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in mir (sic!), als ich ein kleiner Junge war, dieser Gedanke der Selbstführung der Jugend in sich bildete. Denn, als ich auf dieses Landerziehungsheim kam, war ich ein Kind von 11 Jahren. Da war ein kleiner Raum in diesem Haus, der hieß der Kükenstall. In diesem Raum wohnte noch ein ganz kleiner Junge namens v. Wolzogen und ein kleiner v. Herff. Und mir wurde gesagt, Du bist nun der Stubenälteste und hast dafür zu sorgen, daß die sich morgens richtig waschen und die Ohren sauber sind usw.

      Selbstführung der Jugend, Selbstverwaltung einer Jugend innerhalb einer Schulgemeinde, Verhältnis von Jugendlichen und Erziehern, ein Du, kein Sie, dasselbe, was ich nachher in der ganzen Jugend eingeführt habe. Da liegt der Ursprung. Nicht im Wandervogel so sehr, obwohl wahrscheinlich der Wandervogel wieder auf die Landeserziehungsheime einmal eingewirkt hat. Aber ich habe gar nichts mit der bündischen Jugend zu tun gehabt eigentlich.«43

      Bereits in seiner ersten Aussage in der Hauptverhandlung beim Nürnberger Prozess am 23. Mai 1946 betonte Schirach diese in der Kindheit und Jugend erfahrenen Prägungen:

      »Ich war zehn Jahre alt, als ich in die erste Jugendorganisation eintrat. Ich war also gerade so alt, wie die Jungen und Mädel, die später in das Jungvolk aufgenommen wurden. Es war dies der sogenannte Jungdeutschlandbund, eine Organisation, die Graf (sic! Freiherr) von der Goltz geschaffen hatte, eine Pfadfinderorganisation. Graf von der Goltz und Haeseler hatten unter dem Eindruck der britischen Boy-Scout-Bewegung Pfadfinderbünde in Deutschland geschaffen, und eine dieser Pfadfinderorganisationen war der eben erwähnte Jungdeutschlandbund. Er spielte eine bedeutende Rolle in der deutschen Jugenderziehung etwa bis 1918/1919 hinein.

      Am 6. Februar 1919 trat im ehemaligen großherzoglichen Hoftheater die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung zusammen. Den 12-jährigen Baldur von Schirach zog es zu den Soldaten, die zum Schutz der Abgeordneten aufgeboten wurden.

      Viel wesentlicher für meine Entwicklung war aber eine Zeit, die ich in einem Waldpädagogium verbrachte. Es war dies ein Landerziehungsheim, das ein Mitarbeiter des bekannten Erziehers Hermann Lietz leitete.

      Die Idee von Lietz war, der Jugend eine Erziehung zu geben, durch die sie in der Schule ein Abbild des Staates erhielt. Die Schulgemeinde war ein Miniaturstaat, und es entwickelte sich in dieser Schulgemeinde eine Selbstverwaltung der Jugend. Ich will nur kurz andeuten, daß er auch Ideen weiterführte, die lange vor ihm Pestalozzi und der große Jean Jacques entwickelt haben. Irgendwie geht ja alle moderne Erziehung auf Rousseau zurück, ob es sich nun um Hermann Lietz oder die Boy Scouts, die Pfadfinderbewegung, oder den deutschen Wandervogelbund handelt. Jedenfalls, aus dieser Idee der Selbstverwaltung der Jugend in einer Schulgemeinde habe ich meine Idee von der Selbstführung der Jugend.

      Mein Gedanke war, in der Schule die junge Generation mit Ideen zu erfassen, die 80 Jahre vorher Fröbel begründet hatte. Lietz wollte von der Schule aus die junge Generation erfassen.

      Ich darf vielleicht ganz kurz erwähnen, daß, als 1898 Lietz mit seiner Erziehungsarbeit begann, im selben Jahre in einer südafrikanischen Stadt der britische Major Baden-Powell durch Aufständische eingeschlossen wurde und dort die Jugend zu Spähern in Wäldern ausbildete und daraus den Grund legte zu seiner eigenen Boy-Scout-Bewegung, und daß im selben Jahre 1898 Karl Fischer aus Berlin-Steglitz die Wandervogelbewegung gründete.«44

      Ganz offensichtlich versuchte Schirach in der Darstellung in der Hauptverhandlung all jene Jugendorganisationen, denen er angehörte, in die Nähe der Pfadfinder zu rücken, um den nationalsozialistischen Sonderweg in Richtung der Militarisierung von Kindern und Jugendlichen infrage zu stellen. Tatsächlich war aber der »Jungdeutschlandbund«, dem er im Alter von zehn Jahren beitrat, durchaus bereits seit seiner Gründung 1911 darauf angelegt, die städtische Jugend körperlich auf den Wehrdienst vorzubereiten. Dessen Gründer, Freiherr Colmar von der Goltz, plante einen »Volkskrieg«, d. h. einen Krieg, der von der Zivilbevölkerung selbst nach dem Ende der militärisch regulären kriegerischen Auseinandersetzungen und Kämpfe fortgeführt werden sollte.45 Zu diesem Zweck wurden gemeinsam mit Kommunen und Sportvereinen eine Vielzahl von Sportplätzen ausgebaut und Sport- und Geländespiele veranstaltet. Es ist davon auszugehen, dass Schirachs Mitgliedschaft in diesem rechtskonservativen Jugendverband, dem 1914 750.000 Mitglieder46 angehörten, durch seinen autoritären Vater organisiert wurde.

      Subjektiv noch wirksamer wurde die von Baldur von Schirachs privatem Umfeld getragene, totale emotionale Ablehnung der Weimarer Republik durch den Selbstmord seines geliebten älteren Bruders Karl Benedikt, genannt »Buddabu«, der sich im evangelischen Internat Roßleben, einer Klosterschule, das Leben nahm. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Eltern Baldur von Schirachs versuchten, ihm in dieser schwierigen Situation persönlich beizustehen: Die furchtbare Nachricht vom Suizid Karls überbrachte die Wirtschafterin des Haushalts in der Gartenstraße, Frau Junghans, die »ganz in Schwarz gekleidet und mit verweinten Augen« Baldur aus Bad Berka nach Hause holte.47

      So kann es nicht verwundern, dass Baldur von Schirach in der Retrospektive auf seine Jugend – er war damals erst zwölf Jahre alt – diesen Selbstmord des 19-jährigen Abiturienten am 28. Oktober 1919 als Reaktion auf das Ende der Monarchie und als Verzweiflungstat gegen die neuen demokratischen und für seine Familie sozial unsicheren Verhältnisse deutete. Angeblich hatte Karl, der vermutlich Offizier beim Badischen Leibdragoner-Regiment werden wollte und den Baldur in seinen Memoiren als »Universalgenie« mit »außergewöhnlicher naturwissenschaftlicher Begabung« beschreibt, einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er davon sprach, das »Unglück Deutschlands« nicht überleben zu wollen. Er, der zwölfjährige Schüler, hätte sich daraufhin – ganz im Sinne des späteren Totenkults der Hitler-Jugend – veranlasst gesehen, in die Fußstapfen des Bruders zu treten: »Durch Karls Tod hatte ich mehr verloren als einen Bruder. Er war für mich ein Mensch, zu dem ich aufblickte und dem ich nacheifern wollte. Ich rückte mit meinen zwölf Jahren an seine Stelle. Ich hatte ein Erbe angetreten, das mich zu besonderer Liebe zum Vaterland verpflichtete.«48 Sohn Richard von Schirach hat diese Darstellung als Mythos entlarvt und diesen durch umfassende Recherchen fast zur Gänze dekonstruiert.49 So hätte es keine Hinweise darauf gegeben, dass Karl tatsächlich an der Niederlage des Kaiserreiches innerlich zerbrochen wäre, wie dies Baldur von Schirach so selbstverständlich annahm.

      Für das subjektive Empfinden des Zwölfjährigen mag dies aber eine reale Deutung und Erfahrung gewesen sein. Aus einem »Dreiviertel-Amerikaner« wurde ein »nationalistischer Deutscher«.50 Es war wohl kein Zufall, dass ihn seine Eltern aus dem Waldpädagogium bald wieder nach Hause holten. Vielleicht fürchteten sie um den zweiten Sohn. Übrigens ist bemerkenswert, dass Baldur von Schirach zwar über seinen älteren Bruder Karl schreibt, aber seine um neun Jahre ältere Schwester Rosalind (1898–1981), die eine erfolgreiche Musikkarriere als Opernsängerin einschlagen sollte, nur beiläufig und nebenbei erwähnt.51

      Die Dichterfürsten der Klassik werden als Schirmherren der nationalsozialistischen »Bewegung« missbraucht: Hitler mit Wilhelm Frick, Staatsminister für Inneres und Volksbildung, Fritz Sauckel, dem Gauleiter Thüringens, und seinem Adjutanten Wilhelm Brückner vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar, 1931.

       3. HIGH TEA MIT HERRN HITLER

       Von der »Knappenschaft« zur SA

      Der Zwölfjährige, der sich verpflichtet sah, das Erbe des Bruders hochzuhalten, musste aber zunächst noch in die Schule gehen. Tat er dies auch wirklich? Über den Schulalltag des jungen Baldur nach seiner Rückkehr von Bad Berka nach Weimar fehlen genauere Informationen, die Vermutung liegt nahe, dass er zu Hause unterrichtet worden ist. Nach eigener Dartstellung hat er als Externer am Realgymnasium in Weimar am Museumsplatz 3, dem heutigen Rathenauplatz, abgeschlossen. Zumindest nennt er diese Schule, an der er nach seinen eigenen Angaben zu Ostern 1927 das Abitur absolviert hätte.52

      Sowohl in seinen Memoiren

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