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      Alle Aspekte zeigen sich auf der einen Seite in gegenseitiger Bedingtheit und auf der anderen Seite mit Bezug auf ihre Existenzursache in Unabhängigkeit voneinander. Das wird auch am Beispiel des linguistischen Seins-Aspekts deutlich (siehe Abb. 23): Der linguistische Seins-Aspekt retrozipiert (weist zurück) und antizipiert (weist voraus). Damit existiert er in Abhängigkeit zu den anderen Aspekten. Der Aspekt ist insofern souverän, als dass es keine Möglichkeit gibt, ihn als eine Schöpfung eines anderen Aspektes zu betrachten. Dafür ist jeder andere Aspekt zu sehr abhängig vom Sprachaspekt.

      Heute werden vor allem der biotische (Biologie), energetische (Chemie) oder kinetische (Physik) Seins-Aspekt verabsolutiert. Der gegenwärtige Mensch ist geneigt, die Welt vor allem aus einer materialistischen, bio-chemischen Perspektive zu betrachten (Evolution). Aber genauso selbstverständlich hat man am Anfang des 20. Jahrhunderts den linguistischen Aspekt verabsolutiert. Richard Rorty beschreibt diese Zeit als »linguistic turn«. Wittgenstein, Heidegger, Gadamer und die postmodernen Philosophen wie Foucault und Derrida erklärten, dass das ganze menschliche Leben von der Sprache geprägt ist. Mit Hilfe der Sprache erst kann der Mensch die Welt interpretieren, das Leben ordnen, Macht über andere ausüben, denken. Die Sprache ermöglicht erst, dass eine konkrete Vorstellung von der Wirklichkeit hergestellt wird. Aber Sprache verhindert auch einen direkten Zugang zur Realität. Was als Wirklichkeit erlebt wird, ist immer nur versprachlichte Wirklichkeit. Das erinnert an Kant, der Ähnliches behauptet, dabei aber nicht den linguistischen Aspekt, sondern den sensorisch-psychischen Aspekt verabsolutiert. Für Kant sind die räumlichen, kinematischen, logischen Gesetze Bestandteil der Wahrnehmungskategorien. D.h. Höhe, Breite, Tiefe sind erfahrbar, Logik und Unlogik kann erkannt, Bewegung und Stillstand ausgemacht werden, nicht weil die Wirklichkeit Dreidimensionalität, Logik oder Bewegung enthält, sondern weil die menschliche Sensorik die Welt so zugänglich macht. Die Welt kann gar nicht anders erlebt werden, weil die menschlichen sensorischen Kategorien vorgeben, die Welt in einer bestimmten Art und Weise zu erleben. Während also die Welt bei Kant durch die Sensorik geschaffen wird, wird in der Bewegung des »linguistic turn« die erlebte Welt durch die Sprache geschaffen.

      Der »linguistic turn« hat gezeigt, dass alles mit Sprache zu tun hat. Alles beruht auf und ist abhängig von Sprache. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Universalität der Sprache auch für alle anderen Seins-Aspekte gilt (siehe Kants Sensorik!). Man könnte darum sagen: »Alles ist sprachlich, aber Sprache ist nicht alles.« Und: »Alles ist Wahrnehmung, aber Wahrnehmung ist nicht alles.« Die Universalität der Seins-Aspekte erklärt dann auch die Vielzahl an Analogien, die im täglichen Sprachgebrauch gepflegt werden, z. B. gesellschaftliches Leben (biotische Analogie des soz. Seins-Aspekts), gesellschaftliche Elemente (quantitative Analogie des soz. Seins-Aspekts), Gesellschaftsdynamik (kinematische Analogie des soz. Seins-Aspekts). Wegen der »Universalität« der einzelnen Seins-Aspekte wird auch verständlich, warum die Versuchung groß ist, sie zu verabsolutieren.

      Wer die gegenseitige Abhängigkeit aller Seins-Aspekte besser verstehen möchte, sollte die obigen Literaturempfehlungen ernst nehmen.

      5.4 Universalität der Gesetze JHWHs

      Es wird davon ausgegangen, dass JHWHs Gesetze den objektiven Rahmen schaffen, in dem die Begegnung von Geschaffenem erst möglich wird. Zwei Menschen können einander nur begegnen, wo sie teilhaben an Raum, Zeit und Energieprozessen. Diese Voraussetzung trifft auch auf die Begegnung von Mensch und Vogel oder Mensch und Gestein zu. JHWHs Gesetze durchdringen damit die ganze geschaffene Wirklichkeit. Der Psalmist sagt, dass alles auf seine Stimme hört (z. B. Psalm 147,15 - 18; Psalm 148,5 - 8), wenn er das Verhältnis der Gebote Gottes zur Schöpfung beschreibt. Für den Theoriedenkmodus hat das wichtige Folgen: Alle Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Seins-Aspekte sind in allem Geschaffenen anwesend. Auf diese Weise befindet sich die Schöpfung in der gleichen Matrix. So wird die Du-Begegnung ermöglicht.

      Die Abb. 24 zeigt vier verschiedene konkrete Dinge, die unterschiedlicher nicht sein können. Aus der Perspektive biblischen Theoriedenkens besteht jedes Ding auf seine ganz eigene Art in allen Seins-Aspekten. Der Fels existiert unter anderem im quantitativen, räumlichen, kinematischen und energetischen Sinne. Damit ist gemeint, dass der Fels aktiv in diesen Eigenschaften den Gesetzen der Quantität, des Raumes, der Bewegung und der Energie untergeordnet bzw. gehorsam ist. Den Gesetzmäßigkeiten der restlichen Aspekte (biotisch-fidelisch) ist der Fels zwar untergeordnet, aber nur passiv. In Bezug auf den biotischen Aspekt ist damit gemeint, dass der Fels selbst nicht lebt. Im Gegensatz dazu existiert der Adler im biotischen Aspekt »aktiv«. Dass der Fels dennoch, wenn auch passiv, eine biotische Qualität besitzt, wird in dem Moment sichtbar, wenn der Adler zum Schutz seiner Jungen sein Nest in den Felsen baut. Auf gleiche Weise hat z. B. Wasser eine passive biotische Eigenschaft. Wasser lebt nicht, wird aber von Lebewesen zum Leben benötigt. Passiv existiert der Fels auch im psychisch-sensorischen Bereich. Eigentlich kann der Fels nicht fühlen. Aber der Fels kann gefühlt werden. Das gleiche trifft auf den linguistischen Aspekt zu. Der Fels kann nicht sprechen, aber er kann von Menschen besprochen und benannt werden. Wenn der Fels keine passive ökonomische Qualität besitzen würde, könnten bestimmte Felsen (z. B. Granit) keinen Wert für Menschen haben. Die biotischen/​sensorischen/​linguistischen/​ökonomischen Seins-Aspekte des Felsen sind dann in dem Sinne vorhanden, dass andere konkrete Dinge (z. B. der Adler, der Mensch) seine jeweilige passive Qualität aktivieren können. Das ist nur möglich, weil der Fels eben den gleichen biotischen, sensorischen/​psychischen, linguistischen und ökonomischen Gesetzen unterliegt wie der Adler und der Mensch. Auch hier zeigt sich erneut der Ich-Du-Charakter der Schöpfung. Das Sein des Wassers kommt erst in der Du-Begegnung mit dem Vogel oder dem Menschen völlig zur Geltung.

      Fazit: Wer man wirklich ist, kann nur in der Begegnung festgestellt werden!

      Nicht nur Lebewesen oder Materialien existieren in den verschiedenen Seins-Aspekten, auch Phänomene, Handlungen und Ereignisse sind dem Gesetz JHWHs unterordnet. So hat Deutsch als konkrete Sprache z. B. auch eine räumliche Eigenschaft, sonst könnten keine Sprachgebieten eingeteilt werden. Seine passiven sensorisch-psychische Eigenschaft wird deutlich, wenn es zum Sprachgefühl kommt. Die passive historische/​kulturelle Qualität wird sichtbar, wenn der Mensch Sprachentwicklung als kulturelle Handlung ermöglicht.

      Die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Seins-Aspekten macht auch verständlich, wieso wir Menschen im Alltagsleben die Welt meist in Materialien, Lebewesen und Menschen unterteilen. »Leblose« Materialien wie Eisen oder Sand existieren gemeinsam aktiv nur vom quantitativen bis energetischen Seins-Aspekt. Im Gegensatz zu Menschen existieren Lebewesen aktiv nur in den quantitativen bis sensorisch-psychischen Seins-Aspekten. Der Mensch existiert in allen Seins-Aspekten aktiv.

      5.5 Gesetze und Normen

      Wenn die Gesetze, die die einzelnen Seins-Aspekte dominieren, genauer betrachtet werden, wird klar, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den ersten sechs Seins-Aspekten (Quantität – Sensorik) und den letzten neun (Logik – Glauben) gibt. Der Unterschied liegt in der Natur der Gesetze, die diese Seins-Aspekte charakterisieren. Die Gesetze der Quantität, Geometrie, Physik, Chemie, Biologie und Sensorik kann man nicht übertreten. Wer von einer Brücke springt, wird nicht fliegen, und wer eine Adrenalinausschüttung erlebt, wird nicht schlafen können. Diese Gesetze wirken in einem gewissen Sinne direkt und unmittelbar. Die anderen Gesetze wie z. B. der Logik (z. B. der Satz vom ausgeschlossenen Dritten) haben eine indirekte Natur. Die Realisierung dieser Gesetze findet nur indirekt statt (siehe Abb. 25).

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