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zog den Zapfhahn aus dem Auto und stieß ihn heftig in die Tanksäule. Ich zog meine Brieftasche aus dem Jackett und fragte, warum. Er sah mich prüfend an – es war deutlich, dass er um einen Beschluss rang –, dann sah er sich sichernd nach allen Seiten um und winkte mich schließlich näher an sich heran. ›Man kann ja heute nicht mehr offen über die Dinge reden‹, begann er noch näher zu mir gebeugt, fast flüsternd, ›aber das weiß doch jedes Kind: Die Preise sind von den Juden diktiert, der jüdischen Weltverschwörung in New York!‹ Dann wich er zurück und stemmte seine Hände in die Hüften: ›Erst haben sie Jesus Christus umgebracht, dann Adolf Hitler und jetzt beherrschen sie die Welt!‹«

      Onkel Otto sah mich an, aber ich rief nur ungeduldig: »Und dann?«

      »Dann bezahlte ich«, antwortete er, »verzichtete auf das Rückgeld, setzte mich wieder ins Auto zu Yella, erzählte ihr alles und wir fuhren zurück in unser geliebtes England. Hier werden wir für immer bleiben.«

      Es dauerte eine Weile, bis sich das Erzählte bei mir setzte, zu verstehen war es eh nicht. Dann begann ich zu weinen ohne zu wissen, warum.

      Schließlich nahm ich seine Hand und sagte: »Ich will auch für immer in England bleiben22.«

      1959

      Der neue Intendant des Ulmer Theaters, Kurt Hübner23, entließ als erste Amtshandlung meine Mutter als Frau seines Vorgängers, dessen bahnbrechende Erneuerungen des Theaters (zum Beispiel das Studiotheater »Podium«, in dem das Publikum um die Bühne herumsaß, Inszenierungen des in den fünfziger Jahren in Westdeutschland verpönten Bert Brechts, oder das Engagement von späteren Theaterrevolutionären wie Peter Zadek24 und Wilfried Minks25) er von nun an auf seine Fahnen schrieb.

      Meine Mutter, die junge Witwe mit zwei Kindern, fand eine Stelle beim Bayrischen Fernsehen und musste schweren Herzens ihren Beruf als Schauspielerin aufgeben. Wir zogen um in ein Reihenhäuschen mit Handtuchgarten in Obermenzig am Rande von München, direkt nach dem Ende der Autobahn, wenn man von Ulm kam. Zum Glück gab es auch dort ein schönes Mädchen, sie hieß Mucki und brachte mir bei, dass man auf den umliegenden Wiesen Sauerampfer pflücken konnte, der lecker schmeckte.

      Meine neue Schule war zwar ganz in der Nähe, aber sie war düster, geduckt, und es stank nach Linoleum. Der Lehrer war alt, hässlich und streng, der Unterricht machte keinen Spaß. Das Klassenzimmer war riesig, dunkel und wirkte wie ein Kellergewölbe. An der Wand hing ein riesiges Bild des Bundeskanzlers. Er hieß Konrad Adenauer und schaute angsteinflößend ins Zimmer.

      Einmal standen wir vor Beginn des Unterrichts vor dem Bild und ein Junge gab damit an, dass sein Vater den Adenauer schon einmal in echt gesehen habe und dass der überhaupt der wichtigste Mann in ganz Deutschland sei. Da musste ich furchtbar lachen, zeigte auf den vorgeschobenen Mund dieses Mannes und sagte: »Aber der sieht doch aus wie ein Affe!« – alle umstehenden Kinder lachten mit.

      »Was hast du da gesagt?«, ertönte eine schneidende Stimme hinter mir. Der Lehrer war hereingekommen, ohne dass ich das gemerkt hatte. Er stand mit seiner Aktentasche in der Hand hinter mir und funkelte mich böse an.

      Ich zuckte mit den Achseln. Dann zeigte ich auf das Bild: »Der kann ja nichts dafür, dass er so aussieht!«

      »Jetzt reicht’s aber«, rief der Lehrer, ging wütend zu seinem auf einem Podest erhöht stehenden Schreibtisch und knallte seine Aktentasche darauf. Dann winkte er mich mit dem Zeigefinger zu sich, während alle anderen Kinder sich setzten, und befahl mir, mich vor der Klasse aufzustellen. Er öffnete die Schublade, holte etwas heraus und hielt es hinter seinem Rücken, während er zu mir herunterkam.

      »Jetzt schauts mal alle her«, sagte er zur Klasse gewandt, als er neben mir stand, »was passiert, wenn man so frech ist wie der Wackernagel.«

      Er befahl mir, die rechte Hand hochzuheben und die Finger flach zu strecken. Dann legte er seine linke Hand darunter und holte mit der rechten hinter seinem Rücken ein Bastrohr hervor.

      »Damit du nie vergisst«, fuhr er mich mit zusammengekniffenen Lippen an, »was für ein Sauhund du bist«, schlug mit dem Bastrohr ganz vorne auf meine Finger, fast auf die Fingernägel, und zählte: »eins, zwei, drei –« bis zehn.

      Es tat saumäßig weh, aber ich verkniff mir die Tränen und schwor Rache26.

      1960

      Meine Mutter hatte einen roten VW-Käfer, mit dem wir oft nach Ulm fuhren, um Reste unseres Umzugs zu holen. Es dauerte immer endlos, bis die hundertzwanzig Kilometer vorbei waren. Oft saß ich ganz hinten in dem Schacht des Käfers und schaute rückwärts hinaus, weil es mir langweilig war, immer zu warten, bis das nächste Schild anzeigte, dass wir wieder zehn Kilometer geschafft hatten.

      Bei einer Fahrt bemerkte ich, dass ständig ein weißer VW-Käfer hinter uns fuhr. Er überholte, wenn meine Mutter überholte und er fuhr langsamer, wenn sie langsamer fuhr. Er hatte auch ein Ulmer Kennzeichen, am Steuer saß ein Mann.

      »Mami!«, rief ich nach einiger Zeit, »da verfolgt uns einer mit einem VW aus Ulm!«

      Meine Mutter sah in den Rückspiegel. »Stimmt«, bestätigte sie, »der ist auch aus Ulm.«

      »Der ist bestimmt ein Geheimagent!«, rief ich zu ihr nach vorne, »der will dich klauen!«

      Meine Mutter lachte, sah wieder in den Rückspiegel und sagte: »Wieso, der sieht doch ganz nett aus!?«

      Ich sah ihn mir nochmal genau an, war weniger ihrer Meinung und wusste, dass er etwas im Schilde führte.

      Ich hatte wieder einmal recht. Nachdem wir die Autobahn endlich verlassen hatten und in die Verdistraße in Obermenzing einfuhren, kletterte ich aus dem Käfer-Schacht auf den Rücksitz, weil wir die nächste Straße abbiegen mussten zu unserem Reihenhaus, da schaltete die Ampel auf rot und meine Mutter musste scharf bremsen. Hinter uns quietschten Reifen – dann krachte es – und der Mann war uns hinten reingefahren! Das hatte der absichtlich gemacht!

      Wir stiegen alle aus und der Mann kam mit ausgestreckter Hand lachend auf meine Mutter zu: »Entschuldigen Sie bitte vielmals, das tut mir sehr leid, ich werde das so schnell es geht regulieren!« Sie war überhaupt nicht richtig böse auf ihn, tat fast so, als sei es ihre Schuld, weil sie gebremst hatte, und als sie die kaputten Stoßstangen anschauten, sagte der Mann plötzlich:

      »Sie kommen mir so bekannt vor – sind Sie nicht Schauspielerin am Ulmer Theater?«

      »Leider nicht mehr«, antwortete meine Mutter geschmeichelt. »Ich wurde entlassen, nachdem mein Mann, der Intendant, gestorben war.«

      »Dann sind Sie Erika Wackernagel?!«, sagte der Mann hochachtungsvoll und streckte wieder seine Hand aus. »Mein Name ist Heiner Guter27 – welche Ehre, Sie persönlich kennen zu lernen! Wie oft habe ich Sie schon im Theater bewundert.« Und, nachdem meine Mutter errötend geseufzt hatte: »Und Sie sehen ja im richtigen Leben noch blendender aus als auf der Bühne.«

      Er wohnte ganz in der Nähe, war geschieden, hatte zwei Töchter in unserem Alter, die eine dick, die andere frech, und es dauerte nicht lange, bis meine Mutter ihn heiratete und die beiden den Bau eines Hauses am anderen Ende von München planten.

      Heiner Guter war in jeder Hinsicht das Gegenteil meines Vaters, er war unsensibel, verstand nichts von Kunst und lästerte über alles und jeden. Er wusste alles besser und behandelte meine Mutter schlecht. Meine Schwester Sabine und ich waren natürlich überhaupt nicht damit einverstanden, dass unsere Mami diesen grobschlächtigen Kerl28 heiratete, und wir verbündeten uns gegen ihn und seine Töchter.

      Aber er konnte Häuser bauen, während mein Vater kaum einen Nagel in die Wand zu schlagen verstand. Außerdem kannte er sich in politischen Dingen aus, während mein Vater in dieser Hinsicht im Kunsthimmel über den Wolken geschwebt hatte. Er war auch mit Inge und Otl Aicher-Scholl befreundet, weil er in der Gruppe von Inges Geschwistern gewesen war, der »Weißen Rose«, die gegen die Nazis gekämpft hatte.

      Ich erzählte ihm davon, dass im Klassenzimmer

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