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Ideologen Houston Stewart Chamberlain.84

      Baldur von Schirach weicht in seinen Memoiren der Frage nach den antidemokratischen Trends dieser genannten Eliten vor 1918 nicht aus und reproduziert ihre Rechtfertigungsargumente wie die Angst vor sozialer Deklassierung nach 1918 oder vor der Machtübernahme durch die Kommunisten und Sozialisten. Betrachtet man jedoch die Berufskarriere Carl von Schirachs genauer, so kann von einem sozialen Abstieg nicht die Rede sein, da er nach seiner Entlassung vom Weimarer Hoftheater 1919 einen Prozess gegen das Land Thüringen gewann und eine Pension erhielt. Auch im Privatleben sind keine Einschnitte zu erkennen: Carl von Schirach behielt eine Theaterloge, und auch der Haushalt der Familie konnte mit Wirtschafterin und Hauspersonal auf herrschaftlichem Niveau weitergeführt werden.

      Die Angst vor der undeutschen Moderne brach über Weimar nicht erst mit dem Aufstieg der NSDAP, sondern bereits vor 1914 herein. Sie führte schon vor 1914 zu einem Erfolg der Antimoderne, wie die erwähnte Debatte um Harry Graf Kesslers modernes Mustertheater für Weimar zeigt.

      Bereits vor 1914 wurde radikal antisemitisch polemisiert und die Demokratie verhöhnt. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs 1917 steigerten sich diese autoritären und radikalen Tendenzen. Lange vor dem für Deutschland extrem ökonomisch und vor allem letztlich psychologisch belastenden Friedensvertrag von Versailles traten die zuvor skizzierten Netzwerke, zu denen auch Carl von Schirach gehörte, gegen einen Friedensschluss auf. Mit der Errichtung einer parlamentarischen Demokratie, die Carl von Schirach und viele in seinem Umfeld bereits vor 1919 vehement abgelehnt hatten und die noch dazu »Weimarer Republik« genannt wurde, schien auch der Alleinvertretungsanspruch für die deutsche Klassik in der Stadt von Goethe und Schiller infrage gestellt.

      Daher war es kein Zufall, sondern Ausdruck dieser antidemokratischen, autoritären Entwicklung in den Kulturnetzwerken Weimars, dass die Nationalsozialisten bereits vor 1933 eine Regierungsbeteiligung in Thüringen hatten. Harry Graf Kessler85, der ehemalige ehrenamtliche Direktor des Museums für Kunst und Kunstgewerbe, bezog klar Stellung gegen einen Erlass des Thüringer Volksbildungsministeriums vom April 1930, in dem es unter dem Titel »Wider die Negerkultur« hieß: »Seit Jahren machen sich fast auf allen kulturellen Gebieten in steigendem Maße fremdrassige Einflüsse geltend, die die sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen geeignet sind. Einen breiten Raum nehmen dabei die Erzeugnisse ein, die, wie Jazzband- und Schlagzeug-Musik, Negertänze, Negergesänge, Negerstücke, eine Verherrlichung des Negertums darstellen und dem deutschen Kulturempfinden ins Gesicht schlagen. Diese Zersetzungserscheinungen nach Möglichkeit zu unterbinden, liegt im Interesse der Erhaltung und Erstarkung des deutschen Volkstums. Eine gesetzliche Grundlage hierfür bieten die Bestimmungen der §§ 32, 33 a, 53 Abs. 2 der Gewerbeordnung.«86

      Es war dann letztlich auch der Nationalsozialist der ersten Stunde und spätere Intendant des Nationaltheaters in Weimar, Hans Severus Ziegler, der die Ausstellung »Entartete Musik« 1938/39 initiierte.87 Diese antisemitische Hetzausstellung gegen Repräsentanten moderner Musik – die meisten von ihnen auch jüdischer Herkunft – wurde im Rahmen der Reichsmusiktage Düsseldorf gezeigt und war eine Art auf Musiker bezogene Kopie der Ausstellung »Entartete Kunst« aus 1937. Die Ausstellung »Entartete Musik« wurde anschließend in Weimar, München und Wien gezeigt.

       »Ich las es und wurde Antisemit«

      Schirach nannte beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg – übrigens gegen den Willen des Vorsitzenden, der an derartigen Hintergrundinformationen nicht interessiert war – drei Bücher, die ihn geprägt hätten: Grundlagen des 19. Jahrhunderts des »Bayreuther Denkers«, wie ihn Schirach beschrieb, Houston Stewart Chamberlain, Adolf Bartels’88 Weltgeschichte der Literatur und Henry Fords Der internationale Jude. Bartels’ Werk relativierte er umgehend, indem er behauptete, dass es »keine ausgesprochen antisemitische Tendenz« hätte, sich jedoch »der Antisemitismus wie ein roter Faden hindurchzog«. Das ausschlaggebende antisemitische Buch, das ihn und seine Kameraden beeinflusste, wäre Fords Der internationale Jude gewesen: »Ich las es und wurde Antisemit. Dieses Buch hat damals auf mich und meine Freunde einen so großen Eindruck gemacht, weil wir in Henry Ford den Repräsentanten des Erfolges, den Repräsentanten aber auch einer fortschrittlichen Sozialpolitik sahen. In dem elenden, armen Deutschland von damals blickte die Jugend nach Amerika, und außer dem großen Wohltäter Herbert Hoover war es Henry Ford, der für uns Amerika repräsentierte.«89

      Hier wandte Schirach ebenfalls eine Strategie der Umdeutung an wie im Falle der rechtskonservativ-völkischen und teilweise antisemitischen Jugendwehrverbände, denen er angehört hatte und die er mit den Pfadfindern des britischen Generals Robert Baden-Powell verglich. Dabei erwähnte er nicht, dass es sich bei Baden-Powells Boy Scouts nicht um eine britisch-nationalistische, sondern um eine internationale Jugendbewegung handelte – 1929 beispielsweise nahmen 50.000 Pfadfinder aus 72 Ländern an dem Weltpfadfindertreffen (»Jamboree«) in England teil.90 Zwar existierten aufgrund der militärischen Erfahrungen Baden-Powells bei den Pfadfindern in einigen Bereichen paramilitärische Strukturen, etwa in der Ausbildung zum Spurenleser oder Meldegänger, jedoch fehlte der aggressiv völkisch-rassistische Grundton, der in den zuvor genannten deutschen Verbänden durch aktive oder pensionierte Militärs an die Jugendlichen vermittelt wurde. Dennoch wird bis heute heftig über die Frage nach dem Ausmaß von Militarismus gegenüber dem Pazifismus in den ursprünglichen Ideen Baden-Powells gestritten, der auch als angeblicher Antisemit von Michael Rosenthal angegriffen wurde.91

      Schirach erkannte selbst in Nürnberg 1946 und auch später in seinen Memoiren 1967 nicht, dass bereits vor 1914 der Antisemitismus sowie die Rassenlehre stark in den deutschen Eliten verankert gewesen war und insbesondere auch die Armee und das Offizierskorps durchdrungen hatte. So pflegte Kaiser Wilhelm II. einen intensiven Kontakt mit dem britischen Schriftsteller und Kulturphilosophen Houston Stewart Chamberlain92, der bekanntlich Richard Wagners Schwiegersohn gewesen war, und machte dessen 1899 in zwei Bänden erschienenes, antisemitisch-rassistisches Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts zur Pflichtlektüre in der Oberlehrerausbildung bzw. an Lehrerseminaren.93 Das nach seiner Übersiedlung von Dresden nach Wien 1896/97 in der k. u. k. Metropole verfasste Buch wurde später zum zentralen Referenzwerk94 für rassentheoretische und deutsch-völkische Auseinandersetzungen in der nationalsozialistischen Bewegung. Bereits vor 1914 erfuhr das 1.200-seitige Erfolgsbuch eine breite Rezeption innerhalb des Bildungsbürgertums – jüdische Weltverschwörungstheorien, welche die angebliche Weltherrschaft der Juden erklärten, waren ebenso gern gelesene Thesen wie Chamberlains Suche nach dem »Urarischen« oder »Urgermanischen«.

      Wegbereiter und Förderer Hitlers: der Ur-Germane und Antisemit Stewart Houston Chamberlain und seine Frau Eva (oben, mit dem Dirigenten Arturo Toscanini 1931 in Bayreuth) und der Verleger Hugo Bruckmann mit seiner Gattin Elsa, einer gebürtigen Prinzessin Cantacuzène. Im Münchner Salon der Bruckmanns knüpfte der junge Baldur von Schirach wichtige Kontakte.

      Auch Adolf Bartels’ zweibändige Literaturgeschichte war bereits vor 1914 fertiggestellt worden. Unter dem Titel Geschichte der deutschen Literatur erschien sie erstmals 1901/02 und wurde bis 1940 mehrfach in hohen Stückzahlen aufgelegt. 1906 hatte Bartels bereits äußerst aggressiv gegen ein Heinrich-Heine-Denkmal in Hamburg polemisiert.95

      1910 wurde Bartels, den Kurt Tucholsky später boshaft als »Clown der derzeitigen deutschen Literatur« und »im Irrgarten der deutschen Literatur herumtaumelnden Pogromdeppen«96 bezeichnete, Vorsitzender des »Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes«, seit 1914 forcierte er die »reinliche Scheidung« der nach rassistischen Kriterien durchgeführten Trennung von Schriftstellern nach Juden und Nichtjuden.97 Bei der ersten öffentlichen Versammlung des von Bartels mitinitiierten Deutschen Studentenverbands Leipzig agitierte er gegen die

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