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haben sie gar keinen Grund dazu«, fand Fips, fingernägelkauend.

      »Warum nicht?«, fragte Franz Müller, schmucksortierenderweise.

      Ich sah Fips an.

      »Sie sind schon irgendwie anders als normal«, räumte er ein, »aber –«

      »– aber nicht richtig dagegen«, fügte ich hinzu.

      Franz Müller sah zu uns hoch.

      »Wogegen?«, fragte er.

      »Na gegen den ganzen Mist, der bei uns läuft«, erklärte ich, »davon redet ihr doch selber die ganze Zeit, die alten Nazis und so weiter.«

      »Der Stinkstiefel Adenauer«, brummte Fips.

      Franz Müller lachte aus vollem Halse.

      »Ja, und wie findest du die Gammler?«, fragte ich ungeduldig.

      »Naja«, sagte er, »jeder kann machen, was er will, solange er niemandem zur Last fällt oder andere beeinträchtigt.«

      »Findest du richtig oder falsch, was die machen?«, wollte ich wissen.

      »Das kann man so allgemein nicht sagen«, antwortete Franz Müller, »jeder muss selber wissen, ob ihm das gefällt oder nicht, verboten ist es nicht.«

      »Und gefällt dir das oder nicht?«, insistierte ich.

      »Mein Fall ist es nicht«, sagte Franz Müller und sortierte weiter seinen Schmuck, »aber stören tut es mich auch nicht.«

      Fips und ich sahen uns an.

      »Weil«, gab ich zu bedenken, »die Krawalle letztes Jahr fandest du ja gut!«

      »Das war etwas anderes«, sagte Franz Müller und zog einen weiteren Karton auf seinen Schoß.

      »Was ist der Unterschied?«, fragte ich.

      »Beides ist Protest«, bemerkte Fips.

      »Der eine Protest ist aktiv, der andere passiv«, antwortete Franz Müller, stellte den Karton auf den Boden und sah uns an, »einfach nur nicht mitzumachen ändert nichts. Die jungen Leute letztes Jahr haben für ihre Rechte gekämpft und sind sogar teilweise dafür ins Gefängnis gegangen – und das hat vielen anderen klargemacht, dass sich in unserem Land etwas ändern muss.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Gammler tun einfach gar nichts, das ist uninteressant, dadurch ändert sich nichts.«

      Es war klar, dass wir langsam gehen sollten, aber mir lag noch etwas anderes auf der Seele.

      »Der Heiner hat mir gestern gezeigt, wie man Zwiebeln schneiden kann ohne sich zu verletzen«, wandte ich mich nochmal an ihn, obwohl wir schon standen, »und dabei hat er gesagt, dass er das im Kriegsgefangenenlager bei den Franzosen gelernt hat. Wieso war der denn im Lager, der war doch im Gefängnis, weil ihr gegen Hitler gekämpft habt? Der Heiner erzählt ja nie was!«

      Franz Müller schüttelte lachend den Kopf. »Ja ja, der Heiner!«, seufzte er amüsiert, »isch hal a aldr Seggl72« Dann wurde er wieder ernst. »Der Freisler73«, erklärte er, »hat uns ja nicht zum Tod verurteilt, weil wir damals noch minderjährig waren. Dem Heiner konnte nur ›Mitwisserschaft‹ nachgewiesen waren, deshalb bekam er nur zwei Jahre Haft und wir anderen74 zweieinhalb, weil wir Flugblätter verteilt hatten. Das heißt, er kam schon raus, als Hitler noch an der Macht war. Dann haben sie ihn sofort zum Militär eingezogen, weil sie keine Leute mehr hatten, dann war der Krieg auch gleich zu Ende und er wurde in Uniform verhaftet.«

      »Ja, aber warum hat er dann nicht gesagt, dass er im Widerstand gewesen war?«, fragte ich.

      Franz Müller lachte. »Weil der Heiner nie was sagt, außerdem hätte er es ja nicht beweisen können.«

      Wir standen schon in der Tür, als Franz Müller uns noch zum Abschied erzählte: »Ich bin dann in einem Jeep von den Amis durch die Lager gefahren und habe mit einem Megaphon überall nach Heiner gerufen; war nicht leicht, aber ich habe ihn gefunden. Da hat er dann auch nichts gesagt, aber als ich ihm die fette Salami gegeben habe, die ich für ihn dabeihatte, da hat er sich aber gefreut!«

      An Weihnachten gab es bei uns eine Tradition, die noch mein Vater eingeführt hatte. Es wurden Menschen eingeladen, die alleine waren oder niemanden hatten, mit dem sie feiern konnten. Das gehöre zum Geist dieses Festes, hatte mein Vater gesagt.

      In Ulm waren es die gesellschaftlich verfemten Homosexuellen gewesen, in München vor allem die jüdischen Freunde meiner Eltern, die am 24.12. zu uns kamen. Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat, danach saß man zusammen, trank etwas und redete. Trotz der verschiedenen Religionszugehörigkeiten wurde durchaus Weihnachten als Fest der Toleranz und Verständigung gewürdigt.

      Hans Lamm75 war nicht nur an diesen Tagen ein gern gesehener Gast in unserem Haus. Er brachte mir ein Buch mit, in dem ein Artikel zu finden war, den er verfasst hatte; er handelte – passend zum Fest – von Religionsfreiheit. Vorne drin stand eine Widmung: »Für Christof Wackernagel, auf daß er 1964 nie mehr Bauchweh bekomme.«

      Er lächelte stets etwas melancholisch, aber unverdrossen. »Es gibt sowieso nur einen Gott«, erklärte er mir, als er mir das Buch überreichte, »also ist es ihm egal, in welcher Form man zu ihm betet.« Das kratzte zwar ein wenig an der von mir gelernten Auffassung, dass eigentlich nur die katholische Religion zählte, war aber einleuchtend.

      Der Titel des Buches stammte von Goethe:

      »Das ist der Weisheit letzter Schluß. Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß. Ein Buch für junge Bürger«76, herausgegeben von Claus Schöndube77

      Das war das Schlusszitat des letzten Beitrages in diesem Buch, einer Rede von John F. Kennedy, die er in der Paulskirche gehalten hatte und in der er an die Frankfurter Nationalversammlung 1948 erinnerte:

       So ist die Saat der amerikanischen Revolution von 1776 schon vorher aus Europa herübergebracht worden und hat später in aller Welt Wurzeln geschlagen. Und auch die deutsche Revolution von 1848 sandte Ideen und Idealisten nach Amerika und anderen Ländern aus. […]

       All dies sind in erster Linie große Menschheitsabenteuer. 78

      John F. Kennedy

      »Nichts bleibt, wie es ist«, erklärte Hans Lamm dazu, »wenn alles gut ist und man denkt, das sei sicher – hat man schon verloren.« Er lächelte milde. »Man muss immer kämpfen«, fuhr er fort, »sonst verliert man seine Seele.«

      Seine Worte erregten mich sehr.

      Revolution! Das war wie die Zusammenfassung der Botschaft dieses Buches!

      Ich wusste, dass Hans Lamm unter der Naziverfolgung gelitten hatte und fand es toll, dass er – im Gegensatz zu Onkel Otto – trotzdem wieder nach Deutschland gekommen war. Dieser Mann wusste, wovon er sprach, und ich hatte das Glück, ihm zuhören zu dürfen:

      »Glaube nie jemandem, der vorgibt, ›die Wahrheit‹ zu kennen. Überprüfe alles. Glaube auch mir nicht.«

      Ich verschlang das Buch:

      Am Ende des ersten Beitrages, der sich mit dem Begriff »Freiheit« beschäftigte, stand:

       Freiheit ist die Unruhe, die die Uhr der Menschheit in Gang hält. 79

      Und in Umkehrung der Devise, die die staatlichen Autoritäten ausgaben:

       Unruhe ist die erste Bügerpflicht! 80

      Hans Lamm schrieb in seinem Beitrag:

       Als Jude steht es mir nicht zu, den Christen mehr christliche Bruderliebe anzuempfehlen. Aber als Mensch darf ich den Mitmenschen den altgriechischen Ausspruch »Nicht mitzuhassen – mitzulieben bin ich da« zurufen; er sollte uns alle, Christen und Nicht-Christen zu einer mitmenschlichen, sich alltäglich bewährenden Brüderlichkeit der Tat vereinen. 81

      »… der Tat«, darum ging es, das wurde immer klarer. Vor allem eines lernte ich und schwor mir, dass ich es den Rest meines

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