Trümmer waren weithin abgeräumt worden, und in Bälde würden hier DDR-typische Plattenbauten emporwachsen. Am Franz-Mehring-Platz, wo früher im Gebäude eines alten Bahnhofs das «Varieté Plaza» Tausende angelockt hatte, sollte einmal das Neue Deutschland, die größte Tageszeitung der DDR, ihren Sitz haben. Nur vor der Kreuzung mit der Stalinallee waren einige Altbauten stehen geblieben, und in einem dieser Häuser wohnte Lothar Laukisch mit seiner Freundin Gisela, die bei der HO eine Filiale für Industriewaren leitete und SED-Mitglied war.

      Natürlich hörte er beim Frühstück den RIAS. Schon deshalb, um mitzubekommen, was er selbst dem Sender aus den einzelnen Bezirken Ost-Berlins zugetragen hatte. Zumeist ging es um Versorgungsengpässe und die Festnahme von Regimegegnern.

      «Muss das schon wieder sein!», rief Gisela, als sie in die Küche kam, und drehte so lange an der Skala, bis sie einen DDR-Sender gefunden hatte.

      Er wählte seine übliche Verteidigungsstrategie. «Ich muss doch wissen, was der Klassenfeind über uns denkt!»

      Sie tippte sich gegen die Stirn. «Ja, denkste!»

      Noch war ihre Liebe stärker als die ideologischen Gegensätze. Er wäre am liebsten in den Westen gegangen, sie wollte am Aufbau des Sozialismus teilhaben und träumte von einem Sitz in der Volkskammer.

      «Fährst du heute wieder zum Recherchieren nach West-Berlin rüber?», fragte sie. Das klang harmlos, aber sie ahnte schon lange, dass er sich nicht mit einem alten Schulfreund traf, um den über Skandale beim Senat auszuhorchen, sondern mit einem Mann vom Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen.

      «Ja, ich wollte mit Peter essen gehen.» Der war Senatsrat beim Innensenator am Fehrbelliner Platz.

      Sie lachte. «Na, solange der Peter keine Petra ist – oder der Heinz Petruo.» Das war ein Sprecher beim RIAS.

      Nun wurde ihm der Boden langsam doch zu heiß. «Du, ich muss los!»

      Von der Fruchtstraße aus war seine Arbeitsstelle in Adlershof auch ohne Wartburg leicht zu erreichen: Er brauchte nur zum Ostbahnhof zu laufen und sich in die S-Bahn zu setzen. Im Juni 1950 hatten sie in Adlershof mit dem Bau des Fernsehzentrums Berlin begonnen, und am 21. Dezember 1952, dem 74. Geburtstag Stalins, war das «öffentliche Versuchsprogramm» des Deutschen Fernsehfunks (DFF) mit zwei Stunden Sendezeit täglich gestartet worden. Zwei Jahre später war Lothar Laukisch zur Nachrichtenredaktion gekommen.

      Da er Englisch, Französisch und Spanisch sprach, gehörte es zu seinen Aufgaben, die Presse der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens und verschiedener kleinerer Staaten hinsichtlich ihrer Berichterstattung über die DDR auszuwerten.

      Daneben blieb ihm genügend Zeit, sich umzusehen und umzuhören. Als er ein Papier über die Einführung einer einjährigen Arbeitsdienstpflicht für Studienbewerber aus dem Funkhaus schmuggeln wollte, erwischte ihn ein Kollege, der Zuträger der Stasi war. Damit nahm das Drama seinen Lauf. Erst kam er in das Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Hohenschönhausen, dann, nach seiner Verurteilung zu achtzehn Monaten Haft, nach Bautzen.

      Nachts brachten sie ihn in einem verschlossenen Kleintransporter in die Oberlausitz.

      «Tandler, Sie haben Ihren Namen ab heute zu vergessen! Sie sind 44/​57, basta! Über sich und Ihr Urteil dürfen Sie mit keinem anderen sprechen, klar?»

      «Ja.»

      Tag für Tag Gitterstäbe vor den bis auf einen kleinen Schlitz zugemauerten Fenstern, Stacheldraht und stählerne Türen. In der Zelle eine Holzpritsche mit einer dünnen Decke. Täglich musste er Demütigungen ertragen. Das Essen, dieser Fraß, war eine zusätzliche Strafe. Zum klitschigen Graubrot gab es ein paar Gramm Margarine, dazu jeden zweiten Tag eine Scheibe Leber- oder Blutwurst, immer von der gleichen Sorte. Die Suppe war besseres Abwaschwasser.

      «44/​57, singen Sie die Nationalhymne!»

      «Jawoll, Genosse Wachtmeister!» Dass der Mann, der ihn ständig quälte, Konrad Habedank hieß, hatte er schon herausbekommen. Zu recherchieren war schließlich sein

Скачать книгу