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drang in mich wie eine Flut. In dem Moment und an der Grenze der Nacht haben Sirenen geheult. Sie kündigten Abreisen in eine Welt an, die mir jetzt für immer gleichgültig war. 95

      Ich empfand Abscheu davor, wieder in die Kirche zu gehen.96

      Ich fiel in ein tiefes schwarzes, bodenloses Loch.

      Aber dass alles sinnlos sein sollte, war ich nicht bereit hinzunehmen.

      Mit einem Mitschüler, Dominik, dem Sohn des Schauspielers Robert Graf97, den ich bewunderte und den Dominik, ähnlich wie ich meinen Vater, früh verloren hatte, gründete ich mit drei weiteren eine Theatergruppe. Regelmäßig gingen wir ins Residenztheater oder in die Münchner Kammerspiele. Wir bereiteten uns auf die Stücke vor, indem wir sie zusammen lasen und darüber sprachen – hinterher gingen wir noch etwas trinken und machten Kritik.

      Nach einer Vorstellung, in der die Schauspielerin Kathrin Ackermann98 mitgespielt hatte, die eine Nachbarin von uns war und oft meine Eltern besuchte, gingen wir zum Bühneneingang und baten darum, in die Garderoben gelassen zu werden, um Autogramme zu bekommen. Dank Dominik als Sohn von Robert Graf gelang uns das spielend und die schöne Kathrin Ackermann war überrascht, mich dort zu sehen. Ich lobte ihr Spiel über den Daumen und schmeichelte ihr in den höchsten Tönen – sie lächelte amüsiert und merkte genau, dass ich in sie verknallt war.

      Aber die ernüchternde Realität hinter den Kulissen, die Schauspieler ohne Kostüm und Maske, die abgewetzten engen Gänge, die muffigen Garderoben, die wie Zellen wirkten, das zynische, hochnäsige Gerede der aufgedreht müden Akteure, das Sein hinter dem Schein bestätigte mich einmal mehr, dass dies nicht meine Welt war.

      Man musste das alles anders machen. Dominik und ich schrieben ein eigenes Stück! Er inszenierte, aber wir wollten alle mitreden, was er wiederum nicht gut fand.

      »Eine Inszenierung muss eine erkennbare Handschrift haben«, dozierte er, die Arme auf dem Rücken verschränkt, nervös im Wohnzimmer der Villa seiner Eltern auf- und ablaufend, »wenn da jeder mitmischt, gibt es nur langweiligen Brei.«

      »Aber das ist doch dann genau das Gleiche wie in den Kammerspielen«, gab ich zu bedenken, »wir wollen doch mal was Neues probieren.«

      »Aber wir diskutieren doch alles bis zum Gehtnichtmehr!«, rief Dominik verzweifelt. »Wer soll denn entscheiden, was am Ende gilt?!«

      Es wurde uns schnell klar, dass wir niemals auf einen Nenner kommen würden, obwohl wir nur fünf Leute waren. Wir zerstritten uns nicht – wir resignierten. Die Gruppe löste sich nicht auf – sie zerfiel.99

      Professor Haber100 machte im Bayrischen Rundfunk wissenschaftliche Sendungen für Kinder und Jugendliche. Eine der wenigen Sendungen, die wir Kinder sehen durften, zumal meine Mutter ihn kannte. Von ihm lernte ich, dass die Sonne eines Tages verglühen und dann die Menschheit aussterben werde.

      Ich konnte es nicht glauben, aber alle, ganz gleich ob Chemie- oder Religionslehrer, bestätigten das.

      Also doch alles sinnlos?

      Auf jeden Fall war klar, wozu die Menschen die Lüge vom Paradies brauchten, wenn eh alles ungerecht war und dann auch noch so zu Ende gehen sollte.

      In der nächsten Sendung erklärte Professor Haber die Bedeutung und Funktion von Wasser101. Er lächelte stets ein wenig, sprach deutlich und langsam:

      »Wasser ist Leben. Ein Mensch kann einige Wochen ohne Essen leben, aber nur einige Tage ohne Wasser. Der Mensch selbst besteht zu siebzig Prozent aus Wasser.«

      Er zeigte Grafiken, Tabellen und Statistiken, einfach, überschaubar, klar verständlich.

      Wasser, vor allem Trinkwasser, war überhaupt nicht das Selbstverständlichste auf der Welt, für das ich es gehalten hatte.

      Dass Trinkwasser aus dem Wasserhahn kam, war »eine der größten und wichtigsten Errungenschaften der Menschheit«, erklärte Professor Haber freundlich lächelnd, eindringlich und glaubhaft.

      »Täglich sterben unzählige Menschen auf der Welt«, fuhr der Fernsehprofessor auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm fort, »weil sie nur vergiftetes Trinkwasser zur Verfügung haben!«

      Ja, aber warum wurden dann nicht überall woanders Wasserleitungen gelegt? Wenn man es schon erfunden hatte, musste es doch nur gebaut werden!? Man konnte doch sogar schon in den Weltraum fliegen?!

      Aber diese Fragen beantwortete Professor Haber nicht.

      Stattdessen ermahnte er uns alle am Schluss der Sendung:

      »Seid froh und dankbar, dass ihr in einem Land leben dürft, in dem es sauberes Trinkwasser für jeden Bürger in Hülle und Fülle gibt – guten Abend, ihr Lieben!«

      Die Sendung hatte mich aufgewühlt. Niemand war da, mit dem ich darüber reden konnte. Also ging ich alleine neben den S-Bahnschienen spazieren.

      Es war doch alles ganz einfach! Alle mussten Wasser haben – das wäre das Paradies auf Erden! Der Rest ginge von alleine! Dafür musste man kämpfen – nicht aufs Paradies warten!

      1965

      Der Circus Krone hatte seinen Hauptsitz in München, ein sozusagen steinernes Zirkuszelt, das als Winterquartier diente. Es lag im Zentrum der Stadt in der Nähe des Hauptbahnhofs und im Sommer fanden dort kulturelle und politische Veranstaltungen statt. Dreitausend Menschen passten hinein, das hieß, was dort stattfand, war Stadtgespräch.

      Für den Mai waren dort die Rolling Stones angekündigt. Ihr neuestes Lied »I can’t get no satisfaction« war gerade herausgekommen und in aller Munde beziehungsweise in aller Ohren. Ich fand den Song gut, vor allem aber seine Botschaft sprach mir aus tiefstem Herzen: Alles, wirklich alles, was diese Welt zu bieten hatte, war unbefriedigend.

      Fips bevorzugte die Richtung der »Protestsongs«, also Musiker wie Bob Dylan, der mit »Blowin’ in the wind« das Leben eher philosophisch in Frage stellte oder Donovan, der mit seinem Song »Universal soldier« direkt die Politik beziehungsweise die Politiker angriff – ich fand die zu schmalzig. Ebby, der sowieso der Lässigste war und über allem stand, weil er schon Zigaretten rauchte, stimmte mir in dieser Beziehung zu, fand aber wiederum die Stones zu primitiv und bevorzugte die Beatles, die ich meinerseits als angepasst verurteilte.

      Julia legte sich in dieser Hinsicht nicht fest, fand aber die Idee attraktiv, zusammen mit mir zu den Stones zu gehen. Also bearbeiteten wir unsere Eltern so lange, bis sie das Geld für die Eintittskarten herausrückten, die für unsere Verhältnisse unvorstellbar teuer waren. Ich fuhr extra in die Innenstadt, um am Schalter des Circus Krone die Karte zu erstehen.

      Endlich war es so weit. Wir hatten einen seitlichen Logenplatz der rund um die Bühne gebauten, steil ansteigenden Sitzreihen, sodass wir die Bands zwar nur im Profil sehen konnten, dafür aber ganz aus der Nähe. Unsere Geduld wurde unendlich strapaziert – der Aufbau und die Einstellung der Verstärker wollte und wollte kein Ende nehmen.

      Schließlich kam ein junger Mann in einer Arbeits-Latzhose auf die Bühne und das Publikum jubelte auf. Es war aber keiner von den Stones, sondern Eric Burdon – wie Julia wusste – von einer der Vorbands, den Animals, deren Name mir sympathisch war und mich an Hötzl erinnerte. Es wurde sofort deutlich, dass er mehr Ahnung von der ganzen Technik hatte als all die Schlamper, die bis dahin unsere Zeit gestohlen hatten – er nahm die ganze Sache in die Hand und zehn Minuten später begann tatsächlich die erste Gruppe zu spielen.

      Bis dahin hatte ich nur davon gehört, dass es bei derartigen Konzerten ungebührlich laut und undiszipliniert zugehen solle, worüber sich die Spießer aller Welt mit Schaum vor dem Mund aufregten. Mehr noch bei den Beatles, aber auch bei den Stones, fielen angeblich vor allem Mädchen und junge Frauen vor Begeisterung reihenweise in Ohnmacht – so wild war es in Wirklichkeit nun auch wieder nicht, aber das Geschrei doch ziemlich laut; da wir so nah an der Bühne saßen, konnten wir noch alles gut hören. Ich selbst war mir zu fein, aufzuspringen und rumzugrölen, Julia sowieso.

      Als die Animals spielten, die letzte Gruppe vor der Pause, nach der die Stones kamen, spürte

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