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Schlag im Ellenbogen, dass es mich herum- und zu Boden riss, während mir meine Waffe aus der Hand flog und ich hart aufschlug – am Boden versuchte ich mich zu orientieren, es knallte und blitzte von allen Seiten; ich sah, wie Gert sich durch die Glassplitter der Telefonzellentür auf den Gehweg wälzte, die Hände vor dem Bauch verkrampft, sich aufbäumte, mit der linken Hand den Sicherungsbügel der Handgranate wegriss, um sie mit der rechten in Richtung Mündungsfeuer zu werfen – woraufhin ein gewaltiger Donnerschlag durch die Straßenschluchten des Amsterdamer Vorortes hallte – dem ein Geballer aus allen Rohren folgte, das kein Ende nehmen wollte – ich sah, wie Gerts Körper, der unter dem Lichtkegel einer Straßenlaterne lag, von den Einschüssen hin- und hergeschleudert wurde, spürte selbst Einschüsse an den Beinen – bis Kommandos gebrüllt wurden und die Schießerei erstarb.

      Kurz darauf hörte ich ein Keuchen neben meinem Ohr, eine heisere Stimme: »Keine Bewegung«, und ich spürte die kalte Mündung einer Pistole an meiner Schläfe. Es hatte nun keinen Sinn mehr zu reagieren, ich sah, wie immer mehr Gestalten uns umringten, bis eine von ihnen ihren Fuß auf meine Brust stellte und ihren Karabiner auf mein Gesicht richtete – dann löste sich die kalte Mündung von meiner Schläfe. Gert, der schwer verletzt sein musste, schimpfte auf Englisch vor sich hin – ich versuchte meinen Kopf zu heben, um zu ihm hinübersehen zu können, da brüllte der Kerl mit dem Karabiner mich an, drehte ihn um und stieß mir den Kolben in die Schläfe – die Frage durchzuckte mich, ob mir jemand in den Kopf geschossen hatte – und es wurde dunkel.

      Sirenengeheul weckte mich, aber ich schaffte es nicht, die Augen zu öffnen, dämmerte wieder weg, kam wieder zu Bewusstein, hörte Gert, der fragte: »Where is my comrade?«, dämmerte wieder weg, spürte, dass meine Kleider aufgeschnitten wurden – ich auf einer Bahre getragen wurde – kam hin und wieder zu Bewusstsein, während wir durch die Straßen fuhren, und ich spürte, dass jemand eine Spritze an meinen Arm setzte – kurz darauf durchfloss mich ein derart unvorstellbar angenehmes Wohlgefühl, dass ich, bevor ich einschlief, dachte: Wenn das der Tod sein sollte, gibt es nichts Schöneres.

      Drei Tage später wachte ich im Gefängniskrankenhaus mit einer Binde um den Kopf auf und stellte angenehm überrascht fest, dass ich noch lebte. Sofort herrschte völlige Klarheit in meinem Kopf – und der merkwürdige Geruch beim Betreten der Wohnung fiel mir ein. Wahrscheinlich, erkannte ich, hatte die Amsterdamer Polizei mit Hilfe des BKA unsere Wohnung gefunden und längst beobachtet – ich hatte den Angstschweiß der Männer gerochen, die unsere Wohnung durchsucht hatten und fürchteten, dass wir überraschend auftauchen könnten: Zwei Wochen zuvor war einer ihrer Kollegen bei einer solchen Konfrontation erschossen worden.

      Ich hätte nicht die Fenster aufreißen, sondern das Weite suchen sollen.

      1954

      Mein Vater6 war sehr fromm. Seine Mutter7 war eine glühende Katholikin; ihren Visionen von Apostel Petrus, die sie auch literarisch verarbeitete8, verdankte er seinen Name Peter. In ihren Romanen und Theaterstücken verteufelte sie genauso glühend patriarchalen Männerwahn und identifizierte sich mit den Entrechteten und Gedemütigten dieser Erde. Diese Haltung entwickelte mein Vater in seinen Inszenierungen als Intendant des Ulmer Theaters weiter, indem er christliche Werte wie Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit aller Menschen als allgemeingültige vermittelte.

      Da auch meine Mutter9 am Theater arbeitete, führten wir ein unregelmäßiges Leben. Zum Ausgleich dafür traf sich die ganze Familie, zu der noch meine ältere Schwester Sabine10 gehörte, einmal am Tag zum Essen, am Sonntag auch zum Frühstück; da gab es sogar ein weichgekochtes Ei. Wir hatten ein Esszimmer; mein Vater saß mit dem Rücken zum Fenster, ich saß rechts von ihm, meine Schwester Sabine links – ihm gegenüber meine Mutter.

      Vor dem Essen wurde immer gebetet: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.«

      Eines Tages hatte ich genug von dieser ewigen Einladung: »Wann kommt der denn endlich mal, dieser Herr Jesus?«

      1955

      Ich spielte mit meinem Freund Rolf auf dem Gehweg vor unserem Haus, einem vierstöckigen Neubau in der Gideon-Bacher-Straße. Er war ein Hund und ich eine Katze. Wir bellten und miauten die Passanten an, und wenn welche erschraken, lachten wir jubelnd. Einige schimpften sogar, was uns besonders freute; eine Frau gab uns Bonbons.

      Ein älterer Junge kam vorbei. Er zwinkerte wichtig und winkte uns, mit ihm zu kommen. Wir folgten ihm neugierig.

      In der nächsten Querstraße gab es eine Kriegsruine. Es war uns strengstens verboten, in ihr zu spielen, weil da vielleicht noch Bomben lagen, die losgehen könnten. Genau dorthin führte uns der Junge.

      Davor angekommen, sah er sich sichernd nach allen Seiten um, und nachdem die Luft offenbar rein war, flüsterte er: »Los« – und wir huschten über moosbewachsene Gesteinsbrocken durch eine Mauerlücke in den Keller der Ruine. Drinnen war es kalt, glitschig und es roch muffig; Rolf und ich zitterten vor Aufregung.

      »Jetzt zeig ich euch mal was«, sagte der Junge und nickte bedeutungsschwer – dabei zog er etwas aus seiner Hosentasche. Es waren an einem grauen Bändchen aufgereihte kleine rote Pappröhrchen. Während er Streichhölzer aus der Tasche zog, streckte er sie uns entgegen, damit wir sie näher betrachten konnten, und erklärte grinsend: »Des sen Judafirzle!11«

      Wir lachten unsicher, wiederholten aber stolz: »Judafirzle!«

      Der Junge legte sie auf den Boden, kniete sich davor und zündete ein Streichholz an. Etwas unheimlich war mir ja schon, hier, mitten zwischen den Bomben, die vielleicht hochgehen könnten, aber es war so spannend, dass ich alle Bedenken beiseiteschob. Der Junge hielt das lodernde Streichholz an das graue Bändchen, an dem sodann ein Funke entlangzischte, bis er das erste rote Pappröhrchen erreichte – das explodierte – erschrocken sprangen wir zurück – alle weiteren explodierten in rasender Schnelle hintereinander knatternd, Funken sprühend und in den düsteren Gemäuern hallend.

      Offenen Mundes standen Rolf und ich da, ergriffen von dem Spektakel, dann jubelten wir – und der Junge zog geschmeichelt die nächsten Kracher aus der Tasche.

      Nachdem ich die vier Stockwerke zu unserer Wohnung hochgestürmt war, berichtete ich meinen Eltern atemlos vor Begeisterung von meiner neuen Erfahrung.

      Mein sonst so milder Vater12 wurde ernst. »Sag dieses Wort nicht noch einmal«, ermahnte er mich, »ich will das nie wieder hören.«

      Ich hüpfte laut lachend vor ihm hin und her und rief extra auf schwäbisch, weil wir zuhause nur Hochdeutsch sprachen: »Judafirzle! Judafirzle! Judafirzle!«

      »Christof!«, rief er, richtig wütend, »lass das! Ich verbiete dir das!«

      Ich war kurz verunsichert – doch dann streckte ich meine Zunge heraus und wiederholte: »Judafirzle! Judafirzle!« – seine Hand landete klatschend auf meiner Wange.

      Ich war so verblüfft, dass ich vergaß zu weinen.

      Das hatte es noch nie gegeben.

      Dann spürte ich den Schmerz und flüchtete zu meiner Mutter13, die von dem Krach alarmiert ins Zimmer gekommen war.

      »Aber Peter«, sagte sie und streichelte meinen Kopf, »sei doch nicht so streng, das kann er doch noch nicht wissen.«

      »Dann weiß er’s jetzt«, sagte mein Vater traurig.

      1956

      Familientreffen in Amsterdam. Meine Lieblingstante Yella14 und ihr Mann Otto waren aus London angereist, meine Tante Susi mit ihrem Mann aus Südwest-Afrika15, mein Opa Erich aus Brasilien. Wir fuhren alle zusammen in einem Boot durch die Grachten. Ich durfte auf dem Schoß von Yella sitzen und Kapitän spielen. Feuchter Wind streifte über mein erhitztes Gesicht, es roch aufregend, die Häuser sahen aus wie im Spielzeugland.

      Mein Opa schwitzte und rauchte eine Zigarre. Das tat er oft. Er hatte eine lange Narbe auf der linken Wange, einen »Schmiss« – ich bewunderte diese Narbe und

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