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Mutter kam aus der Küche zurück und guckte besorgt; Heiner provozierte gerne und sie wollte sich die gute Stimmung nicht verderben lassen.

      »Politische Fehlentwicklungen«, antwortete Brocher milde, »können auch in unbewusst herausbrechenden Formen ihren Ausdruck finden; oft sagen diese spontanen Eruptionen mehr aus als bewusst gezielte, gar kalkulierte.«

      Heiner verzog das Gesicht. »Ich fürchte, damit wird diesen Saufkumpanen zu viel der Ehre angetan!«

      Brocher lächelte. »Wenn man diese unbewussten, also verdrängten Probleme, die dadurch sichtbar werden, nicht ernst nimmt und nicht auf sie eingeht, werden sie sich am Ende in noch heftigeren Ausdrucksformen Bahn brechen.«

      »Ja, aber dann«, warf meine Mutter ein, »ist es ja doch eine richtige Entscheidung einen Psycholgen hinzuzuziehen?«

      »Im Prinzip ja«, sagte Brocher, »ich fürchte nur, dass in diesem Fall die Psychologie dazu benutzt wird, die politischen oder besser gesagt sozial-gesellschaftlichen Probleme zu verdrängen.«

      »Und die wären?«, fragte Heiner.

      »Darüber reden wir doch, seit die Bundesrepublik existiert«, antwortete Brocher, »der verstaubte Adenauer-Staat, die verdrängte Nazi-Zeit, die überholt autoritären Strukturen – dagegen wehren sich diese jungen Leute unbewusst57, indem sie einfach Gitarre spielen und das Leben genießen wollen.«

      »Ich finde auch, dass man sich nicht alles gefallen lassen darf«, mischte ich mich ein. »Ihr schimpft doch selber immer auf die alten Nazis!«

      »Ja, aber so kann man daran nichts ändern«, meckerte Heiner schroff. »Das gibt den alten Säcken eher Argumente, noch härter drauf zu hauen.«

      Tobias Brocher wiegte sein graugelocktes Haupt. »Sicher nicht ändern, das stimmt, aber das Problem kenntlich machen – ich kann davor warnen, das nicht ernst zu nehmen.«

      »Mach doch mal die Fontäne am Schwimmbad an«, forderte meine Mutter Heiner auf und wandte sich an Tobias Brocher: »Womit kann ich dir denn noch dienen?«

      22. Oktober

      Meine Tante Gaby aus England rief in aller Frühe an. Wir waren alle noch ganz verschlafen, torkelten ins Bad und aufs Klo. Ich hörte, wie meine Mutter immer wieder sagte: »Das ist ja fürchterlich«, »um Gottes willen«, »das kann doch alles nicht wahr sein«.

      »Kinder«, sagte sie, nachdem das Telefonat zu Ende war, »vielleicht gibt es Krieg.« Wir waren erschrocken, konnten es uns aber nicht vorstellen. »Die Russen bedrohen die Amerikaner mit Raketen«, sagte sie, bleich im Gesicht, und Heiner sagte nichts, lästerte nicht, also war es ernst. Es war aber mehr spannend als angsterregend.

      »Wir müssen jetzt erstmal warten, wie es weitergeht«, sagte meine Mutter, »wenn es schlimmer wird, schicke ich euch zu Gaby.«

      Die ganzen nächsten Tage ging es um nichts anderes als die »Kubakrise«58. Alle bibberten mit John F. Kennedy59, in den Sabine verliebt war. Ich wusste nicht, was ich wollen sollte, denn ich war wahnsinnig gern bei Gaby und ihrem Mann Martin in Harwarton, dem englischen Landsitz mit dem parkartigen Garten und den vielen Kindern mit meiner Lieblingscousine Kitty; außerdem müsste ich dann nicht in die Schule – aber Krieg wollte ich auch nicht.

      1963

      Alle drei Jahre machte Onkel Helmut seine Weltrundreise. Sein letzter Besuch schien mir eine Ewigkeit her. Er begutachtete das neue Haus, war sehr zufrieden und lobte Heiner.

      Er hatte mir eine Uhr60 mitgebracht, auf der man, durch Drehen eines gezackten Ringes, der sie umschloss, anzeigen konnte, wieviel Uhr es woanders auf der Welt war. Es war Mittagszeit, wir saßen am oberen Esstisch, während hinter der Durchreiche zu sehen und zu hören war, wie Heiner kochte. Onkel Helmut erklärte mir, wie die Uhr funktionierte: »In Australien ist es jetzt Mitternacht«, sagte er, nachdem er den Ring verstellt hatte, »hier ist Frühling, dort ist Herbst.«

      Während ich begeistert an dem Ring herumdrehte, lehnte er sich zurück und setzte hinzu: »Und so wie überall eine andere Zeit herrscht, herrschen auch überall andere Verhältnisse!« Ich sah zu ihm hoch. »Diese Uhr soll dich daran erinnern, dass du in ganz wunderbaren Umständen lebst.« Ich fand es zwar grauenhaft, wie die Alten sich immer stritten, mich nervten meine Stiefschwestern und ich fand es überflüssig, wenn meine Mutter beim Essen immer betonte, wie billig sie es eingekauft hatte, aber wenn Onkel Helmut das sagte, musste etwas dran sein.

      »Ich komme viel in der Welt herum«, fuhr Onkel Helmut fort, »das weißt du, und ich sehe viel Elend auf der Welt.« Er beugte sich vor, suchte meinen Blick und sagte eindringlich: »Es gibt unendlich viele arme Menschen auf der Welt, die Hunger haben – du ahnst gar nicht, in was für einem Reichtum du lebst.« Ich kannte das schon seit Kindheitstagen, wenn ich mit der Begründung aufessen sollte, dass in China Kinder hungerten – als ob sie davon satt würden, wenn ich mehr aß, als ich Hunger hatte – aber so, wie Onkel Helmut das sagte, klang das anders. Irgendwie war er traurig, diese Menschen taten ihm leid – und dann taten sie mir auch leid, denn ich mochte ihn sehr gern und ich wusste, dass er recht hatte. »Wir sollten immer versuchen, von unserem Reichtum etwas abzugeben«, sagte er, während Heiner eine dampfende Schüssel in die Durchreiche schob und uns aufforderte, sie auf den Tisch zu stellen. »Wenn wir immer bereit sind, zu teilen, wird es vielleicht mal besser in der Welt.«

      Nachmittags besuchte uns eine Frau mit ihrem Freund und ihren beiden Kindern, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Unsere Alten hatten sie auf einer Veranstaltung zum Gedenken an die Weiße Rose kennen gelernt, sie war die Tochter eines Mitglieds61 der Widerstandsgruppe »20. Juli«62. Dort hatte sie sich mit meiner Mutter angefreundet, die sie so herzlich einlud, dass sie am Wochenende darauf schon kam. Sie hieß Katharina Heinemann, war sehr witzig und lachte selbst auch gerne. Vor allem aber gab sie Heiner mit seiner ständigen Meckerei und seinen zynischen Bemerkungen derart contra, dass er manchmal nicht mehr wusste, was er sagen sollte; Sabine und ich freuten uns diebisch darüber.

      Ihre Tochter war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, und ich verliebte mich sofort unsterblich in sie. Ihr Name war Julia, sie war sehr zurückhaltend und wenn ich mit ihr sprach, dachte sie immer lange nach, bevor sie antwortete. Es war sehr schwer, ihr zu imponieren, sie ließ nichts gelten, was ich sagte, relativierte alles oder hatte Einwände. Ihr Bruder David war so alt wie meine Stiefschwestern und wir spielten Verstecken, die Älteren gegen die Jüngeren; so kam es, dass Julia und ich ganz bald im hintersten Winkel des Heizungskellers unauffindbar verschwanden.

      Als wir verschwitzt und durstig wieder in den Garten hochkamen, fanden wir Julias Mutter im intensiven Gespräch mit Onkel Helmut. Sie konnte gerade nicht aufhören zu lachen, so wurden wir neugierig und setzten uns dazu. »Ja ja«, sagte Onkel Helmut und nickte nachdenklich lächelnd. »Aber es kommt noch verrückter«, fuhr er fort und Katharina sah ihn gespannt an, »in den ersten sechs Monaten war ich im Auffanglager für Einwanderer in einer speziellen Abteilung für deutsche jüdische Flüchtlinge. Wir wurden besonders genau kontrolliert, ob wir wirklich Juden waren und nicht Spione.«

      Katharina lachte und schüttelte den Kopf: »Dabei waren die Nazis viel zu primitiv und verbohrt, um einen Spion als Juden auszugeben, das wäre gegen ihre rassische Arroganz gegangen!«

      Nun lachte Onkel Helmut und nickte. »Aber in Sachen ›rassische Arroganz‹ kommt es noch viel besser«, versetzte er. »Als es im ganzen Lager Aufrufe gab, Blut für die australischen Soldaten zu spenden, die im Krieg gegen Deutschland verletzt worden waren, meldete ich mich natürlich sofort.« Schon wieder hielt er inne und nickte. »Aber als ich bei Aufnahme der Personalien angab, aus Deutschland geflohen zu sein, unterbrach der Wachsoldat seine Notizen. ›Sind Sie also Deutscher?‹, fragte er. ›Ich bin deutscher Jude‹, antwortete ich, ›deshalb musste ich ja fliehen.‹ Der Wachsoldat kratzte sich am Kopf und dachte angestrengt nach. ›Hm‹, machte er, ›ich weiß nicht, ob das geht.‹ ›Was geht?‹, fragte ich. ›Dass Sie Blut spenden!‹, antwortete er. ›Warum denn nicht?‹, fragte ich. Er druckste

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