Скачать книгу

schloss Jobst, »brauchen keine Führer. Das unterscheidet uns von Tieren – Tiere können nicht anders, als dem Leithammel zu folgen. Das ist das Erste, was wir an Hitler, der furchtbarsten Form von Führer, zu lernen haben.«

      Er stand auf, die Probe ging weiter.

      »Aber, weil sehr viele Menschen eben doch noch verführbar sind«, sagte er wie nebenbei, »dürfen wir nicht das geringste bisschen zulassen, das wieder in diese Richtung führt.«

      Ich sagte den Rest der Probe nichts mehr. Zuhause ging ich sofort in mein Zimmer. Die Wunde brannte tief.

      Klaus Hehl war zwar ein Freund meiner Schwester Sabine, aber wir befreundeten uns schnell auch unabhängig von ihr. Er war Abiturient und hatte eine sehr tiefe Stimme, die ihn älter wirken ließ, als er war, und etwas Ehrfurcht, fast Autorität Gebietendes an sich hatte. Er lebte ganz in unserer Nähe in einem kleinen, mit Büchern überladenen Zimmer, in dem ich ihn eine Zeitlang so oft es ging besuchte und mit ihm über die Bücher, von deren Inhalt er mir entweder nur berichtete oder die er mir zum Lesen mitgab, diskutierte.

      Eines der spannendsten Bücher, das ich durch ihn kennenlernte, war Sigmund Freuds »Unbehagen in der Kultur«. Ich war begeistert davon, wie einfach es sich für einen Fünfzehnjährigen lesen ließ, es bestätigte alle meine Erkenntnisse über das Blendwerk der Religion und es bestätigte meine Erfahrungen mit dem Zauber- und Feuerwerk der Sexualität, die ich meiner Freundin Angelika an schönen Sommernachmittagen in den buschigen Ufern der Isarauen, begleitet von Rotwein und hinterher einer »Overstolz« zu verdanken hatte; sie hatte auf der Odenwaldschule schon mit zwölf damit begonnen. Sexualität war das Zentrum des Daseins überhaupt!

      Und wir hatten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Glück, sie so unbeschwert wie entfesselt zu genießen! Als meine Mutter – ihr Mutterinstinkt hatte es wohl gespürt –, ausgerechnet als ich von dem ersten dieser Isartreffen zurückkam und unbemerkt in mein Zimmer hochschleichen wollte, aus dem Wohnzimmer geschossen kam und, auf den ersten Treppenstufen stehend, zu mir, der ich schon fast oben war, hoch rief: »Du kannst mit den Mädchen machen, was du willst, aber bring mir kein Kind nach Hause!« – da konnte ich sie beruhigen: »Wozu gibt es die Pille?« Und lässig fügte ich hinzu: »Mach dir mal keine Sorgen! Wir haben das im Griff: Wir müssen nicht aufpassen!«

      Wenn also Freud schrieb Das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung ist unvergleichlich intensiver, als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes108, dann aber, wie ich bei einem Spaziergang mit Klaus Hehl neben den Schienen der S-Bahn, die unser beider Wohnungen trennte, zusammenfasste, »uns damit kommt, man müsse die Sexualität unterdrücken, um mit der dadurch erzeugten Energie, Kunst und Kultur erschaffen zu können, also praktisch nach dem Motto: ohne Unterdrückung des Sexualtriebes keine zivilisierte Gesellschaft, kann er mir den Buckel runterrutschen. Das stimmt einfach nicht.«

      Klaus Hehl lachte in seinen tiefsten Basstönen. »So steht das da nicht drin«, behauptete er, »auch wenn man das sinngemäß und stark vereinfacht so darstellen könnte. Freud beschreibt nur, wie es ist; den Zusammenhang zwischen Beherrschung von Sexualität und Entstehung von Kultur, er sagt nicht, dass es so sein sollte.«

      »Aber er tut so, als ginge es nicht anders!«

      Klaus Hehl schüttelte den Kopf: »Die ganze Sache verhält sich schon etwas komplexer.«

      Eine S-Bahn fuhr vorbei und ich musste schreien: »Nein! Man darf die Sachen nicht unnötig komplizieren! Man muss zum Kern der Sache kommen.«

      »Wild und ungebändigt sind die Tiere«, wandte Klaus Hehl ein. »Die Menschheit hat lange genug gebraucht, um davon wegzukommen – und es sind ja noch lange nicht alle so weit! Dabei spielte die Zähmung des unkontrolliert ausbrechenden Sexualtriebs eine wesentliche Rolle.«

      »Aber die Zeiten sind vorbei!«, rief ich. »Vielleicht war das ja nötig, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind, aber jetzt: jetzt brauchen wir das nicht mehr.«

      »Und woraus leitest du das ab?«, fragte Klaus Hehl.

      Das konnte ich so unmittelbar nicht beantworten.

      Schweigend liefen wir an den Bahngleisen entlang. Das war das Tolle an den Diskussionen mit Klaus: Man konnte auch zusammen schweigen.

      »Mit einer Frau zu schlafen ist das Schönste, was es gibt«, begann ich schließlich erneut, »das kann einfach nicht sein, dass sowas unterdrückt werden muss.«

      Klaus Hehl lächelte und sagte nichts.

      Wieder liefen wir lange schweigend nebeneinander.

      »Es ist genau umgekehrt«, wurde mir plötzlich klar: »Wenn man mit einer Frau geschlafen hat, kommen einem erst richtig die Ideen und man bekommt so gute Laune, dass man Lust hat, Musik zu machen oder zu malen oder zu dichten und was es alles gibt!«

      Klaus Hehl blieb stehen und sah mich an. Er überlegte lange. Dann sagte er:

      »Das ist Utopie. Vielleicht ist das in ein paar hundert Jahren so weit. Im Moment müssen wir davon ausgehen, wie es jetzt ist, ob es uns passt oder nicht.«

      Ich seufzte, zuckte mit den Achseln, ging weiter und sagte: »Das sagt Julia auch immer: ›s’ist halt so‹ – das macht mich rasend, das halte ich nicht aus!«

      Zuhause ging ich in Sabines Zimmer und erzählte ihr von dem Gespräch, obwohl sie gerade Hausaufgaben machen musste. Ich fragte sie, ob sie schon mal mit Klaus geschlafen habe, weil ich wissen wollte, wie das war als Frau, also ob es auch so toll war, wie ich es erlebt hatte. Sie antwortete nicht, wurde aber rot, sah weg und fragte dann leise, aber aufgeregt: »Kann ich mich hundertprozentig drauf verlassen, dass du nichts verrätst?«

      Ich war beleidigt, dass sie diese Frage überhaupt stellte – und gespannt wie ein Flitzebogen!

      Sie nahm ihr Handtäschchen und suchte umständlich darin herum, bis sie ein Passfoto herausgekramt hatte, das sie mir verlegen kichernd gab:

      Ein pechschwarzer Mann sah mich an! Er hatte den typischen leeren Passfotoblick und dicke Lippen. War das etwa ihr –?

      »Das ist Calistus«, erklärte Sabine, »er kommt aus Nigeria!«

      »Und mit ihm hast du?«

      Sie strahlte glücklich. »Wir haben uns ein Hotelzimmer gemietet.«

      Ich bewunderte meine große Schwester, sie war einmalig!

      »Wir mussten so tun, als seien wir verheiratet«, berichtete sie, »und wir wollen in Gretna Green109 heiraten, bevor er zurück muss – dann gehe ich mit nach Nigeria.«

      Das klang zwar spannend, aber die Aussicht, Sabine zu verlieren, fand ich weniger schön.

      »Dann kannst du uns dort besuchen – Afrika ist wunderbar«, schwärmte sie110. »Wir werden es paradiesisch schön haben.«

      Das alles war wahnsinnig aufregend und es war klar, dass unsere Alten das überhaupt nicht gut finden würden. Obwohl ich bei dem Gedanken, dass meine Schwester dann sehr weit weg wohnen würde, traurig wurde, überlegten wir, welche Rolle ich spielen könnte, um die Alten abzulenken. Wir beschlossen, darauf zu dringen, endlich wieder einmal Gaby in England besuchen zu dürfen – von dort könnte Sabine dann leicht nach Gretna Green abhauen.

      Wahrscheinlich war das ein Fehler gewesen.

      Als ich ein paar Tage später nach Hause kam, empfing mich meine Mutter hochroten Kopfes mit der Frage: »Wusstest du davon?!«

      Mir war natürlich sofort klar, dass alles aufgeflogen war, aber ich gab mich ahnungslos. Ich musste mit ins Wohnzimmer, in dem Sabine wie ein heulendes Häufchen Elend in der Ecke saß, Heiner finsteren Blickes ihr gegenüber am Couchtisch. »Der lügt doch genauso, der Scheißkerl«, raunzte er meine Mutter an, als sie ihm berichtete, was ich gesagt hatte. »Ja ja«, höhnte er, »deine Kinder, auf die du immer so stolz bist.« Nun fing auch meine Mutter an zu weinen und ich wäre am liebsten rausgelaufen, konnte Sabine aber nicht alleine lassen.

      Die Alten hatte Lunte gerochen – vielleicht

Скачать книгу